Entscheidungsstichwort (Thema)
Sofort vollziehbare Untersagung durch das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen
Beteiligte
Rechtsanwälte Professor Dr. Rüdiger Zuck und Koll. |
Verfahrensgang
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Tatbestand
I.
1. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine sofort vollziehbare Untersagung des Bundesaufsichtsamts für das Kreditwesen (im Folgenden: Bundesaufsichtsamt), das Einlagengeschäft im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 des Gesetzes über das Kreditwesen in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. September 1998 (BGBl I S. 2776; im Folgenden: Kreditwesengesetz – KWG) zu betreiben, und gegen verwaltungsgerichtliche Entscheidungen, mit denen die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt worden ist (zum Sachverhalt im Einzelnen vgl. BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, NJW-RR 2001, S. 414 f.). Die Beschwerdeführerin, gegen die die Untersagung ergangen ist, rügt die Verletzung von Art. 19 Abs. 4 und Art. 12 Abs. 1 GG durch den Bescheid des Bundesaufsichtsamts in der Fassung des Widerspruchsbescheids und durch die Beschlüsse des Verwaltungs- und des Oberverwaltungsgerichts.
Die Verfassungsbeschwerde richte sich nur gegen die nach § 49 KWG eintretende sofortige Vollziehung der Aufsichtsmaßnahmen nach dem Kreditwesengesetz, die zur Existenzvernichtung der Beschwerdeführerin führe. Verwaltungsgerichtlicher Eilrechtsschutz sei von Verfassungs wegen immer eine Interessenabwägung, die nicht auf eine reine Rechtmäßigkeitsprüfung reduziert werden könne. Die nur summarisch mögliche, nach Aktenlage erfolgende Rechtmäßigkeitsprüfung stelle zwar ein wesentliches Element der Interessenabwägung dar, ersetze aber nicht die Prüfung, ob überhaupt ein besonderes öffentliches Interesse am Sofortvollzug vorliege. Da diese Vorgaben auch für die kraft Gesetzes geltende Anordnung des Sofortvollzugs maßgeblich seien, könne sich ein Gericht nicht ganz oder im Ergebnis allein auf eine „gesetzgeberische Grundentscheidung” stützen, zumal diese selbst nur eine Ausnahme von der Regel des § 80 Abs. 1 VwGO sei.
Dem würden die angegriffenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen nicht gerecht. Sie seien als reine Rechtsentscheidungen ausgestaltet und nähmen die gebotene Interessenabwägung zu den auf § 37 KWG gestützten Maßnahmen im Ausgangsbescheid nicht vor. Der Gesetzgeber habe den Sofortvollzug in § 49 KWG nur für vorsätzliche Verstöße gegen die Erlaubnispflicht anordnen wollen. An einem solchen Verstoß fehle es hier. Deshalb sei das Interesse der Beschwerdeführerin, vom Vollzug vorläufig verschont zu bleiben, rechtlich geschützt. Dieses Interesse überwiege das Interesse am Sofortvollzug. Art. 19 Abs. 4 GG sei auch deshalb verletzt, weil das Oberverwaltungsgericht bei Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts weder über die Beschwerde selbst noch über deren Zulassung, sondern über eine fiktive Berufung entschieden und damit willkürlich die Rechtsschutzformen vertauscht habe. Damit würden der Beschwerdeführerin die mit einem Hauptsacheverfahren verbundenen Vorteile genommen.
Schließlich sei die Berufsfreiheit der Beschwerdeführerin verletzt. Wegen der Eingriffsintensität eines Sofortvollzugs des Bescheids des Bundesaufsichtsamts seien konkrete Gefahren für Dritte erforderlich, hier aber nicht gegeben.
2. Zu der Verfassungsbeschwerde haben das Bundesministerium der Finanzen namens der Bundesregierung, das Bundesaufsichtsamt und das Bundesverwaltungsgericht Stellung genommen.
