Verfahrensgang
LG Chemnitz (Urteil vom 27.12.2001; Aktenzeichen 6 S 3071/01) |
Tenor
Das Urteil des Landgerichts Chemnitz vom 27. Dezember 2001 – 6 S 3071/01 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben.
Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.
Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer die im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage der Bewilligung einer Grunddienstbarkeit nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz (SachenRBerG).
I.
1. Der Beschwerdeführer begehrte im Ausgangsverfahren vom beklagten Grundstücksnachbarn die Bewilligung einer Grunddienstbarkeit in der Form eines Leitungsrechts. Die im Beitrittsgebiet belegenen Grundstücke der Parteien des Ausgangsrechtsstreits waren 1980 über Leitungen, die über das Grundstück des Beklagten führen, an die öffentliche Wasserversorgung angeschlossen worden. Das Amtsgericht gab der Klage des Beschwerdeführers, gestützt auf Art. 233 § 5 EGBGB, statt.
Das Landgericht hat sie dagegen mit dem angegriffenen Urteil abgewiesen. Entgegen der Rechtsauffassung des Amtsgerichts liege in dem gemeinsamen Antrag der Rechtsvorgänger der Parteien auf Anschluss an die öffentliche Wasserversorgung keine formgerechte Vereinbarung über die Mitbenutzung des Beklagtengrundstücks im Sinne von Art. 233 § 5 EGBGB in Verbindung mit den §§ 321, 322 des Zivilgesetzbuchs der Deutschen Demokratischen Republik (im Folgenden: ZGB). Der Berufung auf die fehlende Einhaltung der Schriftform stehe § 242 BGB nicht entgegen. § 116 SachenRBerG greife nicht ein. Entsprechend der Regelungsabsicht des Gesetzgebers setze diese Vorschrift voraus, dass die Mitbenutzung überhaupt nicht, auch nicht mündlich, vertraglich geregelt sei. Wenn die Parteien – wie hier – eine mündliche Vereinbarung über die Mitbenutzung getroffen hätten, sei für § 116 SachenRBerG deshalb kein Raum. Indem sie sich entgegen § 321 Abs. 1 Satz 3 ZGB mit einem nur mündlichen Vertrag begnügt hätten, hätten sie konkludent auf eine nach dem Recht der Deutschen Demokratischen Republik mögliche Absicherung verzichtet. Es sei unsinnig, in einem solchen Fall nachträglich eine Sicherung zu schaffen, die die Parteien im Zeitpunkt des Abschlusses der Mitbenutzungsvereinbarung nicht gewollt hätten.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer neben der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot. Das Landgericht habe in krass fehlerhafter Weise verkannt, dass in der gemeinsamen Beantragung des Anschlusses an die Wasserversorgung durch die damaligen Grundstückseigentümer eine Mitbenutzungsvereinbarung nach § 321 ZGB zu sehen sei und daher Art. 233 § 5 EGBGB seinem Sinn und Zweck nach eingreifen müsse. Außerdem habe das Landgericht die Anwendbarkeit des § 116 SachenRBerG aus sachfremden Erwägungen verneint.
3. Zu der Verfassungsbeschwerde haben sich das Bundesministerium der Justiz namens der Bundesregierung, der Bundesgerichtshof und der Beklagte des Ausgangsverfahrens geäußert.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor.
1. Das angegriffene Urteil verletzt Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot.
a) Die fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht schon willkürlich (vgl. BVerfGE 89, 1 ≪13 f.≫). Dagegen ist es willkürlich, wenn die Auslegung eines Gesetzes diesem einen Sinn unterlegt, den der Gesetzgeber offensichtlich nicht hat verwirklichen wollen, den er nicht ausgedrückt und den das Gesetz auch nicht im Verlaufe einer Rechtsentwicklung aufgrund gewandelter Anschauungen erhalten hat (vgl. BVerfGE 86, 59 ≪64≫).
b) Nach diesen Grundsätzen kann das angegriffene Urteil keinen Bestand haben.
