Entscheidungsstichwort (Thema)
Änderung des Verwaltungsakts während des Verfassungsbeschwerdeverfahrens
Leitsatz (redaktionell)
1. Wird der Einkommensteuerbescheid aufgrund einer Gesetzesänderung während des Verfassungsbeschwerdeverfahrens geändert (hier: Anhebung der Kinderfreibeträge gem. § 54 EStG i. d. F. des StÄndG 1991) wird die Verfassungsbeschwerde unzulässig; der Änderungsbescheid kann nicht analog § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens erklärt werden.
2. Zur Auslagenerstattung gem. § 34a Abs. 3 BVerfG, wenn das Verfahren Erfolg gehabt hätte, wäre sie nicht durch eine gesetzliche Neuregelung und den geänderten Einkommensteuerbescheid gegenstandslos geworden.
Normenkette
BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 1, § 34a Abs. 3; EStG § 32 Abs. 8, § 54; FGO § 68
Verfahrensgang
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Die zunächst zulässig gewesene Verfassungsbeschwerde gegen den Einkommensteuerbescheid 1984 vom 29. Juli 1985 und die diesen bestätigenden gerichtlichen Entscheidungen ist unzulässig geworden, weil sich das Verfahren in der Hauptsache erledigt hat. Mit Erlaß des geänderten Einkommensteuerbescheids 1984, mit dem die erhöhten Kinderfreibeträge gemäß § 32 Abs. 8 EStG in der Fassung von § 54 EStG (StÄndG) 1991 vom 24. Juni 1991 (BGBl I 1991 S. 1322) gewährt worden sind, ist die Verfassungsbeschwerde gegenstandslos geworden, die verfassungsrechtliche Beschwer mithin entfallen.
Die Voraussetzungen, unter denen trotz Erledigung des verfolgten Begehrens das Rechtsschutzbedürfnis fortbesteht, liegen nicht vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die entscheidenden Kriterien hierfür zum einen darin gesehen, daß entweder die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung andernfalls unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheint oder eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder die aufgehobene Maßnahme die Beschwerdeführer noch weiterhin beeinträchtigt (BVerfGE 81, 138 ≪140≫). Dafür ist hier nichts ersichtlich. Die Beschwerdeführer fühlen sich zwar durch den neuen Bescheid ebenfalls in ihren Grundrechten verletzt; dieser beruht indessen auf einer anderen gesetzlichen Grundlage und betrifft einen anderen Verfahrensgegenstand. Auch eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme ist infolge der Änderung des Einkommensteuerrechts hinsichtlich der Höhe der Kinderfreibeträge nicht zu besorgen.
Soweit die Verfassungsbeschwerde sich gegen den während des verfassungsgerichtlichen Verfahrens geänderten Einkommensteuerbescheid 1984 vom 6. November 1991 richtet, ist sie unzulässig, weil der Rechtsweg nicht erschöpft ist (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Der in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde erfordert es, daß Verfassungsverstöße zunächst vor den Fachgerichten gerügt werden.
Die Verfassungsbeschwerde ist auch nicht deshalb zulässig, weil die Beschwerdeführer den Änderungsbescheid vom 6. November 1991 durch Antrag vom 12. Mai 1995 zum Gegenstand des Verfahrens gegen den ursprünglich angegriffenen Einkommensteuerbescheid und die diesen bestätigenden Entscheidungen gemacht haben. Ungeachtet dessen, daß die Beschwerdeführer insoweit schon nicht die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG gewahrt haben, kann der Einkommensteuerbescheid 1984 aus dem Jahre 1991 auch nicht gegen den ursprünglich angegriffenen Bescheid im verfassungsgerichtlichen Verfahren ausgetauscht werden. Eine § 68 FGO entsprechende Regelung, wonach ein während des finanzgerichtlichen Verfahrens geänderter oder ersetzter Bescheid auf Antrag zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden kann, sieht das Bundesverfassungsgerichtsgesetz nicht vor. Eine analoge Anwendung der Vorschrift kommt nicht in Betracht.
Während diese Regelung im fachgerichtlichen Verfahren aus prozeßökonomischen Gründen sinnvoll erscheint, kommt im Blick auf den in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde eine analoge Anwendung nicht in Betracht, und zwar auch dann nicht, wenn der geänderte Bescheid – wie hier – allein mit verfassungsrechtlichen Erwägungen gegen dessen gesetzliche Grundlage angegriffen wird. Die Erschöpfung des Rechtsweges soll gewährleisten, daß dem Bundesverfassungsgericht nicht nur die abstrakte Rechtsfrage, sondern auch die Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch ein für die Materie speziell zuständiges Gericht unterbreitet wird (BVerfGE 74, 69 ≪74 f.≫). Daran fehlt es, wenn ein während des Verfassungsbeschwerde- Verfahrens ergangener Bescheid auf Antrag in das laufende Verfahren einbezogen werden könnte. Jedenfalls dann, wenn – wie vorliegend der Fall – der neue Bescheid nach erneuter Prüfung der Verwaltung auf der Grundlage einer neuen gesetzlichen Regelung ergeht, mit der der Gesetzgeber der mit der Verfassungsbeschwerde ursprünglich geltend gemachten verfassungsrechtlichen Beschwer Rechnung tragen wollte und zu der sich noch keine gefestigte fachgerichtliche Rechtsprechung entwickeln konnte, sind zunächst die Fachgerichte zur rechtlichen Prüfung berufen. Da vorliegend selbst das Verwaltungsverfahren noch nicht abgeschlossen ist, ist gegenwärtig zudem nicht geklärt, ob der Einkommensteuerbescheid 1984 vom 6. November 1991 nicht einfachrechtlichen Bedenken unterliegt.
Den Beschwerdeführern waren gemäß § 34 a Abs. 3 BVerfGG ihre notwendigen Auslagen aus Billigkeitsgründen insoweit zu erstatten, als sich die Verfassungsbeschwerde gegen den ursprünglichen Einkommensteuerbescheid 1984 vom 29. Juli 1985 und die diesen stützenden Entscheidungen richtet. Hat der Gesetzgeber das Begehren selbst für berechtigt erachtet oder hat das Bundesverfassungsgericht die maßgeblichen Fragen bereits entschieden und ergibt sich daraus, daß die Verfassungsbeschwerde Erfolg gehabt hätte, ist es billig, den Beschwerdeführern die Erstattung ihrer Auslagen in gleicher Weise zuzubilligen, wie wenn ihrer Verfassungsbeschwerde stattgegeben worden wäre (BVerfGE 85, 109 ≪115≫). Die Verfassungsbeschwerde hätte – wie sich aus den Gründen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juni 1990 (BVerfGE 82, 198) ergibt – Erfolg gehabt, wäre sie nicht durch die gesetzliche Neuregelung und den geänderten Einkommensteuerbescheid 1984 gegenstandslos geworden. Die Beschwerdeführer haben zwar die Hauptsache nicht für erledigt erklärt, diese Verkennung der prozessualen Lage zwingt jedoch nicht dazu, ihnen die Auslagenerstattung zu versagen (BVerfGE 69, 161; 85, 109 ≪116≫).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen