Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei schuldhafter Versäumung der Berufungsfrist durch einen Prozeßbevollmächtigten
Leitsatz (amtlich)
ZPO § 232 Abs 2 ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
Leitsatz (redaktionell)
- Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann bei schuldhafter Versäumung der Berufungsfrist durch einen Prozeßbevollmächtigten nicht gewährt werden.
- Die sehr umfangreiche abweichende Meinung setzt sich mit dem Wert der Rechtssicherheit auseinander und kommt zum gegenteiligen Ergebnis.
Normenkette
ZPO § 232 Abs. 2; GG Art. 20 Abs. 3, Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 5, Art. 3 Abs. 1
Verfahrensgang
OLG Celle (Beschluss vom 12.09.1972; Aktenzeichen 14 U 98/72) |
OLG Celle (Vorlegungsbeschluss vom 08.02.1972; Aktenzeichen 14 U 220/71) |
OLG Celle (Vorlegungsbeschluss vom 18.01.1972; Aktenzeichen 14 U 181/71) |
OLG Celle (Vorlegungsbeschluss vom 04.01.1972; Aktenzeichen 14 U 201/71) |
Gründe
A.
Die Vorlagebeschlüsse betreffen die Frage, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, daß ein Verschulden des Prozeßbevollmächtigten an der Versäumung einer Berufungsfrist auch in Kindschaftssachen der vertretenen Partei zugerechnet wird.
I.
Die Zivilprozeßordnung (ZPO) wurde nach dem Zusammenbruch im Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts (Rechtsvereinheitlichungsgesetz) vom 12. September 1950 (BGBl. S. 455) als Anlage neu beschlossen.
§ 233 Abs. 1 ZPO lautet seither:
Einer Partei, die durch Naturereignisse oder andere unabwendbare Zufälle verhindert worden ist, eine Notfrist oder die Frist zur Begründung der Berufung oder der Revision einzuhalten, ist auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erteilen.
Außerdem bestimmt § 232 Abs. 2 ZPO in der sachlich mit § 210 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung vom 30. Januar 1877 (RGBl. S. 83) übereinstimmenden Fassung:
Insofern die Aufhebung der Folgen einer unverschuldeten Versäumung zulässig ist, wird eine Versäumung, die in dem Verschulden eines Vertreters ihren Grund hat, als eine unverschuldete nicht angesehen.
Die in § 516 ZPO geregelte Frist für die Berufungseinlegung ist eine Notfrist, gegen deren unverschuldete Versäumung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand statthaft ist.
Das am 1. Juli 1970 in Kraft getretene Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder vom 19. August 1969 (BGBl. I S. 1243) hat auch das Verfahren in Kindschaftssachen (§§ 640 ff. ZPO) neu geordnet und bestimmt, daß gemäß § 119 Nr. 1 GVG n. F. das Oberlandesgericht für die Verhandlung und Entscheidung über die Berufung gegen die Endurteile der Amtsgerichte in Kindschaftssachen zuständig ist.
II.
In vier Berufungsverfahren hat das Oberlandesgericht Celle gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG das Verfahren über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob die Anwendung des § 232 Abs. 2 ZPO in Kindschaftssachen mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
In allen Ausgangsverfahren haben Rechtsanwälte als Prozeßbevollmächtigte von Beklagten, die auf Feststellung der nichtehelichen Vaterschaft und Leistung des Regelunterhalts in Anspruch genommen wurden, die gesetzliche Frist zur Einlegung der Berufung gegen Sachurteile von Amtsgerichten schuldhaft versäumt. Sie begehren für den jeweiligen Berufungskläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Das vorlegende Gericht führt aus:
1. Für seine Entscheidung komme es auf die Gültigkeit der vorgelegten Rechtsnorm an. Wäre § 232 Abs. 2 ZPO auch im Verfahren in Kindschaftssachen anwendbar, so müßte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist verweigert werden mit der Folge, daß auch die Berufung des Beklagten als unzulässig zu verwerfen sei. Denn die Prozeßbevollmächtigten hätten nicht infolge eines unabwendbaren Zufalls, sondern durch ihr Verschulden die Berufungsfrist versäumt. Wenn dagegen die Vorschrift in Kindschaftssachen als grundgesetzwidrig nicht anzuwenden wäre, dann wäre das Wiedereinsetzungsgesuch begründet. Denn die verspätete Berufungseinlegung durch einen Rechtsanwalt stelle für die Partei selbst ein unabwendbares Ereignis dar. In diesem Falle müßte, teilweise nach weiterer Aufklärung des Sachverhalts, darüber entschieden werden, ob die Berufung sachlich begründet sei oder nicht.
2. Die Anwendbarkeit des § 232 Abs. 2 ZPO in Kindschaftssachen verstoße gegen Art. 2 Abs. 1 und 2 sowie 20 Abs. 3 GG.
Allerdings sei § 232 Abs. 2 ZPO nur insoweit verfassungswidrig, als er sich auch auf das Verfahren in Kindschaftssachen erstrecke. Es sei nicht möglich, die Anwendung dieser Vorschrift im Wege einer verfassungskonformen Auslegung für bestimmte Verfahrensarten, wie z. B. Statussachen, auszuschließen. Die Vorlagefrage lasse sich aber, wie geschehen, beschränken.
Die Zurechnung des Anwaltsverschuldens bedeute hier, daß dem angeblichen Vater eines Kindes ebenso wie dem Kinde, das die Feststellung der Vaterschaft eines bestimmten Mannes begehre, durch das schuldhafte Verhalten eines Prozeßbevollmächtigten, auf den die Partei im allgemeinen nicht einzuwirken vermöge, die Möglichkeit der Überprüfung des gegen die Partei ergangenen Urteils in der Berufungsinstanz verloren ginge. Das erstinstanzliche Urteil würde, auch wenn es sachlich unrichtig wäre, in der Regel Wirkung für und gegen alle entfalten (§ 640h Satz 1 ZPO). Dies hätte nicht nur vermögensrechtliche Folgen für die betroffene Partei, sondern würde auch ihren persönlichen Status verändern. Es stelle aber eine schwere Beeinträchtigung der Persönlichkeitsrechte eines Mannes dar, wenn ein seine Vaterschaft feststellendes Urteil mit den Tatsachen nicht übereinstimme.
Zwar greife § 232 Abs. 2 ZPO nicht unmittelbar in ein Persönlichkeitsrecht des Beklagten ein. Die Bestimmung widerspreche jedoch, soweit sie auch für Kindschaftssachen gelte, dem Rechtsstaatsprinzip.
Zur Rechtsstaatlichkeit gehörten die Rechtssicherheit und die Gerechtigkeit oder materielle Richtigkeit einer Entscheidung. Die verfahrensrechtlichen Fristvorschriften seien formale Ordnungsvorschriften, die allein der Rechtssicherheit dienten. In welchen Fällen der Gerechtigkeit oder der Rechtssicherheit der Vorrang zu geben sei, müsse in erster Linie der Gesetzgeber entscheiden. Dieser dürfe aber nicht willkürlich handeln.
