Entscheidungsstichwort (Thema)
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
Verfahrensgang
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Damit erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft verfassungs- und konventionsrechtliche Anforderungen an inzidente Festellungen nicht angeklagter Vorgänge in einem Strafurteil und deren strafschärfende Berücksichtigung.
Das Landgericht Hildesheim hat gegen den Beschwerdeführer mit Urteil vom 31. Oktober 2008 eine Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren wegen 38 Fällen der Untreue verhängt, die nach den Feststellungen der Strafkammer im Zeitraum von September 2003 bis Februar 2006 stattgefunden haben. Die Strafkammer hat zu Gunsten des Beschwerdeführers unterstellt, dass dieser die bei seinem Arbeitgeber veruntreuten Bargeldbeträge größtenteils seinem gleichzeitig verurteilten Mittäter übergeben habe. Ihre Überzeugung, dass er gleichwohl einen Teil der Gelder selbst behalten habe, hat die Strafkammer im Wesentlichen darauf gestützt, dass der Beschwerdeführer bereits seit 1991 bis in den Tatzeitraum hinein Ausgaben in einem Umfang getätigt habe, die sich das Landgericht nach Ausschluss anderer Erklärungsansätze nur durch den Zugriff auf dem Arbeitgeber zustehende Gelder erklären konnte. Hierbei hat das Landgericht auch berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer sich zwar grundsätzlich zur Sache und der Entwicklung seines Vermögens eingelassen, zu den Einzelheiten der Herkunft seiner Einnahmen jedoch keine näheren Angaben gemacht hatte. Im Rahmen der Strafzumessung wertete es die Strafkammer zu Lasten des Beschwerdeführers, dass dieser „über die Verwirklichung des Regelbeispiels des gewerbsmäßigen Handelns hinaus … jahrelang ein Luxusleben mit geradezu exzessiven Ausgaben” auf Kosten seines Arbeitgebers geführt habe, „und zwar auch schon vor der Begehung der abgeurteilten Taten”.
Die Revision des Beschwerdeführers wurde durch Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 3. Dezember 2009 verworfen. Mit der mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes.
Entscheidungsgründe
II.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annahmevoraussetzungen nicht erfüllt sind. Die Verfassungsbeschwerde hat weder grundsätzliche Bedeutung, noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪24 ff.≫; 96, 245 ≪248 ff.≫).
1. Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung der Unschuldsvermutung rügt, ist die Verfassungsbeschwerde jedenfalls unbegründet.
a) Die Unschuldsvermutung ist eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und hat damit Verfassungsrang (vgl. BVerfGE 74, 358 ≪370≫). Sie verbietet zum einen, im konkreten Strafverfahren ohne gesetzlichen, prozessordnungsgemäßen – nicht notwendiger Weise rechtskräftigen – Schuldnachweis Maßnahmen gegen den Beschuldigten zu verhängen, die in ihrer Wirkung einer Strafe gleichkommen und ihn verfahrensbezogen als schuldig zu behandeln; zum anderen verlangt sie den rechtskräftigen Nachweis der Schuld, bevor dem Verurteilten diese im Rechtsverkehr allgemein vorgehalten werden darf (vgl. BVerfGE 19, 342 ≪347≫; 35, 311 ≪320≫; 74, 358 ≪371≫). Bei der Bestimmung von Inhalt und Reichweite der grundgesetzlichen Unschuldsvermutung sind Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und die hierzu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) als Auslegungshilfe heranzuziehen (vgl. BVerfGE 74, 358 ≪370≫; 111, 307 ≪322 ff.≫).
