Verfahrensgang
Tenor
Das Urteil des Landesarbeitsgerichts Brandenburg vom 29. Mai 1997 – 8 Sa 682/96 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten aus Artikel 12 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 33 Absatz 2 und aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde verworfen.
Das Land Brandenburg hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die ordentliche Kündigung einer Lehrerin, weil diese eine Frage nach Tätigkeiten für das Ministerium für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik (MfS) unzutreffend beantwortet habe.
1. a) Die Beschwerdeführerin war seit September 1971 im Schuldienst der Deutschen Demokratischen Republik als Lehrerin beschäftigt. Sie beantwortete im Jahre 1991 die in einem ihr von dem im Ausgangsverfahren beklagten Land Brandenburg vorgelegten Personalfragebogen enthaltene Frage nach früheren Funktionen und Tätigkeiten für das MfS mit „nein”. Ein dem beklagten Land im Februar 1996 übermittelter Einzelbericht des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik von Dezember 1995 ergab, daß die Beschwerdeführerin im Dezember 1967 eine Verpflichtungserklärung für das MfS abgegeben hatte, wonach ihr Arbeitsgegenstand kirchliche Studentengruppen sein sollten. Die insgesamt drei Treffberichte ihres Führungsoffiziers stammten aus Dezember 1967, Januar 1968 und April 1968. Das beklagte Land kündigte das Arbeitsverhältnis der Beschwerdeführerin im März 1996 ordentlich zum 30. September 1996.
b) Das Arbeitsgericht wies die Kündigungsschutzklage der Beschwerdeführerin ab, das Landesarbeitsgericht ihre Berufung zurück. Die Kündigung sei durch Gründe, die in der Person der Beschwerdeführerin lägen, nämlich aufgrund ihrer mangelnden persönlichen Eignung, sozial gerechtfertigt im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG. Das Landesarbeitsgericht wertete die Falschbeantwortung der Frage nach einer Tätigkeit für das MfS beziehungsweise der Abgabe einer Verpflichtungserklärung als grobe Unehrlichkeit in einem für den öffentlichen Arbeitgeber wichtigen Bereich. Wer zu dieser Frage falsche Angaben mache, mißbrauche das Vertrauen seines Dienstherrn gröblich. Das Urteil wurde der Beschwerdeführerin am 13. August 1997 zugestellt.
c) Mit ihrer am Montag, dem 15. September 1997 per Telefax – ohne Anlagen –, und am 17. September 1997 im Original eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG und ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG durch die Entscheidungen des Arbeitsgerichts und des Landesarbeitsgerichts. Die Frage nach Vorgängen, die bereits vor 1970 abgeschlossen gewesen seien, habe außer Verhältnis zu ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gestanden. Aus ihrer unzutreffenden Antwort hätten daher keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen gezogen werden dürfen.
d) Das Bundesarbeitsgericht verwarf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin als unzulässig. Die von der Beschwerdeführerin angezogene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Juli 1997 sei nicht divergenzfähig, weil sie erst nach Verkündung des anzufechtenden Urteils des Landesarbeitsgerichts ergangen sei.
e) Mit am 27. Oktober 1997 eingegangenem Schriftsatz hat die Beschwerdeführerin die Verfassungsbeschwerde auch gegen die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts gerichtet. Auch diese verletze sie in den genannten Grundrechten. Auf ihre Ausführungen in der Verfassungsbeschwerdeschrift werde verwiesen.
2. Zu der Verfassungsbeschwerde hat das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport in Vertretung des Landes Brandenburg Stellung genommen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sie sich gegen das Urteil des Arbeitsgerichts und den Beschluß des Bundesarbeitsgerichts richtet.
1. Hinsichtlich des Urteils des Arbeitsgerichts ist sie nicht fristgerecht ordnungsgemäß nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG begründet worden. Die Frist des § 93 Abs. 1 BVerfGG war mit Montag, dem 15. September 1997, abgelaufen. Die Erhebung der Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesarbeitsgericht gehörte nicht mehr zum Rechtsweg im Sinne von § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG, da die Nichtzulassungsbeschwerde offensichtlich aussichtslos war (vgl. BVerfGE 16, 1 ≪3≫; 28, 314 ≪319 f.≫; 92, 140 ≪149≫). Dem am 15. September 1997 eingegangenen Telefax waren die angegriffenen Entscheidungen noch nicht beigefügt; diese gingen erst nach Ablauf der Frist mit dem Original der Verfassungsbeschwerde ein. In der Verfassungsbeschwerdeschrift hat die Beschwerdeführerin zwar das Urteil des Landesarbeitsgerichts, nicht aber das Urteil des Arbeitsgerichts näher referiert.
2. Soweit sie die Verfassungsbeschwerde außerdem – fristgerecht – auch gegen den Beschluß des Bundesarbeitsgerichts gerichtet hat, legt sie nicht dar, inwiefern sie diese Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde ebenfalls in ihren Grundrechten verletzen soll.
III.