Im normalen Zivilprozeß könne es im allgemeinen hingenommen werden, wenn einer Partei das Verschulden ihres Vertreters an der Versäumung einer Rechtsmittelfrist zugerechnet werde, zumal in den meisten Fällen der Fehler des Rechtsanwalts im Regreßwege ausgeglichen werden könne. Anders liege es bei Verfahren in Kindschaftssachen, in denen eine falsche Entscheidung das Persönlichkeitsrecht der Parteien berühre, deren blutmäßige Verwandtschaft unrichtig festgestellt worden sei.
Für das Verfahren in Kindschaftssachen sei der Gesetzgeber gehalten, der materiellen Wahrheit und der Gerechtigkeit im Einzelfall den Vorzug zu geben. Die Situation sei der Rechtslage im Strafprozeß vergleichbar, für den eine dem § 232 Abs. 2 ZPO entsprechende Bestimmung fehle. Im Hinblick auf das Strafverfahren habe es schon das Reichsgericht (RGSt 70, 186 ff.) für eine unvertretbare Härte gehalten, wenn ein möglicherweise unschuldiger Angeklagter durch ein für ihn nicht abwendbares Verschulden seines Verteidigers daran gehindert werden würde, weiter für seine Ehre und Freiheit zu kämpfen. In gleicher Weise wäre es untragbar, wenn jemand sich zeit seines Lebens als Vater eines Kindes behandeln lassen müßte, das ihn in Wahrheit nichts angehe, nur weil sein Prozeßbevollmächtigter schuldhaft die Berufungsfrist versäumt habe.
III.
1. Für die Bundesregierung hat sich der Bundesminister der Justiz geäußert. Nach seiner Auffassung ist die vorgelegte Regelung verfassungsmäßig. Sie solle einen geordneten, zügigen Ablauf des Zivilprozesses gewährleisten und sei auch im Rechtsmittelverfahren in Kindschaftssachen sachlich vertretbar. Ihre Beibehaltung bei einer Reform des Zivilprozeßrechts sei vorgesehen.
2. Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs teilt die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Anwendbarkeit des § 232 Abs. 2 ZPO in Kindschaftssachen nicht. Er hat diese Vorschrift bei zahlreichen Entscheidungen nach Inkrafttreten des Gesetzes über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder angewandt und nimmt insbesondere auf die Gründe seines Beschlusses vom 15. Dezember 1971 (NJW 1972, S. 584) Bezug.
3. Der Vorstand des Deutschen Anwaltsvereins hat sich den Erwägungen des vorlegenden Gerichts angeschlossen. Die rechtskräftige Festlegung der blutmäßigen Abstammung von Personen als Regelung elementarer menschlicher Verbindungen und die Ordnung aller personenrechtlichen und erbrechtlichen Folgen auf dieser Grundlage könnten in einem Rechtsstaat nicht von einem Anwaltsverschulden abhängig sein, das für den Betroffenen selbst unabwendbar gewesen sei.
Hingegen bejaht das Deutsche Institut für Vormundschaftswesen die Verfassungsmäßigkeit des § 232 Abs. 2 ZPO auch für das Verfahren in Kindschaftssachen. Dazu hat es Rechtsgutachten der Professoren Dr. Günther Beitzke und Dr. Helmut Engler vorgelegt.
B. – I.
Die Vorlagen, die das Bundesverfassungsgericht zur gemeinsamen Entscheidung verbunden hat, sind zulässig.
1. Die Zivilprozeßordnung ist ein nachkonstitutionelles Gesetz, das der Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG unterliegt (BVerfGE 8, 210 [213 f.]); 10, 185 [191 f.]).
2. Für die Entscheidungen des Oberlandesgerichts Celle kommt es auf die Gültigkeit des § 232 Abs. 2 ZPO an.
Nach seiner Darlegung müßte in sämtlichen Ausgangsverfahren die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist versagt und die Berufung selbst als unzulässig verworfen werden, falls die erwähnte Bestimmung auch im Verfahren in Kindschaftssachen anwendbar wäre.
Dagegen würde das vorlegende Gericht, falls § 232 Abs. 2 ZPO in Kindschaftssachen für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt werden sollte, den Wiedereinsetzungsgesuchen der Beklagten, da sie kein eigenes Verschulden trifft, stattgeben und sodann zur Hauptsache entscheiden.
II.
Die Regel des § 232 Abs. 2 ZPO ist für den normalen Zivilprozeß verfassungsrechtlich unproblematisch. Verfassungsrechtliche Bedenken könnten sich lediglich aus der Eigenart von Statusverfahren ergeben, soweit sie den Zivilgerichten zugewiesen sind.
1. Die Vorschrift gilt nach ihrem Wortlaut, ihrer systematischen Stellung und ihrem Sinn in allen Verfahren nach der Zivilprozeßordnung, also nicht nur für Rechtsstreitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche, sondern auch für sämtliche Statusverfahren (Ehesachen, §§ 606 ff. ZPO; Kindschaftssachen, §§ 640 ff. ZPO; Entmündigungssachen, §§ 645 ff. ZPO) sowie für andere nichtvermögensrechtliche Streitsachen.
2. Gesetzliche Bestimmungen über prozessuale Fristen, insbesondere zur Einlegung von Rechtsmitteln, sind notwendig, damit gerichtliche Entscheidungen nach ungenutztem Fristablauf eine endgültige Wirkung entfalten.
Soll dieser Zweck nicht vereitelt werden, muß die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eine Ausnahme bleiben.
Unter diesem Blickpunkt ist es weder sachwidrig noch unzumutbar, wenn die Partei eines Zivilprozesses über vermögensrechtliche Streitigkeiten für das Verschulden ihres Vertreters an der Versäumung einer Verfahrensfrist einstehen muß. Denn eine Haftung für fremdes Verschulden ist dem Recht auch sonst geläufig. Der Partei bleibt es außerdem in diesem Fall unbenommen, ihren Vertreter auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen.
3. Auch in nichtvermögensrechtlichen Streitigkeiten, insbesondere in Kindschaftssachen, greifen verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 232 Abs. 2 ZPO nicht durch.
a) Das vorlegende Gericht ist zwar der Auffassung, bei Geltung des § 232 Abs. 2 ZPO in Kindschaftssachen werde das Postulat der Gerechtigkeit in unerträglichem Maße zugunsten des Gebotes der Rechtssicherheit mißachtet und damit gegen das in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip verstoßen. Das ist indessen nicht der Fall.
Das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) enthält nicht für jeden Sachverhalt in allen Einzelheiten eindeutig bestimmte Gebote oder Verbote von Verfassungsrang, sondern ist ein Verfassungsgrundsatz, der der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten bedarf, wobei allerdings fundamentale Elemente des Rechtsstaates und die Rechtsstaatlichkeit im ganzen gewahrt bleiben müssen (BVerfGE 7, 89 [92 f.]; 28, 264 [277]).
Zur Rechtsstaatlichkeit gehört nicht nur die materielle Gerechtigkeit, sondern auch die Rechtssicherheit. Das Prinzip der Rechtssicherheit liegt mit der Forderung nach materieller Gerechtigkeit häufig im Widerstreit. Es ist in erster Linie Sache des Gesetzgebers, einen solchen Widerstreit bald nach der Seite der Rechtssicherheit, bald nach der Seite der materiellen Gerechtigkeit hin zu entscheiden. Geschieht dies ohne Willkür, so kann die gesetzgeberische Entscheidung aus Verfassungsgründen nicht beanstandet werden (BVerfGE 25, 269 [290 f.]).