Die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK ist anwendbar, wenn und soweit eine Person einer Straftat angeklagt ist („charged with a criminal offence”), wobei diese Voraussetzung durch den EGMR autonom ausgelegt wird (vgl. hierzu nur EGMR, Urteile vom 11. Februar 2003 – Y. ./. Norwegen –, Rn. 39 ff., und vom 19. Mai 2005 – Diamantides ./. Griechenland –, Rn. 35; ferner Meyer-Ladewig, EMRK, 2. Aufl. 2006, Art. 6 Rn. 85). Nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR ist die Unschuldsvermutung verletzt, wenn in einer gerichtlichen Entscheidung die Auffassung zum Ausdruck gebracht wird, die angeklagte Person sei schuldig, ohne dass zuvor der Schuldnachweis in einer dem Gesetz entsprechenden Weise erbracht worden ist, wobei insbesondere die Verteidigungsrechte des Beschuldigten beachtet worden sein müssen (vgl. nur EGMR, Urteile vom 25. März 1983 – Minelli ./. Schweiz –, Rn. 37, und vom 10. Oktober 2000 – Daktaras ./. Litauen –, Rn. 41). Sobald der Beschuldigte einer bestimmten Straftat ordnungsgemäß überführt worden ist, findet Art. 6 Abs. 2 EMRK keine Anwendung mehr im Hinblick auf Vorwürfe („allegations”), die als Teil der Strafzumessung im Hinblick auf die Persönlichkeit des Angeklagten erhoben werden, sofern sie nicht nach Art oder Umfang einer neuen Anklage im Sinne der autonomen Bedeutung dieses Begriffs in der EMRK gleichstehen (vgl. EGMR, Urteile vom 3. Oktober 2002 – Böhmer ./. Deutschland –, NJW 2004, S. 43 ff., Rn. 55, und vom 8. Juni 1976 – Engel et al. ./. Niederlande –, Rn. 90).
b) Nach diesen Maßstäben ist es nicht zu beanstanden, dass das Landgericht Hildesheim im vorliegenden Fall die zu vor dem eigentlichen Tatzeitraum liegenden Taten des Beschwerdeführers getroffenen Feststellungen sowohl als Indiz für die Umstände der Begehung der angeklagten Taten als auch in gewissem Umfang im Rahmen der Strafzumessung verwendet hat. Dies gilt insbesondere auch unter dem Blickwinkel des Art. 6 Abs. 2 EMRK und der hierzu ergangenen Rechtsprechung (vgl. allgemein BGHSt 34, 209; Peukert, in: Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, Art. 6 Rn. 275; Gollwitzer, in: Löwe-Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 8, 25. Aufl. 2005, Art. 6 EMRK, Rn. 146 f.; Theune, in: Strafgesetzbuch – Leipziger Kommentar, Bd. 2, 12. Aufl. 2006, § 46 Rn. 177; kritisch Vogler, in: Festschrift für Theodor Kleinknecht, 1985, S. 429 ≪438 f.≫; Stuckenberg, StV 2007, S. 655 ≪662≫).
Schon die Anwendbarkeit der konventionsrechtlichen Unschuldsvermutung ist fraglich. Soweit ersichtlich, sind die Taten, hinsichtlich derer der Beschwerdeführer die Unschuldsvermutung verletzt sieht – also mögliche Untreuehandlungen vor September 2003 – zu keinem Zeitpunkt Gegenstand eines gegen den Beschwerdeführer gerichteten Verfahrens gewesen, noch gibt es irgendwelche Anhaltspunkte, dass sie es – sofern dies aus Rechtsgründen überhaupt in Betracht kommt – noch werden könnten. Insbesondere mit dem angegriffenen Urteil sind nicht etwa diese Taten (mit) bestraft worden, was auch nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unzulässig gewesen wäre (vgl. nur BGH, Urteil vom 16. Dezember 1975 – 1 StR 755/75 –, NStZ 1981, S. 99 m.w.N.); vielmehr hat das Gericht im Rahmen der Strafzumessung unter anderem das vor dem Tatzeitraum liegende, zur Überzeugung des Gerichts festgestellte Verhalten des Beschwerdeführers zu dessen Lasten in seine Überlegungen einbezogen, wozu es nach § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB („Vorleben des Täters”) berechtigt war (vgl. nur Theune, in: Strafgesetzbuch – Leipziger Kommentar, Bd. 2, 12. Aufl. 2006, § 46 Rn. 177). Von daher erschiene die Annahme, der Beschwerdeführer sei dieser Taten im Sinne der Konvention angeklagt gewesen, fragwürdig.
Geht man dennoch von der Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 2 EMRK aus, so ist die Vorschrift jedenfalls nicht verletzt. Denn anders als das Verfahren über den Bewährungswiderruf (vgl. dazu EGMR, Urteil vom 3. Oktober 2002 – Böhmer ./. Deutschland –, NJW 2004, S. 43 ff.; BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2004 – 2 BvR 2314/04 –, juris, und vom 23. April 2008 – 2 BvR 572/08 –, juris; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 12. August 2008 – 2 BvR 1448/08 –, juris) und anders als ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren (vgl. dazu EGMR, Urteil vom 18. Dezember 2008 – Nerattini ./. Griechenland –) ist das zu einem Urteil führende strafrechtliche Hauptverfahren zur Widerlegung auch und gerade der konventionsrechtlichen Unschuldsvermutung geeignet; es muss dem Angeklagten insbesondere die von der Konvention geforderten Verteidigungsrechte (Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK) in vollem Umfang gewähren. Diese schützen ihn auch im Hinblick auf die Feststellung nicht im eigentlichen Sinn verfahrensgegenständlicher Tatsachen. Gerade im vorliegenden Fall ist dem Rechnung getragen worden.