3. Die Kammer hat den mit der Verfassungsbeschwerde verbundenen Antrag der Beschwerdeführerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 8. November 2000 abgelehnt (vgl. NJW-RR 2001, S. 414).
Entscheidungsgründe
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Voraussetzungen des § 93 a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen.
1. Der Verfassungsbeschwerde kommt grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung nicht zu.
Hinsichtlich der von der Beschwerdeführerin aufgeworfenen Frage, ob aus dem Grundgesetz ein Verbot „willkürlicher Vertauschung der … Rechtsschutzformen durch die Gerichte” folgt, ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt, dass das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG auch für das prozessuale Vorgehen der Gerichte gilt (vgl. BVerfGE 42, 64 ≪72 f.≫). Im Übrigen ist diese Frage aber auch nicht entscheidungserheblich, weil eine „willkürliche Vertauschung der Rechtsschutzformen” im Ausgangsverfahren nicht erfolgt ist.
Das Oberverwaltungsgericht hat über den von der Beschwerdeführerin gestellten Antrag auf Zulassung der Beschwerde (vgl. § 146 Abs. 4-6 VwGO) entschieden und dabei geprüft, ob die geltend gemachten Zulassungsgründe vorlagen. Anderes ergibt sich nicht daraus, dass es sich im Rahmen der Prüfung, ob ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidung bestehen (vgl. § 146 Abs. 4 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), vertieft mit der Frage auseinander gesetzt hat, ob das Anlagemodell der Beschwerdeführerin ein Einlagengeschäft im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 KWG ist. Hierzu bestand schon deshalb ein sachlicher und damit Willkür ausschließender Grund, weil die Beschwerdeführerin die entsprechende Einschätzung des Bundesaufsichtsamts und des Verwaltungsgerichts in ihrem Antrag auf Zulassung der Beschwerde umfangreich angegriffen hatte. Zudem hatte sie erklärt, dass sie durch die angegriffene Verfügung in irreversibler und existenzgefährdender Weise geschädigt werde. Vor diesem Hintergrund handelt es sich bei der vom Oberverwaltungsgericht vorgenommenen intensiveren Prüfung der Rechtmäßigkeit des Ausgangsverwaltungsakts im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der die einschneidenden Folgen eines Eingriffs die Gewährung effektiven Eilrechtsschutzes nicht nur durch eine bloß summarische, sondern auch durch eine unter Umständen schon abschließende Prüfung der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts erfordern können (vgl. BVerfGE 67, 43 ≪62≫; 69, 315 ≪363 f.≫; Schoch, in: Ders./Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand: Januar 2000, § 80 Rn. 263), nicht um eine willkürliche Vertauschung von Rechtsschutzformen. Aus der von der Beschwerdeführerin angeführten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 81, 347) kann Gegenteiliges nicht gefolgert werden.
2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der von der Beschwerdeführerin als verletzt gerügten Verfassungsrechte angezeigt. Denn die Verfassungsbeschwerde hat, auch wenn ihre Zulässigkeit in vollem Umfang unterstellt wird, keine Aussicht auf Erfolg.
a) Für eine Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG ist nichts ersichtlich.
aa) Der in dieser Vorschrift verbürgte umfassende und effektive – nicht nur formale – Rechtsschutz hat gerade in Eilverfahren erhebliche Bedeutung. Die nach § 80 Abs. 1 VwGO für den Regelfall vorgeschriebene aufschiebende Wirkung von Widerspruch und verwaltungsgerichtlicher Klage ist insoweit eine adäquate Ausprägung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie und ein fundamentaler Grundsatz des öffentlichrechtlichen Prozesses. Andererseits gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG die aufschiebende Wirkung der Rechtsbehelfe im Verwaltungsprozess nicht schlechthin. Überwiegende öffentliche Belange können es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten (vgl. BVerfGE 35, 382 ≪401 f.≫; 51, 268 ≪284≫; 65, 1 ≪70 f.≫). Für die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsakts ist daher ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt (vgl. BVerfGE 35, 382 ≪402≫; 38, 52 ≪58≫; 69, 220 ≪228≫). Der Rechtsschutzanspruch des Bürgers ist dabei umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwerwiegender die dem Einzelnen auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahmen der Verwaltung Unabänderliches bewirken. Geltung und Inhalt dieser Leitlinien sind nicht davon abhängig, ob der Sofortvollzug eines Verwaltungsakts einer gesetzlichen (vgl. § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) oder einer behördlichen Anordnung (vgl. § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) entspringt (vgl. BVerfGE 69, 220 ≪228 f.≫).