Von einer willkürlichen Entscheidung des Gesetzgebers kann aber im vorliegenden Falle nicht die Rede sein. Ob eine andere Lösung des Problems – etwa die Beschränkung des § 232 Abs. 2 ZPO auf vermögensrechtliche Streitsachen – “vernünftiger” oder “gerechter” gewesen wäre, hat das Bundesverfassungsgericht nicht zu prüfen.
Fristvorschriften sollen ein geordnetes und zügiges Verfahren gewährleisten und dienen damit der Rechtssicherheit.
Auch im Verfahren in Kindschaftssachen ist es sachlich vertretbar, daß die Parteien des Rechtsstreites in Rücksicht auf das zwischen ihnen und ihrem Vertreter bestehende Vollmachtsverhältnis für ein Fehlverhalten ihres Anwaltes einzustehen haben. Im Statusverfahren ist das Interesse der obsiegenden Partei an endgültigem Abschluß des gerichtlich entschiedenen Streites nach Verstreichen der Rechtsmittelfrist nicht weniger schutzwürdig als in sonstigen Fällen.
Hinzu kommt, daß das bürgerliche Recht im Interesse des Kindes und des Familienfriedens ohnehin nicht in allen Fällen eine Gewähr dafür gibt, daß die Abstammungsverhältnisse zutreffend klargestellt werden. So ist es z. B. in die freie Entschließung des Anfechtungsberechtigten gestellt, ob er Klage auf Anfechtung der Ehelichkeit eines Kindes erheben will oder nicht; zudem sind für die Anfechtung der Ehelichkeit eines Kindes Ausschlußfristen gesetzt. Eine nichteheliche Abstammung kann nach den §§ 1600a ff. BGB durch Anerkennung mit Wirkung für und gegen alle festgestellt werden. Das gilt, vorbehaltlich der auch hier bestehenden Anfechtungsmöglichkeiten, auch dann, wenn die entsprechende Erklärung unrichtig ist. Auch mit der Vermutung des § 1600 o Abs. 2 Satz 1 BGB wird in gewissem Rahmen das Risiko einer unrichtigen Feststellung der nichtehelichen Vaterschaft in Kauf genommen. Die gleichen Erwägungen, die diesen gesetzlichen Regelungen zugrunde liegen, lassen sich auch für die Aufrechterhaltung eines nicht rechtzeitig angefochtenen und möglicherweise unrichtigen Urteils in Kindschaftssachen anführen.
Zwar wird in aller Regel in Kindschaftssachen der persönliche Bereich der Betroffenen stärker berührt als in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Auch kann die Versäumung der Berufungsfrist hier für die betroffene Partei insofern schwerer wiegen, als der Ersatz eines Schadens, der durch die unrichtige Feststellung der Vaterschaft entsteht, nur hinsichtlich der wirtschaftlichen Folgen, nicht aber wegen der familienrechtlichen Auswirkungen möglich ist. Die Zurechenbarkeit eines Anwaltsverschuldens ist aber auch in Anbetracht dessen nicht untragbar. Denn der Gesetzgeber hat diesen Besonderheiten durch die Ausgestaltung des Statusprozesses in den §§ 640 ff. ZPO Rechnung getragen. Sie bietet eine erhöhte Gewähr für die Richtigkeit der Sachentscheidung im Einzelfall. Auch hat er im Zuge der Neuregelung des Nichtehelichenrechtes die Möglichkeiten einer Wiederaufnahme des Verfahrens erweitert. Nach § 641i ZPO ist jetzt die Restitutionsklage gegen ein rechtskräftiges Urteil, in dem über die Vaterschaft entschieden ist, außer in den Fällen des § 580 ZPO statthaft, wenn die Partei ein neues Gutachten über die Abstammung vorlegt, das allein oder in Verbindung mit den im früheren Verfahren erhobenen Beweisen eine andere Entscheidung herbeigeführt haben würde. Damit ist dem Gebot materieller Gerechtigkeit in angemessener Weise Genüge getan.
Wenn der Gesetzgeber sich bei dieser Sachlage in der Frage der Zurechenbarkeit des Anwaltsverschuldens von dem Gedanken der Rechtssicherheit hat leiten lassen, so ist das mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar. Entsprechendes gilt für die übrigen Statusverfahren.
b) Die nach dem bisher Dargelegten dem Gebot des Rechtsstaatsprinzips auch in Kindschaftssachen genügende Regelung des § 232 Abs. 2 ZPO gehört zur verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG, die das dort garantierte Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit begrenzt. Die Regel, daß die Prozeßpartei in Kindschaftssachen sich bei Versäumnis einer Notfrist das Verschulden ihres Prozeßbevollmächtigten zurechnen lassen muß und damit in der Verfolgung und Verteidigung ihrer Rechte u. U. teilweise ausgeschlossen wird, kann sich mittelbar dahin auswirken, daß ein Urteil ergeht und bei Bestand bleibt, das der Sach- und Rechtslage nicht entspricht. Das ist in Statussachen gewiß von größerer Bedeutung als in Streitigkeiten rein vermögensrechtlicher Art. Aber diese mögliche mittelbare Folge der Regelung des § 232 Abs. 2 ZPO verletzt nicht den Kern des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG, der auch durch dieses Grundrecht begrenzende Rechtssätze nicht berührt werden darf.
Art. 2 Abs. 2 GG ist hier nicht einschlägig.
c) Ebensowenig wird durch die genannte Regelung Art. 6 – insbesondere Abs. 5 – GG verletzt. Das Prozeßverfahren in Kindschaftssachen ist insgesamt – und zwar einschließlich des § 232 Abs. 2 ZPO –, wie dargelegt, so geregelt, daß dieses Prozeßrecht generell der Eigentümlichkeit von Statusverfahren und insbesondere dem hohen Wert einer authentischen Klarstellung der wirklichen Familien- und Abstammungsverhältnisse zwischen verschiedenen Personen Rechnung trägt. Daß die Vorschrift ihrem Inhalt nach oder in ihrer Anwendung in Kindschaftssachen zu einer Schlechterstellung von unehelichen Kindern gegenüber ehelichen Kindern führt, ist nicht zu erkennen.
d) Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liegt ebenfalls nicht vor.
Ebenso wie im Zivilprozeß wird im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit, im Verwaltungsprozeß, im sozialgerichtlichen, arbeitsgerichtlichen und finanzgerichtlichen Verfahren das Verschulden des Vertreters bei der Versäumung einer Rechtsmittelfrist dem Vertretenen zugerechnet. Eine Ausnahme bildet lediglich der Strafprozeß (vgl. RGSt 70, 186 [191 f.]; BGHSt 14, 306 [308]). Diese Differenzierung ist jedenfalls nicht willkürlich. Im Strafprozeß tritt die öffentliche Gewalt dem beschuldigten Bürger gegenüber, um die härteste Sanktion der Rechtsgemeinschaft, den Strafanspruch wegen schuldhaft begangenen Unrechts durchzusetzen. Dagegen begegnen sich im Zivilprozeß die Parteien auf gleicher Ebene. Eine strafrechtliche Verurteilung greift einseitig in so höchstpersönliche Rechtsgüter wie Freiheit und Ehre des Verurteilten ein. Dies ist ein zureichender Grund, dem Verurteilten das Verschulden seines Verteidigers nicht zuzurechnen.