So wurde Art. 6 Abs. 3 Buchstabe a EMRK auch bezüglich der nicht angeklagten Vorwürfe ersichtlich beachtet. Nach dieser Vorschrift haben die Strafverfolgungsbehörden jede angeklagte Person über Art und Grund der Beschuldigung in allen Einzelheiten zu unterrichten. Dem ist vorliegend bereits mit der Anklageschrift vom 2. November 2007 Genüge getan worden, die im Rahmen des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen intensiv auf die Entwicklung der Vermögensverhältnisse des Beschwerdeführers seit 1991 und den Verdacht, dass hierbei Straftaten zu Lasten seines Arbeitgebers eine Rolle gespielt haben könnten, eingegangen ist (dort S. 45 bis 73). Der Beschwerdeführer war sich während der Hauptverhandlung offensichtlich über die mögliche indizielle Bedeutung der Herkunft seines Vermögens im Klaren, wie sein Aussetzungsantrag vom 21. Juli 2008 beweist. Zudem hat die Strafkammer, wie sich ebenfalls aus dem Antrag ergibt, einen dahingehenden Hinweis erteilt, der durch den Beschluss vom 23. Juli 2008, mit dem eine Aussetzung abgelehnt wurde, wiederholt wurde. Eine weitergehende Konkretisierung zu verlangen, wie dies der Beschwerdeführer für richtig hält, hieße die Augen vor der Tatsache zu verschließen, dass es letztlich doch nur um eine Vorfrage im Rahmen einer primär auf genau konkretisierte Vorgänge bezogenen strafgerichtlichen Untersuchung ging.
Die Verfassungsbeschwerde zeigt auch keinerlei Anhaltspunkte dafür auf, dass der Beschwerdeführer entgegen Art. 6 Abs. 3 Buchstabe b EMRK nicht ausreichend Zeit und Gelegenheit gehabt haben könnte, sich auf die Verteidigung auch gegen die (relativ wenig konkreten) „Vorwürfe” bezüglich des Zeitraums bis September 2003 vorzubereiten.
2. Das grundgesetzlich geschützte Recht des Beschwerdeführers, sich im Strafverfahren nicht selbst belasten zu müssen (vgl. BVerfGE 56, 37 ≪49 ff.≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 7. Juli 1995 – 2 BvR 326/92 –, juris, Rn. 30 ff. m.w.N.), ist ebenfalls nicht verletzt. Das Landgericht Hildesheim war nicht gehindert, aus dem Aussageverhalten des Beschwerdeführers in dem geschehenen Umfang Schlüsse zu dessen Nachteil zu ziehen, nachdem der Beschwerdeführer von seinem umfassenden Schweigerecht keinen Gebrauch gemacht und auch nicht etwa zu einzelnen Tatvorwürfen die Einlassung verweigert hatte. In dieser Form der Beweiswürdigung liegt insbesondere auch keine konventionswidrige Beweislastumkehr zum Nachteil des Beschwerdeführers. Vielmehr hat die Strafkammer sich mit möglichen Gründen für das teilweise Schweigen des Beschwerdeführers befasst und ist danach angesichts des gesamten Ergebnisses der Beweisaufnahme zulässigerweise zu dem Schluss gekommen, dass der Beschwerdeführer, soweit er keine näheren Angaben machen wollte, den gegen ihn erhobenen Vorwürfen offensichtlich nichts entgegenzusetzen hatte (vgl. EGMR, Urteil vom 20. März 2001 – Telfner ./. Österreich –, Rn. 17).
3. Soweit der Beschwerdeführer weitere Mängel des gegen ihn ergangenen Urteils gerügt hat, ist die Verfassungsbeschwerde mangels einer den Anforderungen entsprechenden substantiierten Begründung unzulässig. Von einer näheren Begründung wird insofern abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG). Mit der Nichtannahmeentscheidung erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 40 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Broß, Di Fabio, Landau
Fundstellen