aa) Die Auslegung und Anwendung von Art. 233 § 5 Abs. 1 EGBGB durch das Landgericht sind allerdings im Hinblick auf das Willkürverbot verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Das Landgericht hat den Unterschied zu der vom Bundesgerichtshof mit Urteil vom 12. Mai 1999 (vgl. VIZ 1999, S. 489) entschiedenen Fallkonstellation darin gesehen, dass ein schriftlicher Vertrag zwischen den Parteien zwar konkludent auch eine zusätzliche rechtsgeschäftliche Vereinbarung über die Mitbenutzung eines Grundstücks enthalten könne, einem von zwei Antragstellern unterzeichneten Antrag aber keine Einigung im Verhältnis der Antragsteller zueinander zu entnehmen sei. Das ist nachvollziehbar und lässt sachfremde Erwägungen nicht erkennen.
Das Gleiche gilt, soweit das Landgericht dem Einwand des Beklagten, es sei kein – jedenfalls kein formgerechter – Vertrag zustande gekommen, nicht im Hinblick auf die jahrelange Duldung der Nutzung durch ihn § 242 BGB entgegengehalten hat. Die vom Landgericht damit entschieden Frage ist streitig (vgl. einerseits OLG Rostock, VIZ 2000, S. 553, und andererseits Böhringer, in: Eickmann, Sachenrechtsbereinigung, Art. 233 § 5 EGBGB Rn. 7 FN 6 ≪Stand: November 2001≫ mit Hinweis auf AG Arnstadt, VIZ 2001, S. 449). Für die unterschiedlichen Auffassungen werden jeweils nachvollziehbare Gründe angeführt. Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist es nicht zu entscheiden, welcher dieser Auffassungen zur Anwendung einfachen Rechts der Vorrang gebührt (vgl. BVerfGE 42, 64 ≪74≫).
bb) Rechtlich nicht mehr vertretbar und daher willkürlich ist aber die Beschränkung des Anwendungsbereichs des § 116 SachenRBerG auf Fälle, in denen sich die Beteiligten weder schriftlich noch mündlich über eine Mitbenutzung geeinigt haben. Die dem zugrunde liegende Auslegung des Landgerichts lässt sich weder mit dem Wortlaut noch mit Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung vereinbaren und überschreitet daher das mögliche Normverständnis in einer verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbaren Weise. Sie gibt der Norm einen Sinn, den der Gesetzgeber offensichtlich nicht hat verwirklichen wollen.
(1) Der Wortlaut des § 116 Abs. 1 SachenRBerG stützt die einschränkende Auslegung durch das Landgericht nicht, weil es danach für den Anspruch des Nutzers nur darauf ankommt, dass eine Nutzung vor Ablauf des 2. Oktober 1990 begründet wurde, die Nutzung des Grundstücks für die Erschließung oder Entsorgung eines Grundstücks des Nutzers erforderlich ist und ein Mitbenutzungsrecht nach den §§ 321, 322 ZGB nicht begründet wurde.
(2) Die Auslegung des Landgerichts lässt sich auch nicht mit der in der Begründung zum Regierungsentwurf eines Sachenrechtsänderungsgesetzes zum Ausdruck kommenden Regelungsabsicht des Gesetzgebers vereinbaren.
Ziel des Gesetzes ist es danach, für nicht abgesicherte Mitbenutzungen fremder Grundstücke eine Regelung zum Schutz getätigter Investitionen zu treffen (vgl. BTDrucks 12/5992, S. 61, 65, 92, 179). Eine solche Mitbenutzung ist auch dann gegeben, wenn eine mündliche Vereinbarung nichtig ist und die gegenwärtigen Eigentümer der beteiligten Grundstücke deshalb nicht binden kann. Die Gesetzesbegründung spricht im Übrigen ausdrücklich davon, dass bei einer Mitbenutzung im Einvernehmen mit dem Grundstückseigentümer eine Grunddienstbarkeit zu bestellen sei, die der mit Einverständnis des Eigentümers begründeten Mitbenutzung inhaltlich entspreche. In einem solchen Fall solle die dem Bürgerlichen Gesetzbuch entsprechende Absicherung ohne Entgelt eingeräumt werden (vgl. a.a.O., S. 180). Der Gesetzgeber hat also auch den Fall mitregeln wollen, dass eine Mitbenutzung einvernehmlich, aber nicht in der Form des § 321 Abs. 1 Satz 3 ZGB erfolgte. Auch insoweit wollte er es demnach nicht dabei belassen, dass der mit der Mitbenutzung einverstandene Eigentümer diese weiterhin nur dulden muss, ohne dass der Mitnutzer eine abgesicherte Rechtsposition erhält.