Diese Entscheidung ist mit sieben Stimmen gegen eine ergangen.
Abweichende Meinung des Richters Dr. v. Schabrendorff zu dem Beschluß des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Mai 1973 – 2 BvL 5, 6, 7, 13/72 –
Nach meiner Überzeugung ist § 232 Abs. 2 ZPO, soweit er sich auf Kindschaftssachen (§§ 640 ff. ZPO) bezieht, mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Meine Ansicht beruht auf folgenden Erwägungen:
1. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist im deutschen Verfahrensrecht ein seit langem bekanntes Rechtsinstitut. Es dient der individuellen Gerechtigkeit. Es anerkennt, daß das förmliche Verfahren zur Durchsetzung des objektiven Rechtes nicht Selbstzweck sein kann. Das gilt auch für den Zivilprozeß. Ist eine Partei durch Naturereignisse oder durch andere unabwendbare Zufälle gehindert, eine Notfrist oder eine Frist zur Begründung der Berufung oder der Revision einzuhalten, so ist ihr auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 233 Abs. 1 ZPO). Hiervon macht das Gesetz in § 232 Abs. 2 ZPO eine Ausnahme. Das Gesetz erachtet ein schuldhaftes Verhalten des Prozeßbevollmächtigten für die Partei nicht als einen unabwendbaren Zufall.
Nur um die verfassungsrechtliche Rechtfertigung gerade dieser Einschränkung geht es. Das würdigt die Mehrheit des Senates nicht hinreichend. Sie übersieht, daß sich der Gesetzgeber bereits beim Inkrafttreten der ZPO in § 233 Abs. 1 ZPO für den Vorrang der Belange des Einzelfalles gegenüber einer gleichmachenden Rechtssicherheit entschieden hat. Das heißt aber, daß in einem kontradiktorischen Verfahren die obsiegende Gegenpartei ganz allgemein bei einer Fristversäumnis mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu rechnen hat. Insoweit gibt es kein besonderes schutzwürdiges Vertrauen der Gegenpartei, das gerade durch das schuldhafte Prozeßverhalten des Bevollmächtigten der anderen Partei begründet worden ist. Es besteht kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Vertrauenserwartung der obsiegenden und dem Fehlverhalten des Prozeßbevollmächtigten der unterlegenen Partei.
Von ihrem Standpunkt aus prüft die Mehrheit des Senats daher nicht, wie gerade die Sondervorschrift des § 232 Abs. 2 ZPO verfassungsrechtlich zu legitimieren sei. Sie untersucht statt dessen die Frage, ob die bei Fristversäumnis eintretenden Rechtsfolgen in Kindschaftssachen zu noch tragbaren Ergebnissen führen. Ihre Gründe rechtfertigen eher, auf das Institut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gänzlich zu verzichten.
2. Der Staat hat die Verpflichtung zu einer Rechtsbefriedung monopolisierend übernommen (Art. 20 Abs. 2 u. 3, 92, 97 GG). Daraus ergibt sich für ihn eine Justizgewährungspflicht. Im richterlichen Urteil findet dies seinen Ausdruck. Ziel des Urteils ist die Verwirklichung materialer Gerechtigkeit und die damit verbundene Herstellung des Rechtsfriedens (vgl. E. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil I, 2. Aufl., 1964, Rdnr. 44).
Diese Ziele bedingen zweierlei: Einerseits fordert die materiale Gerechtigkeit die richtige Rechtsanwendung auf wahre Sachverhalte. Andererseits verlangt das Rechtsgefühl nach Verläßlichkeit des richterlichen Erkenntnisses. Dem Richterspruch muß Endgültigkeit zukommen. Im Prozeßrecht findet dies in der formellen und materiellen Rechtskraft seinen Ausdruck. Dies ist die auf das Gebot der Rechtssicherheit sich stützende wesentliche Rechtfertigung prozessualer Fristbestimmungen. Fristenregelungen begrenzen jedoch die Möglichkeit, weiterhin nach Wahrheit und Gerechtigkeit vor Gericht zu suchen. Die Rechtsfolgen einer Fristversäumnis sind deshalb auch an der im Rechtsstaatsprinzip verankerten Forderung nach materialer Gerechtigkeit im Einzelfall zu messen. Insoweit besteht mit der Mehrheit des Senates Übereinstimmung. Keine Einigkeit besteht aber in folgenden Fragen: Wie ist das Verhältnis von materialer Gerechtigkeit und Rechtssicherheit allgemein zu bestimmen? Welchen Umfang hat eine Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht? Was fordern materiale Gerechtigkeit und Rechtssicherheit gerade bei dem Ausschluß der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in § 232 Abs. 2 ZPO?
3. Materiale Gerechtigkeit und Rechtssicherheit sind nicht isoliert zu sehen. Sie sind vielfältig aufeinander bezogen. Beide sind ihrer Idee nach tragende Elemente objektiven Rechts. Sie zu verwirklichen, fordert ein wertethisches Prinzip. Das Bundesverfassungsgericht hat sich hierzu in seiner Rechtsprechung wiederholt bekannt. Auch die Mehrheit des Senats geht hiervon aus. Nach ihrer Ansicht liegt das Prinzip der Rechtssicherheit mit der Forderung nach Gerechtigkeit häufig im Widerstreit. Die Lösung dieses Spannungsverhältnisses will die Mehrheit des Senats in erster Linie dem Gesetzgeber überlassen.
a) Das begriffliche Verhältnis der Rechtssicherheit zur Gerechtigkeit ist stets unterschiedlich verstanden worden (vgl. W. Herschel, Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, in JZ 1967 S. 727 [732]; C. A. Emge, Sicherheit und Gerechtigkeit – Ihre gemeinsame metajuristische Wurzel, in Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1940 Nr. 9; O. A. Germann, Rechtssicherheit, in ders., Methodische Grundfragen, 1946 S. 54 ff.; M. Rümelin, Die Rechtssicherheit, 1924). Vor allem Gustav Radbruch hat in Gerechtigkeit und Rechtssicherheit Gegensätze gesehen, die zu Spannungen führen könnten (vgl. G. Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 3. Aufl., 1965, S. 33; Rechtsphilosophie, 6. Aufl., 1963, S. 168 ff.; Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, abgedruckt in Rechtsphilosophie, a.a.O., S. 347 [353]). Karl Engisch und andere sind ihm darin gefolgt (vgl. K. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 3. Aufl., 1964, S. 163 Fn. 207; H. Henkel, Recht und Individualität, 1958 S. 16 ff.). Das Bundesverfassungsgericht hat sich in dieser Frage frühzeitig der Rechtsphilosophie Radbruchs angeschlossen, und zwar ausdrücklich (BVerfGE 3, 225 [232 f.]). Auch in späteren Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder hervorgehoben, daß Gerechtigkeit und Rechtssicherheit in Widerspruch treten könnten (vgl. BVerfGE 7, 194 [196]; 15, 313 [319]; 22, 322 [329]; 25, 269 [290 f.]). Die Übernahme der Radbruchschen pluralistischen These hat schließlich dazu geführt, daß das Bundesverfassungsgericht sich in der Nachprüfung seit einiger Zeit auf das Gebot der willkürfreien Entscheidung des Gesetzgebers beschränkt (vgl. BVerfGE 7, 194 [196]; 11, 263 [265]; 15, 313 [319 f., 322]; 19, 150 [166]; 22, 322 [329]; 25, 269 [290 f.]; 27, 297 [305 f., 308]; 29, 413 [432]). Da es andererseits bislang nicht gelungen ist, dem Willkürverbot präzise Konturen zu geben, hat sich für den Gesetzgeber faktisch ein weiter Gestaltungsraum ergeben.
