Verfahrensgang

LG Limburg a.d. Lahn (Urteil vom 15.11.1995; Aktenzeichen 3 S 58/95)

 

Tenor

Das Urteil des Landgerichts Limburg vom 15. November 1995 – 3 S 58/95 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 GG. Das Urteil wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Limburg zurückverwiesen.

Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein zivilgerichtliches Berufungsurteil, mit dem der Beschwerdeführer zur Unterlassung von Äußerungen verurteilt worden ist.

I.

1. Der Beschwerdeführer hatte im Zuge seiner Ausmusterung als Hauptmann der Reserve der Bundeswehr die noch in seinem Besitz befindlichen Ausrüstungsstücke zur Überprüfung und Abgabe vorzulegen. Bei der Rückgabe der Gegenstände an die Standortbekleidungskammer fehlten Bekleidungsstücke im Wert von 64,74 DM. Diesen Betrag beglich der Beschwerdeführer sofort. Anschließend erlegte ihm das Kreiswehrersatzamt ein Verwarnungsgeld in Höhe von 30 DM wegen Verlustes von Ausrüstungsgegenständen auf. Aus diesem Anlaß nahm der Beschwerdeführer telefonischen Kontakt zum Kreiswehrersatzamt auf und machte dessen Leiter Dr. S.…, dem Kläger des Ausgangsverfahrens, Vorhaltungen über die von der Behörde in seinem Fall geübte Verwaltungspraxis. Zu einer Aufhebung des Verwarnungsgeldes kam es jedoch nicht. Daraufhin verfaßte der Beschwerdeführer ein Schreiben an den ihm aus seiner Zeit als Offiziersanwärter bekannten Generalmajor St…. In dem Schreiben teilte der Beschwerdeführer zunächst den Sachverhalt mit und führte dann aus:

“In einem Telefongespräch teilte ich Dr. S.… mein Befremden über diesen Vorgang mit. Ich fragte ihn nach der Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme und stellte den nach vier Umzügen verlorenen Stiefel und Waschzeugbeutel einer 20 Jährigen oft mit Anstrengung verbundenen Loyalität gegenüber.

Meinen geäußerten Bedenken, daß hier mit wenig Feingefühl verfahren werde und daß es mir nahe gehe, am Ende meiner Reservezeit so angegangen zu werden, stellte Dr. S.… ironisierend seine eigene Betroffenheit über jüngste Korruptionsverdachte in der Luftwaffe und in der Vergangenheit gegenüber. Dr. S.… nahm im weiteren Gesprächsverlauf einen egalitären Standpunkt ein (er verfahre nach dem durch die Richtlinien des Bundesverwaltungsamtes in Bonn vorbestimmten “gebundenen Ermessen”, das bei Verlusten von über 20 DM allen Soldaten eine Ordnungswidrigkeit nach § Abs. 1 Nr. 6 WPflG nachzuweisen habe), der mich in seinem Fanatismus irritierte.

Da ich als Lehrer am Limburger Gymnasium jeden Tag mit Jugendlichen zu tun habe, die, wenn sie nicht wie die meisten verweigern, mit einem großen Vertrauen und einer ebensogroßen Sensibilität wenig später ihren Wehrdienst antreten, erschreckt mich die Vorstellung, daß sie durch die übertriebene Rechtspraxis des Dr. S.… in ihrem oft noch intakten gesunden Rechtverständnis ebenso entmutigt werden könnten, wie es mir jetzt geschieht. In dieser Sorge frage ich mich, inwieweit die genannte Stelle richtiger zu besetzen ist und einem möglichen zersetzenden Einfluß frühzeitig Einhalt zu bieten ist.

Auf die selbstreinigenden Kräfte unseres Heeres vertrauend, mache ich es alleine von Ihrem Ratschlag abhängig, ob ich das Verwarnungsgeld bezahlen soll.”

Nachdem der Inhalt des Schreibens dem Kläger über die Wehrbereichsverwaltung zur Kenntnis gebracht worden war, erhob er gegen den Beschwerdeführer Privatklage wegen Beleidigung. Das Amtsgericht stellte das Verfahren wegen geringen Verschuldens nach § 383 Abs. 2 StPO ein. Daraufhin erhob er nach vergeblicher Aufforderung zur Abgabe einer Unterlassungserklärung Zivilklage mit dem Antrag, den Beschwerdeführer zu verurteilen, es zu unterlassen, wörtlich oder sinngemäß die Behauptungen aufzustellen und/oder zu verbreiten:

Der Kläger habe im Verlauf eines Telefongespräches mit dem Beschwerdeführer einen egalitären Standpunkt eingenommen, der den Beschwerdeführer in seinem – des Klägers – Fanatismus irritiert habe. Der Beschwerdeführer frage sich, inwieweit die vom Kläger innegehaltene Stelle als Leiter des Kreiswehrersatzamtes W.… richtiger zu besetzen sei und einem möglichen zersetzenden Einfluß frühzeitig Einhalt zu bieten sei.

Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Mit der angegriffenen Entscheidung hat das Landgericht der Berufung des Klägers stattgegeben und den Beschwerdeführer antragsgemäß zur Unterlassung verurteilt. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Dem Kläger stehe der geltend gemachte Unterlassungsanspruch nach § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB in Verbindung mit § 823 Abs. 1 BGB zu. Der Beschwerdeführer habe mit seinen ehrverletzenden Äußerungen das Persönlichkeitsrecht des Klägers verletzt. Die streitbefangenen Auszüge aus dem Schreiben enthielten ein ehrverletzendes Werturteil, in dem der Beschwerdeführer den Kläger und seine Tätigkeit mit einem “irritierenden Fanatismus” und einem “möglichen zersetzenden Einfluß” in Verbindung bringe, dem er die “selbstreinigenden Kräfte unseres Heeres” gegenüberstelle. Der Beschwerdeführer habe damit zum Ausdruck gebracht, daß seines Erachtens der Kläger aufgrund seines Fanatismus die Wehrbereitschaft beeinträchtige und einen Fremdkörper im Institutionengefüge der Bundeswehr darstelle. Die Äußerungen seien auch nicht durch Art. 5 GG gerechtfertigt. Das Recht der freien Meinungsäußerung finde seine Schranke in dem Recht der persönlichen Ehre, Art. 5 Abs. 2 GG. Aus der Abwägung beider Rechtspositionen ergebe sich, daß eine Äußerung dann nicht mehr vom Grundrecht der Meinungsfreiheit erfaßt werde, wenn es nicht um eine Auseinandersetzung in der Sache gehe, sondern die Herabsetzung der Person im Vordergrund stehe. Eine solche Schmähkritik liege hier angesichts der Wortwahl des Beschwerdeführers vor. Die vom Beschwerdeführer gemachten Äußerungen zielten eindeutig auf die Herabsetzung des Klägers ab.

2. Mit seiner hiergegen gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Er macht im wesentlichen geltend: Das Landgericht habe die Tragweite des Grundrechtsschutzes verkannt. Es sei zu Unrecht von einer Schmähkritik ausgegangen. Es sei zu berücksichtigen, daß die beanstandete Äußerung im militärischen Bereich auf dem Dienstweg adressatenbezogen erfolgt sei. Bei dieser Form seien Formulierungen dieser Art auch üblich. Insbesondere könne nicht aus dem Sprachgebrauch des Wortes “möglichen zersetzenden Einfluß” auf eine gewollte Diffamierung der Person des Klägers geschlossen werden. Gerade diese Formulierung sei im Sprachgebrauch der Bundeswehr üblich. Der Schwerpunkt der Kritik liege, wenn auch mit überspitzter Formulierung, auf der Handhabung der Amtsführung, wobei sachliche Ursachen und mögliche Folgen aus der Sicht des Beschwerdeführers aufgezeigt worden seien.

3. Die Hessische Staatskanzlei hält die Verfassungsbeschwerde für begründet. Die vom Landgericht vorgenommene Deutung der Äußerung und ihre Einordnung als Schmähkritik seien verfassungsrechtlich zu beanstanden.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG).

1. Die für die Entscheidung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt. Im einzelnen wird dabei auf die nachstehend aufgeführten Rechtsprechungsbelege verwiesen.

2. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit.

a) Die briefliche Aussage des Beschwerdeführers genießt als Meinungsäußerung den Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Dieser erstreckt sich auf alle Meinungsäußerungen unabhängig davon, ob sie rational oder emotional, begründet oder grundlos sind und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten werden (BVerfGE 85, 1 ≪14 f.≫; 93, 266 ≪289≫). Auch polemische oder verletzende Formulierungen entziehen eine Äußerung nicht dem Schutzbereich des Grundrechts (BVerfGE 61, 1 ≪7 f.≫; 93, 266 ≪289≫). Mit der Verpflichtung des Beschwerdeführers, die Äußerung zu unterlassen, beeinträchtigt das Urteil des Landgerichts diesen in seiner Meinungsfreiheit.

b) Dem Urteil liegt ein Zivilrechtsstreit zugrunde, der nach Maßgabe privatrechtlicher Vorschriften zu lösen ist. Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften ist Sache der Zivilgerichte. Sie haben dabei jedoch die wertsetzende Bedeutung des von ihrer Entscheidung berührten Grundrechts zu berücksichtigen (BVerfGE 7, 198 ≪208≫). Das erfordert im Rahmen der auslegungsfähigen Tatbestandsmerkmale der privatrechtlichen Vorschriften regelmäßig eine fallbezogene Abwägung zwischen der Bedeutung der Meinungsfreiheit auf der einen und dem Rang des von der privatrechtlichen Norm geschützten Rechtsgutes auf der anderen Seite (BVerfGE 85, 1 ≪16≫). Eine derartige Abwägung ist allerdings dann entbehrlich, wenn es sich bei der Äußerung um Schmähkritik handelt. In diesem Fall tritt die Meinungsfreiheit regelmäßig hinter dem grundrechtlich geschützten Achtungsanspruch des Einzelnen zurück (BVerfGE 66, 116 ≪151≫; 82, 43 ≪51≫; 85, 1 ≪16≫; 93, 266 ≪294≫).