Im übrigen ist die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung der Berufsfreiheit der Beschwerdeführerin aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG und ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Urteil des Landesarbeitsgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in den genannten Grundrechten. Die für diese Beurteilung maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. a) Art. 12 Abs. 1 GG schützt unter anderem die freie Wahl des Arbeitsplatzes. Diese umfaßt neben der Entscheidung für eine konkrete Beschäftigung auch den Willen des Einzelnen, den Arbeitsplatz beizubehalten. Das Grundrecht entfaltet seinen Schutz gegen alle staatlichen Maßnahmen, die diese Wahlfreiheit beschränken (vgl. dazu im einzelnen BVerfGE 84, 133 ≪146≫; 92, 140 ≪150≫). Soweit es um Arbeitsverhältnisse des öffentlichen Dienstes geht, trifft Art. 33 Abs. 2 GG eine ergänzende Regelung.
b) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) verleiht jedem unter anderem die Befugnis, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen er persönliche Sachverhalte offenbaren will (vgl. BVerfGE 65, 1 ≪41 f.≫ – informationelle Selbstbestimmung – m.w.N.; 85, 219 ≪224≫). In besonderer Weise schützt das Grundrecht vor dem Verlangen, Informationen preiszugeben, die den Betroffenen selbst belasten. Auskunftspflichten, die darauf gerichtet sind, berühren daher das allgemeine Persönlichkeitsrecht (vgl. BVerfGE 56, 37 ≪41 ff.≫).
c) Die angegriffene Entscheidung, die die Wirksamkeit der ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Beschwerdeführerin bestätigt, greift in diese Rechte der Beschwerdeführerin ein.
2. a) Die Arbeitsplatzwahl kann ebenso wie die anderen Gewährleistungen des Art. 12 Abs. 1 GG durch Gesetz beschränkt werden. Bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts müssen die Gerichte allerdings den Schutz beachten, den Art. 12 Abs. 1 GG insofern gewährt. Steht zugleich die Eignung für den öffentlichen Dienst in Rede, tritt Art. 33 Abs. 2 GG ergänzend hinzu. Diese Rechte sind verletzt, wenn ihre Bedeutung und Tragweite bei der Auslegung und Anwendung der arbeitsrechtlichen Vorschriften grundsätzlich verkannt wird. Dagegen ist es nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts zu kontrollieren, wie die Gerichte den Schutz im einzelnen auf der Grundlage des einfachen Rechts gewähren und ob ihre Auslegung den bestmöglichen Schutz sichert (vgl. BVerfGE 92, 140 ≪152 f.≫).
b) Wie die Berufsfreiheit strahlt auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht auf die Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Vorschriften aus. Der Richter hat daher von Verfassungs wegen zu prüfen, ob von ihrer Anwendung im Einzelfall dieses Grundrecht berührt wird. Trifft das zu, dann hat er diese Vorschriften im Lichte der Grundrechte auszulegen und anzuwenden (vgl. BVerfGE 84, 192 ≪194 f.≫; 96, 171 ≪184≫).
3. a) Grundsätzlich sind Fragen des öffentlichen Arbeitgebers nach einer früheren Tätigkeit des Arbeitnehmers für das MfS verfassungsrechtlich unbedenklich. Den Betroffenen war daher grundsätzlich die Beantwortung dieser Fragen zuzumuten (vgl. BVerfGE 96, 171 ≪186 f.≫).
b) Tätigkeiten für das MfS, die vor dem Jahre 1970 abgeschlossen waren, taugen jedoch wegen des erheblichen Zeitablaufs regelmäßig nicht mehr als Indiz für eine mangelnde Eignung (vgl. BVerfGE 96, 171 ≪188≫). Ausnahmsweise relevante Fragen nach Vorgängen, die mehr als 20 Jahre vor dem Beitritt abgeschlossen waren, stehen außer Verhältnis zu der Einschränkung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Befragten; die Arbeitnehmer durften vor dem Jahre 1970 abgeschlossene Vorgänge daher verschweigen, dem öffentlichen Arbeitgeber ist es verwehrt, arbeitsrechtliche Konsequenzen aus einer unzutreffenden Antwort zu ziehen (vgl. BVerfGE 96, 171 ≪188 f.≫).
4. Diesen Maßstäben wird die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts nicht gerecht. Sie verletzt die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG und aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.
Die Tätigkeit der Beschwerdeführerin für das MfS beschränkte sich auf einen kurzen Zeitraum Ende 1967/Anfang 1968. Es war ihr danach nicht zuzumuten, die zeitlich unbeschränkte Frage nach Tätigkeiten für das MfS in vollem Umfang wahrheitsgemäß zu beantworten. Die vor dem Jahre 1970 abgeschlossenen Vorgänge durfte sie verschweigen. Auf einen charakterlichen Mangel, der ihre persönliche Eignung in Frage stellen könnte, deutet ihr Verhalten unter diesen Umständen nicht hin.
Unterschriften
Kühling, Jaeger, Steiner
Fundstellen
Haufe-Index 1113485 |
NZA 1998, 1329 |
ZBR 1999, 120 |