b) Gegen diese Rechtsprechung bestehen in ihrer Verallgemeinerung durchgreifende Bedenken. Das gilt einmal für die Annahme, materiale Gerechtigkeit und Rechtssicherheit stünden in einem – wohl konträr gemeinten – Gegensatz. Das gilt insbesondere aber für die fortschreitende Minderung der verfassungsgerichtlichen Prüfung der legislatorischen Entscheidungen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überantwortet zunehmend die Lösung des Verhältnisses von materialer Gerechtigkeit und Rechtssicherheit dem Gesetzgeber. Das ist mit Art. 20 Abs. 3 GG nicht zu vereinbaren.
Das Bundesverfassungsgericht übernahm die pluralistische These Radbruchs in einer außergewöhnlichen Fragestellung. Der Verfassunggeber hatte zur Verwirklichung der Gleichberechtigung in Art. 117 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber eine Frist bestimmt. Diese Frist diente der Rechtssicherheit im Sinne einer Verkehrssicherheit im Rechtsleben. Unter dem Schlagwort der “verfassungswidrigen Verfassungsnorm” ging es um die Frage, ob der pouvoir constituant selbst gegen das Postulat materialer Gerechtigkeit verstoßen habe. Spätere Entscheidungen haben diesen Ausgangspunkt nicht immer hinreichend bedacht. Zwar gelang es in der Judikatur des Gerichts, für das Verbot rückwirkend auferlegter öffentlicher Leistungspflichten aus dem Gebot der Rechtssicherheit und unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes zugunsten des Bürgers schärfere Kriterien zu entwickeln (vgl. BVerfGE 7, 89 [92]; 30, 392 [401, 402]). Der Begriff der materialen Gerechtigkeit blieb indes weitgehend unscharf. Nur in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat sich die Forderung nach Gerechtigkeit bislang zugunsten des Bürgers ausgewirkt (vgl. BVerfGE 27, 297 [306]).
Die von der Mehrheitsmeinung herangezogenen Judikate erlauben insoweit keine Erkenntnisse. Es ist zunächst auffällig, daß diese Judikate nur das Verhältnis von Bürger und Staat betreffen. Dieses Verhältnis ist anders zu beurteilen als ein Streit um Rechte inter privatos. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts betrifft zudem fast ausschließlich Geldleistungen, also keine – wie vorliegend – immateriellen Rechtsverhältnisse. Daneben hat sich das Bundesverfassungsgericht zum Verhältnis von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit im Bereich des Straf- und Strafverfahrensrechts und im Wiedergutmachungsrecht geäußert (vgl. BVerfGE 3, 248 [253 f.]; 21, 378 [388]; 22, 322 [329]; 25, 269 [290]; 27, 297 [306]; 28, 264 [277]; 33, 367 [383]). Die verallgemeinernde Übertragung dieser Rechtsprechung – aus dem Verhältnis Bürger und Staat entwickelt – auf einen rechtsstaatlich gebotenen Ausgleich der Interessen zweier an einem kontradiktorischen Prozeßverfahren beteiligten Parteien muß zu unzutreffenden Ergebnissen führen. Das äußert sich etwa darin, daß die Mehrheit des Senates weder die Ziele eines auf Rechtsverwirklichung gerichteten Urteilsverfahren untersucht, noch fragt, in welcher Weise gerade bei Verfassungswidrigkeit des § 232 Abs. 2 ZPO die Interessen der obsiegenden Partei wirklich ernsthaft berührt werden.
c) Die Auffassung von einem Widerstreit zwischen materialer Gerechtigkeit und Rechtssicherheit war hinzunehmen, solange das Bundesverfassungsgericht selbst zwischen beiden Elementen des Rechtsstaatsprinzips abwog. Die Methode der Abwägung hat das Bundesverfassungsgericht – vor allem sein Erster Senat – vielfältig geformt (vgl. F. Müller, Juristische Methode, 1971 S. 44; H. Hubmann, Die Methode der Abwägung, in Festschrift f. L. Schnorr v. Carolsfeld, 1972 S. 173 ff.). Sie entspricht dem alten aristotelischen Gedanken des Ausgleichs. Die verteilende Gerechtigkeit muß Verdienst, Leistung und Würde zu messen suchen (Aristoteles, Eth. Nic. 1130b-1134b). Dieses Verständnis von Gerechtigkeit erlaubt – gerade im Einzelfall – eine individualisierende Rechtsfindung.
Seit BVerfGE 15, 313 [319] hat das Bundesverfassungsgericht die Abwägung zwischen dem Prinzip der Rechtssicherheit und dem Gebot der Gerechtigkeit in erster Linie dem Gesetzgeber aufgetragen. Es will sich auf eine Prüfung unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 Abs. 1 GG beschränken. Das ist zu mißbilligen. Der Sachverhalt der Entscheidung in BVerfGE 15, 313 betraf ein Steuergesetz. Der Gesetzgeber hatte hierbei eine Gruppe von Steuerpflichtigen, die bereits rechtsbeständig veranlagt waren, ausgenommen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war mithin wesentlich durch die Frage der Gleichbehandlung veranlaßt. Das wurde in der weiteren Judikatur des Bundesverfassungsgerichts nunmehr verallgemeinert. Hierauf stützt sich heute die Mehrheitsmeinung des Senates.
Diese Strategie der Willkürprüfung führt indes zu einer Verringerung rechtsstaatlicher Effizienz. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in aller Regel eine gesetzgeberische Entscheidung, die einen Ausgleich zwischen den Anforderungen nach Gerechtigkeit und Rechtssicherheit sucht, als möglichen Ausdruck des Rechtsstaatsgrundsatzes hinzunehmen. Es ist hierbei jedoch nicht auf eine Willkürprüfung beschränkt. Es hat die von der Mehrheit des Senates für geboten erachtete Abwägung vielmehr selbst vorzunehmen. Seiner Idee nach erlaubt das Rechtsstaatsprinzip nur eine richtige Entscheidung. Das Bundesverfassungsgericht wird hierbei den hohen Wert der Rechtssicherheit für den Rechtsfrieden nicht verkennen. Aber es hat zu bedenken, daß die Rechtssicherheit letztlich der Verwirklichung der materialen Gerechtigkeit zu dienen hat.