Gerade wegen seines die Meinungsfreiheit verdrängenden Effekts darf der Begriff der Schmähkritik aber nicht überdehnt werden (BVerfGE 82, 272 ≪284≫; 93, 266 ≪294≫). Eine Schmähung liegt nicht bereits wegen der herabsetzenden Wirkung einer Äußerung für Dritte vor, selbst wenn es sich um eine überzogene oder ausfällige Kritik handelt (BVerfGE 82, 272 ≪283 f.≫). Vielmehr nimmt eine herabsetzende Äußerung erst dann den Charakter der Schmähung an, wenn in ihr nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik die Diffamierung der Person im Vordergrund steht (BVerfGE 82, 272 ≪284≫). Hält ein Gericht eine Äußerung fälschlich für eine Schmähung, mit der Folge, daß eine konkrete Abwägung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls entbehrlich wird, so liegt darin ein verfassungsrechtlich erheblicher Fehler, der zur Aufhebung der Entscheidung führt, wenn diese darauf beruht (BVerfGE 82, 272 ≪281≫; 93, 266 ≪294≫).

Die Beurteilung, ob eine Äußerung danach als Schmähkritik auszusehen ist, setzt eine zutreffende Erfassung ihres Sinns voraus. Fehlt es daran, kann nicht ausgeschlossen werden, daß es zur Unterdrückung einer zulässigen Äußerung kommt (BVerfGE 93, 266 ≪295≫). Deshalb liegt ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG auch dann vor, wenn das Zivilgericht der Äußerung einen Sinn beigelegt hat, den diese nicht hat, oder wenn es bei mehrdeutigen Äußerungen von dem zur Verurteilung führenden Sinn ausgegangen ist, ohne andere, ebenfalls mögliche Deutungen zuvor mit tragfähigen Gründen ausgeschlossen zu haben (BVerfGE 85, 1 ≪13 f.≫; 94, 1 ≪9≫). Dabei darf eine Äußerung nicht aus ihrem auch für die Rezipienten wahrnehmbaren Zusammenhang gerissen werden, sofern dieser ihren Sinn mitbestimmt (BVerfGE 93, 266 ≪295 f.≫).

c) Diesen Anforderungen wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht.

Das Landgericht hat die Äußerungen des Beschwerdeführers in dem zur Verurteilung führenden Sinn gedeutet, ohne andere, keineswegs fernliegende Deutungsmöglichkeiten mit tragfähiger Begründung ausgeschlossen zu haben. Es hat aus dem Inhalt des Schreibens die Wendungen “Fanatismus”, “möglichen zersetzenden Einfluß” und “selbstreinigenden Kräfte unseres Heeres” herausgelöst, sie unter Vernachlässigung der konkreten Verwendung in einen Zusammenhang gebracht und daraus abgeleitet, der Beschwerdeführer habe geäußert, daß der Kläger aufgrund seines Fanatismus die Wehrbereitschaft beeinträchtige und ein Fremdkörper im Institutionengefüge der Bundeswehr sei. Zwar stellen die Äußerungen des Beschwerdeführers zweifellos eine Kritik an der Amtsführung des Klägers und an seiner fachlichen Eignung dar. Bei Berücksichtigung des Anlasses und des Gesamtinhalts des Schreibens erscheint es aber alles andere als zwingend, daraus den generellen Vorwurf abzuleiten, der Kläger beeinträchtige aufgrund seines Fanatismus die Wehrbereitschaft. Auch das vom Landgericht angenommene Verständnis, der Beschwerdeführer habe zum Ausdruck gebracht, der Kläger sei ein Fremdkörper im Institutionengefüge der Bundeswehr, läßt den Gesamtinhalt des Schreibens unberücksichtigt.

Die vom Landgericht vorgenommene Einordnung der Äußerung als Schmähkritik wird den Anforderungen von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ebenfalls nicht gerecht. Die gebotene Berücksichtigung von Anlaß und Kontext der vom Landgericht isoliert betrachteten Äußerungen belegt, daß die Kritik des Beschwerdeführers von einem Sachanliegen geprägt war und daß dieses im Vordergrund des Schreibens stand. Selbst wenn man die Deutung des Landgerichts zugrunde legte, verböten es der Anlaß und das in dem Schreiben zum Ausdruck kommende Sachanliegen des Beschwerdeführers, in der Äußerung ausschließlich eine Diffamierung des Klägers zu sehen. Das hat das Landgericht nicht beachtet, indem es allein aufgrund des den Äußerungen beigemessenen herabsetzenden Charakters eine Schmähung angenommen hat. Damit hat es sich der nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gebotenen Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und der angenommenen Ehrverletzung verschlossen.

3. Die Entscheidung des Landgerichts beruht auf der nicht einwandfreien Deutung der Äußerung und ihrer unzutreffenden Wertung als Schmähkritik. Es ist nicht ausgeschlossen, daß das Gericht bei hinreichender Berücksichtigung von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG zu einem anderen Ergebnis gelangt.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Grimm, Hömig, Seidl

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1276199

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