Der Gesetzgeber hatte zwar primär solche Fälle im Auge, in denen eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft oder ein energiewirtschaftlicher Volkseigener Betrieb ohne Zustimmung der Grundstückseigentümer Versorgungsleitungen über fremde Grundstücke legte (vgl. BTDrucks 12/5992, S. 179; Eickmann, a.a.O., § 116 SachenRBerG Rn. 1; Vossius, Sachen-rechtsbereinigungsgesetz, 1995, § 116 Rn. 1; Hartmann, in: Soergel, BGB, 12. Aufl., Bd. 10, 1996, Art. 233 EGBGB Anh Rn. 512; Smid, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 6, 3. Aufl. 1997, § 116 SachenRBerG Rn. 1). Auf die Regelung dieser vom Fehlen eines Einverständnisses des Grundstückseigentümers geprägten Konfliktlage ist § 116 SachenRBerG aber nicht beschränkt. Denn die Gesetzesbegründung versteht derartige Konfliktlagen ausdrücklich nur als Beispiel: “Solche Sachverhalte sind vor allem (aber nicht ausschließlich) auf den vormals genossenschaftlich genutzten Flächen anzutreffen” (vgl. BTDrucks 12/5992, S. 61).
Keine Erwähnung findet in den Gesetzesmaterialien die für das Landgericht offenbar maßgeblich gewesene Erwägung, bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs von § 116 SachenRBerG sei auch zu berücksichtigen, dass derjenige nicht schutzwürdig sei, der sich sehenden Auges in eine möglicherweise konfliktbegründende Situation – hier die gemeinsame Nutzung einer Wasserleitung mit dem Nachbarn – begeben hat, ohne die von der Rechtsordnung vorgesehene (vgl. dazu Rohde, Bodenrecht, 1989, S. 219 ff.) und ihm oder seinem Rechtsvorgänger zugänglich gewesene Möglichkeit einer Absicherung zu nutzen. Der systematische Zusammenhang mit § 118 Abs. 2 Nr. 2 Sachen-RBerG spricht im Übrigen für das Gegenteil. In dieser Vorschrift ist für den Fall, dass die Mitbenutzung mit dem Einverständnis des Eigentümers des belasteten Grundstücks erfolgte, die Unentgeltlichkeit der Bestellung der Dienstbarkeit geregelt. Dies setzt voraus, dass die §§ 116 ff. SachenRBerG auch dann anwendbar sind, wenn über die Nutzung des belasteten Grundstücks Einvernehmen bestanden hatte. Wenn eine Mitbenutzung aufgrund eines Einverständnisses mit dem Eigentümer erfolgte, lag auch eine zumindest konkludente Vereinbarung vor, die allerdings bei nur mündlich erklärtem Einverständnis nicht den Erfordernissen des § 321 Abs. 1 Satz 3 ZGB entsprach.
c) Das Berufungsurteil beruht auf dem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht zu einem für den Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis gelangt wäre, wenn es den Anwendungsbereich des § 116 SachenRBerG nicht in der von ihm angenommenen Weise beschränkt hätte.
III.
Das Urteil ist deshalb aufzuheben, ohne dass es auf die weiter erhobene Gehörsrüge noch ankommt. Die Sache ist nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Landgericht zurückzuverweisen, das im Hinblick darauf, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 116 Abs. 1 SachenRBerG zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens streitig sind, weitere tatsächliche Feststellungen wird treffen müssen.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Jaeger, Hömig, Bryde
Fundstellen
Haufe-Index 952199 |
NJ 2003, 533 |