Wenn die Mehrheit des Senats meint, der Gesetzgeber habe sich in der Frage der Zurechenbarkeit des Anwaltsverschuldens in Kindschaftssachen von dem Gedanken der Rechtssicherheit leiten lassen, so ist dies nicht zutreffend. Den Beweis bleibt die Mehrheitsmeinung schuldig. Er ist auch nicht zu führen. Der Gesetzgeber des Jahres 1877 stand vor einer gänzlich anderen Fragestellung. Ein Verfahren in Kindschaftssachen gab es nicht (vgl. Civilprozeßordnung vom 30. Januar 1877, RGBl. S. 83 [186 ff.]). § 210 CPO 1879 konnte sich hierauf mithin nicht beziehen. Der Gesetzgeber hat nichts “abgewogen” (vgl. Motive zu dem Entwurf einer Civilprozeß-Ordnung, in Die gesamten Materialien zur Civilprozeßordnung, 1880, hrsg. v. C. Hahn, S. 28, 169, 192, 245 zu § 203, S. 246, 583, 914, 996, 1216). Das “Verfahren in Rechtsstreitigkeiten, welche die Feststellung des Rechtsverhältnisses zwischen Eltern und Kindern zum Gegenstand haben” wurde erst mit dem Gesetz, betreffend Änderungen der Civilprozeßordnung vom 17. Mai 1898, eingeführt (RGBl. S. 256 [286 ff.]). Zu diesem Zeitpunkt waren erstmals reichsgesetzlich die privatrechtlichen Verhältnisse des nichtehelichen Kindes zu seinem Vater “vermögensrechtlich” geordnet worden (vgl. §§ 1708, 1589 Abs. 2 BGB). § 592e CPO 1898 nahm die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens der nichtehelichen Vaterschaft von dem Statusverfahren deshalb ausdrücklich aus. Mit dem Rechtsvereinheitlichungsgesetz vom 12. September 1950 (BGBl. S. 455) wurde die Zivilprozeßordnung unverändert vom Gesetzgeber beschlossen (vgl. BVerfGE 8, 210 [213 f.]). Eine nähere parlamentarische Behandlung fand nicht statt. Bei der Neuregelung des Nichtehelichenrechtes hat der Gesetzgeber die hier zu erörternde Frage überhaupt nicht gesehen. Auch der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Zivilprozeßordnung (sog. Beschleunigungsnovelle), der eine Streichung des § 232 Abs. 2 ZPO vorsieht, befaßt sich in seiner amtlichen Begründung nicht mit der Problematik (BTDrucks. VI/790). Lediglich ein Mitglied der Kommission zur Vorbereitung einer Reform der Zivilgerichtsbarkeit hat 1961 darauf hingewiesen, daß es für das rechtsuchende Publikum besonders unverständlich sei, wenn durch Anwaltsverschulden ein aussichtsreiches Rechtsmittel abgeschnitten werde und der Schaden nicht durch Schadloshaltung durch den Anwalt ausgeglichen werden könne (Bericht der Kommission zur Vorbereitung einer Reform der Zivilgerichtsbarkeit, 1961 S. 237 f.). Dieser Ansicht läßt sich schwerlich etwas entgegenhalten.
4. In der Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 232 Abs. 2 ZPO geht es nicht darum, ob ein bereits rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren einer erneuten richterlichen Entscheidung unterzogen werden soll. Eine ständige Prozeßerneuerung ist mit dem Gebot der Rechtssicherheit im Sinne eines effektiven Rechtsschutzes und einer Streitbefriedung unvereinbar. Es muß zu Lasten der materialen Gerechtigkeit hingenommen werden, daß die Maßgeblichkeit eines richterlichen Erkenntnisses die Möglichkeit des unkorrigierbaren Widerspruchs zu der wahren Rechtslage nicht ausschließt. Vielmehr geht es in der vom Oberlandesgericht Celle gestellten Vorlagefrage allein darum, ein auf Rechtsverwirklichung gerichtetes, kontradiktorisch ausgestaltetes Verfahren zunächst ordnungsgemäß mit den vom Prozeßrecht vorgesehenen Garantien der Wahrheitsfindung und Richtigkeit zu beenden. Die unterlegene Partei wird durch ein von ihr nicht zu verantwortendes Verhalten eines rechtskundigen Dritten gehindert, dieses Ziel zu erreichen.
a) Die Mehrheit des Senates begründet den Vorrang der Rechtssicherheit vor der materialen Gerechtigkeit in vierfacher Weise: Das Interesse der obsiegenden Partei sei schutzwürdig (1). Das Verfahren in Kindschaftssachen biete besondere Gewähr für die Richtigkeit der Sachentscheidung (2). Ein fehlerhaftes Urteil sei nicht irreparabel (3). Auch sonst sorge das Recht in Kindschaftssachen nicht immer dafür, daß Abstammungsverhältnisse zutreffend klargestellt würden (4). Diese vorgetragenen Gründe sind nicht stichhaltig. Sie vermögen insbesondere nicht aufzuweisen, warum gerade in Kindschaftssachen die materiale Gerechtigkeit hintanzustehen hat.
(1) Die Ausgestaltung des Verfahrens in Kindschaftssachen als Statusverfahren zeigt, daß der Gesetzgeber in besonderer Weise um eine richtige Entscheidung bemüht war. Es gilt faktisch die Untersuchungsmaxime (§§ 640 Abs. 1, 617 Abs. 1, 622 Abs. 1, 372a ZPO). Versäumnisurteile gegen den Beklagten sind ausgeschlossen (§§ 640 Abs. 1, 618 Abs. 4 ZPO). Versäumnisurteile gegen den Kläger haben keine Rechtskraftwirkung (§§ 640 Abs. 1, 635 ZPO). Verspätetes Vorbringen kann nur begrenzt zurückgewiesen werden (§§ 640 Abs. 1, 626 ZPO). Das Urteil ergeht inter omnes (§ 640h ZPO).
Diese Ausgestaltung des Verfahrens zeigt das staatliche Interesse an der Richtigkeit der gefundenen Entscheidung. Es besteht ein gesteigertes öffentliches Interesse daran, daß in Kindschaftssachen die materielle Rechtslage zutreffend beurteilt wird. Die hiergegen von der Mehrheit des Senates hervorgehobenen schutzwürdigen Belange der obsiegenden Partei bestehen nicht. Eine in erster Instanz obsiegende Partei muß stets damit rechnen, daß der Richter im Rechtsmittelverfahren zu einem anderen Ergebnis gelangen wird. Gerade weil der Gesetzgeber auch in Kindschaftssachen mit fehlerhaften Urteilen rechnet, eröffnet er der unterlegenen Partei die Möglichkeit der Berufung. Die Mehrheit des Senates schützt daher nicht die richtige, sondern die der einen Partei günstige Entscheidung. Dafür besteht bei einem erstinstanzlichen Erkenntnis kein zureichender Grund. Denn die obsiegende Partei ist auch sonst nicht gegen einen späteren Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geschützt. Daß die Versäumung der Frist gerade auf dem Verschulden des Prozeßbevollmächtigten der unterlegenen Partei beruht, stellt nicht Inhalt des Vertrauens der obsiegenden Partei dar. Der Ausschluß einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird durch die Forderung nach Rechtssicherheit nicht zwingend geboten.
Überzeugend weist das vorlegende Gericht darauf hin, daß die in § 234 Abs. 3 ZPO begründete Ausschlußfrist von einem Jahr ein genügendes und verfassungsrechtlich unbedenkliches Korrektiv darstellt, um den Wunsch der obsiegenden Partei nach Endgültigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung zu schützen. Weitergehende Gründe der Rechtssicherheit bestehen nicht. Gerade mit dem Wiederaufnahmegrund des § 641i ZPO hat der Gesetzgeber gezeigt, daß die Forderung nach materialer Gerechtigkeit Vorrang besitzt.
(2) Ziel des Urteils ist die Verwirklichung materialer Gerechtigkeit durch richtige Rechtsanwendung auf wahre Sachverhalte. Für die Mehrheit des Senats ist dies in der Ausgestaltung des Statusprozesses weitgehend gewährleistet. Damit irrt die Mehrheit in zweifacher Weise.
Das vorlegende Gericht will in drei der vier Vorlagefälle weitere Beweise erheben. Das ergibt sich aus dem von der Mehrheitsmeinung insoweit nicht mitgeteilten Inhalt der Vorlagebeschlüsse. Im Verfahren 2 BvL 5/72 hält das Vorlagegericht eine weitere Aufklärung in tatsächlicher Hinsicht für erforderlich. Im Verfahren 2 BvL 6/72 möchte das Vorlagegericht das Blutgruppengutachten auf den neuesten Stand der Wissenschaften bringen. Im Verfahren 2 BvL 7/72 möchte das Vorlagegericht neben einem Blutgruppengutachten nach dem neuesten Stand der Wissenschaft weiteren Beweis zur Frage des Mehrverkehrs erheben. Nach Ansicht des zuständigen Berufungsgerichts ist die erstinstanzliche Entscheidungsgrundlage in tatsächlicher Hinsicht mithin unsicher, wenn nicht gar falsch. Die von der Mehrheitsmeinung angeführten prozessualen Sicherheiten führen also gerade nicht zu einer klaren Sachverhaltsgrundlage.
Die von der Mehrheitsmeinung erhoffte Verbesserung in der Richtigkeit der Sachentscheidung bezieht sich zudem allein auf die Frage der Beweismittel und der Beweiserhebung. Die Mehrheitsmeinung unterstellt stillschweigend, daß der erstinstanzliche Einzelrichter das Recht auch sachlich richtig erkennt. Dafür bietet das Statusverfahren keine zusätzliche Gewähr. Der Gesetzgeber hat vielmehr die frühere Zuständigkeit des Landgerichts mit drei Berufsrichtern zugunsten des Amtsgerichts geändert (§ 23a Nr. 1 GVG). Er hat aus guten Gründen den Berufungsrechtszug zum Oberlandesgericht belassen (§ 119 Nr. 1, 2 GVG). Eine Zuständigkeit des Amtsgerichts in Statussachen erschien dem Gesetzgeber nur durch die weiterhin eröffnete Berufungsmöglichkeit zum Oberlandesgericht tragbar. Dies verkennt die Mehrheit des Senates. Sie nachvollzieht nicht die vom Gesetzgeber getroffene Bewertung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Eine erhöhte Gewähr für die sachliche Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung besteht somit nicht. Sie vermag deshalb der Verwirklichung der Gerechtigkeit zum Nachteil der unterlegenen Partei nur unvollkommen zu dienen.
(3) Die Unmöglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist dann hinzunehmen, wenn die Partei selbst die Fristversäumnis verschuldet. Die Mehrheitsmeinung tritt dafür ein, die Partei habe für ein Fehlverhalten ihres Anwaltes in Rücksicht auf das bestehende Vollmachtsverhältnis einzustehen. Die Zurechenbarkeit des Anwaltsverschuldens sei auch nicht untragbar. Die von der Mehrheit des Senates hierfür angeführten Gründe treffen nicht zu. Ein Prozeßverschulden des Anwaltes kann in Kindschaftssachen nicht ausgeglichen werden. Der für die unterlegene Partei eingetretene Schaden ist faktisch irreparabel. Die Ansicht der Mehrheit des Senates zwingt die unterlegene Partei hingegen zu zwei weiteren Rechtsstreitigkeiten. In diesen Prozessen sind die Erfolgsaussichten der unterlegenen Partei von vornherein gering.
(a) Die unterlegene Partei muß gegen ihren Anwalt einen Regreßprozeß führen. In diesem Rechtsstreit wird sich der beklagte Anwalt auf die Richtigkeit des erstinstanzlichen Statusurteils berufen. Welche Wirkung insoweit die Rechtskraft dieses Urteils nach § 640h ZPO für den Regreßprozeß besitzt, ist zweifelhaft. In diesem Verfahren stehen der unterlegenen Partei indes keine zusätzlichen Beweismittel zur Verfügung. Der beklagte Anwalt wird sich mit Nichtwissen erklären können (§ 138 Abs. 4 ZPO). § 372a ZPO gilt nicht. Die unterlegene Partei wird – wegen der Verhandlungsmaxime – an der Beweislage scheitern.
(b) Die erweiterte Möglichkeit der Wiederaufnahme nach § 641i ZPO, auf die die Mehrheit des Senats verweist, ist ungeeignet, einen Ausgleich zu bringen. Das Wiederaufnahmeverfahren gilt nur subsidiär. Wiederaufnahmegründe, die eine Partei in dem früheren Verfahren schuldhaft nicht geltend gemacht hat, bleiben ausgeschlossen (§ 582 ZPO). Das gilt auch für den Wiederaufnahmegrund des § 641i ZPO (vgl. Odersky, Nichtehelichengesetz, 3. Aufl. 1973, § 641i ZPO Anm. II 2). § 582 ZPO bezieht sich zudem auf das Verschulden des Prozeßbevollmächtigten (RGZ 84, 142 [145]). Darüber hinaus wird die unterlegene Partei nur sehr schwer in den Besitz eines neuen Gutachtens kommen können. Der unterlegene Teil kann die obsiegende Partei nicht zur Mitwirkung an einem neuen Blutgruppengutachten zwingen. § 372a ZPO, der dies im Statusverfahren ermöglicht, gilt nach herrschender Ansicht für das iudicium rescindens des Wiederaufnahmeverfahrens nicht (vgl. Baumbach-Lauterbach-Albers-Hartmann, ZPO, 31. Aufl. 1973, § 641i Anm. 2; OLG Celle FamRZ 1971 S. 592 [593]).
Man kann nicht sagen, daß diese von der Mehrheitsmeinung gebilligte Verdreifachung der Rechtsstreitigkeiten eine an materialer Gerechtigkeit und Rechtssicherheit sich orientierende ausgleichende Lösung darstellt. In beiden Nachfolgeprozessen sind die Prozeßaussichten der unterlegenen Partei denkbar gering. Ihr sind Schwierigkeiten auferlegt, um zu einem gerechten Ausgleich zu gelangen. Diese Schwierigkeiten stehen mit den aufzuopfernden Interessen der durch erstinstanzliches Urteil obsiegenden Partei in keinem sachgerechten Verhältnis. Das alles ist keine sich an der materialen Gerechtigkeit ausrichtende Abwägung. Der unterlegenen Partei geschieht klares Unrecht, das durch schutzwürdige Interessen ihres Gegners nicht gefordert wird.
(4) Der Hinweis der Mehrheit des Senates, auch sonst könne eine Aufklärung der wahren Rechtslage verhindert werden, verschiebt die Fragestellung des § 232 Abs. 2 ZPO. Wenn das Gesetz dem Einzelnen Gestaltungsrechte einräumt, so will es damit die Rechtsgestaltung gerade dem Einzelnen in freier Entscheidung überlassen. Dafür mag es Gründe geben. In § 232 Abs. 2 ZPO dagegen soll die Partei, die in einem Prozeß um ihr Recht kämpft, für etwas einstehen, das gerade nicht ihrem Willen entspricht. Die Mehrheit des Senats läßt erneut außer Betracht, daß es sich allein um den insoweit legitimierenden Grund für die Ausdehnung der Zurechenbarkeit des Verhaltens eines Dritten handelt.
(5) Die Mehrheit des Senats hat der Rechtsförmlichkeit der Frist einen Eigenwert zuerkannt, der nur mit einem rigor iuris ausgeglichen werden kann. Die Form und die Frist im Recht sind indes im Interesse der Rechtssicherheit ein notwendiges Übel. “Der Zweck im Recht” (Ihering) hat diesen rechtspositivistisch zu verstehenden Rechtsformalismus zu überwinden (vgl. J. Esser, Realität und Ideologie der Rechtssicherheit in positiven Systemen, in Festschrift f. Th. Rittler, 1957 S. 13 [14]). Die Polarität von Form und Inhalt muß deshalb abgewogen werden. Die von der Mehrheit des Senates zugunsten der Rechtssicherheit vorgetragenen Gründe haben sich – wie gezeigt – dabei als nicht begründet erwiesen. Einen Zweifel an dem Vorrang der materialen Gerechtigkeit kann es nicht geben.
a) Das Berufungsverfahren in Kindschaftssachen unterliegt dem Anwaltszwang (§ 78 Abs. 1 ZPO). In zivilprozessualen Streitigkeiten ist dieser Zwang, sich durch einen Dritten vertreten zu lassen, verfassungsgemäß (vgl. BVerfGE 9, 194 [198 f.]; 10, 264 [267]). Die Verfassungsmäßigkeit gründet sich im wesentlichen auf die berufsrechtliche Ausgestaltung der anwaltlichen Tätigkeit. Der Gesetzgeber sieht in dem Rechtsanwalt ein Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO). Er kann mit Recht davon ausgehen, daß es dem Bürger zumutbar ist, seine Sache diesem zur Rechtsvertretung berufenen Berufsstand anzuvertrauen. Der Gesetzgeber mag zudem annehmen, daß die Tätigkeit des Rechtsanwalts auch der zutreffenden Rechts- und der Wahrheitsfindung dienen kann.
Die unterlegene Partei gerät jedoch in eine ausweglose Lage, wenn der von ihr beauftragte Rechtsanwalt einen Fehler begeht, der nicht ausgeglichen werden kann. Sie hat weder Anlaß noch Möglichkeit, die berufliche Tätigkeit des Anwalts zu beaufsichtigen. Anwaltszwang und Unmöglichkeit des Schadensausgleiches machen die Partei damit zum Objekt gesetzlicher Regelung. Das wird durch die Interessen der obsiegenden Partei nicht gefordert.
b) In Kindschaftssachen wird nicht um vermögensrechtliche Ansprüche gestritten. Das Verfahren zielt auf Feststellung eines Abstammungsverhältnisses. Im Kern geht es um die verfahrensrechtliche Durchsetzung der in Art. 6 Abs. 1, 5 GG getroffenen Wertentscheidung. Diese Wertentscheidung ist für alle Bereiche des Rechtes verbindlich (vgl. BVerfGE 6, 55 [72 f.]; 6, 386 [388]; 22, 93 [98]; 28, 104 [112]; 28, 324 [347]). Daran muß sich auch § 232 Abs. 2 ZPO messen lassen.
Rechtssicherheit bedeutet hierbei zweierlei. Sie meint sowohl Sicherung des Rechtes als auch Sicherung der von der Gemeinschaft anerkannten Interessen durch das Recht. Insoweit bedingt die Forderung nach Rechtssicherheit die Sicherung des objektiven Rechtes durch zureichenden Rechtsschutz. Diesen zureichenden Rechtsschutz verhindert § 232 Abs. 2 ZPO. Das ist mit der von der Verfassung in Art. 6 Abs. 1, 5 GG getroffenen Wertentscheidung, die damit zugleich prägender Inhalt der Gerechtigkeit wird, nicht zu vereinbaren.
Seit dem Inkrafttreten des § 232 Abs. 2 ZPO im Jahre 1879 hat eine deutliche Wertverschiebung stattgefunden. Das Bundesverfassungsgericht hat hierauf in zwei Entscheidungen zum Recht des nichtehelichen Kindes mit besonderem Nachdruck hingewiesen (vgl. BVerfGE 8, 210 [214 ff.]; 25, 167 [172 ff.]). Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat in seinem Beschluß vom 23. Oktober 1958 ausgesprochen, daß die “Ungewißheit über die Person des Vaters die leibliche und seelische Entwicklung eines Kindes und seine Stellung in der Gesellschaft beeinträchtigen kann, zumal unsere Rechtsordnung … an die Abstammung vielfältige Rechtsfolgen knüpft” (BVerfGE 8, 210 [215]). In dieser Entscheidung hat sich der Erste Senat des Bundesverfassungsgericht im Anschluß an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes mit der Frage des Zwecks des Statusverfahrens ausführlich befaßt. Art. 6 Abs. 1, 5 GG gehört zu jenem Normenbereich der Verfassung, der die innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltende menschliche Persönlichkeit und ihre Würde in den Mittelpunkt des Wertsystems der Verfassung und des gesamten Rechtes stellt (vgl. BVerfGE 5, 85 [204 f.]; 7, 198 [204 f.]; 21, 362 [369, 372]; 25, 167 [179]). Das kann für die Intensität der geforderten Rechtsverwirklichung nicht ohne Bedeutung bleiben. Demgegenüber sind die Belange der obsiegenden Partei an einer unterbliebenen Nachprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung durch das Rechtsmittelgericht ohne Gewicht.
c) Stellt man mithin das Vertrauen der obsiegenden Partei auf die Maßgeblichkeit der ihr günstigen erstinstanzlichen Entscheidung und das Interesse der unterlegenen Partei an einem objektiv richtigen Erkenntnis gegenüber, so ist nicht erkennbar, warum diese Partei für das irreparable Fehlverhalten eines ihr von der Rechtsordnung “aufgezwungenen” und von ihr nicht kontrollierbaren Prozeßvertreters in einer Frage von hohem verfassungsrechtlichen Rang für alle Zukunft einstehen soll.
Fundstellen