bb) Nach diesen Grundsätzen kann ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG durch die angegriffenen Entscheidungen nicht festgestellt werden.
(1) Die Rüge, die Verwaltungsgerichte hätten nicht beachtet, dass nach der Entstehungsgeschichte des § 49 KWG die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen gegen Maßnahmen nach § 37 KWG nur hinsichtlich vorsätzlicher Verstöße gegen die Erlaubnispflicht habe beseitigt werden sollen, betrifft die Auslegung und Anwendung der einfachrechtlichen Vorschrift des § 49 KWG, die wie die des § 80 Abs. 5 VwGO in erster Linie Sache der Verwaltungsgerichte ist (vgl. BVerfG, 1. Kammer des Zweiten Senats, InfAuslR 1998, S. 490 ≪491 f.≫). Im Übrigen dürfte die Prämisse, dass die Beschwerdeführerin nicht vorsätzlich gegen die Erlaubnispflicht verstoßen habe, im Hinblick darauf, dass die Beschwerdeführerin nach der nicht bestrittenen Darstellung des Bundesaufsichtsamts selbst dort nachgefragt hat, ob ihre Tätigkeit erlaubnispflichtig sei, und ihr die Erlaubnispflichtigkeit daraufhin bestätigt worden ist, nicht zutreffen.
(2) Auch die Rüge, die Verwaltungsgerichte hätten weder die erforderliche Interessenabwägung vorgenommen noch geprüft, ob ein besonderes öffentliches Interesse am Sofortvollzug bestehe, sondern reine Rechtsentscheidungen getroffen und sich hinter der gesetzgeberischen Grundentscheidung versteckt, zeigt nicht auf, dass der Anspruch der Beschwerdeführerin auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes verletzt worden ist.
Das Verwaltungsgericht hat entgegen der Darstellung der Beschwerdeführerin die notwendige Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug des Bescheids und dem Verschonungsinteresse der Beschwerdeführerin nicht unterlassen. Denn es hat über die Rechtmäßigkeit des Bescheids hinaus auch geprüft, ob die Vollziehung eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte, und das gefundene Abwägungsergebnis insbesondere damit begründet, trotz der von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Existenzgefährdung überwiege das öffentliche Interesse daran, dass unerlaubte Geschäfte, bei denen eine Gefährdung des Vermögens der Anleger zumindest nicht ausgeschlossen werden könne, nicht weiter betrieben, sondern so schnell wie möglich abgewickelt würden.
Das Verwaltungsgericht hat der gesetzlichen Anordnung des Sofortvollzugs in § 49 KWG auch keine eigenständige Bedeutung zugemessen. Zwar hat es darauf hingewiesen, dass nach der Grundentscheidung des Gesetzgebers generell ein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids bestehe. Es hat aber, wie gerade dargestellt, gleichwohl eine eigene Abwägung der zu berücksichtigenden Interessen vorgenommen, deren Ergebnis unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Auslegung und Anwendung des § 80 Abs. 5 VwGO in erster Linie den Verwaltungsgerichten obliegt, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist.
Das Oberverwaltungsgericht hat dementsprechend zu Recht ausgeführt, dass die Rüge, das Verwaltungsgericht habe keine Interessenabwägung vorgenommen, fehl gehe. Soweit es zugleich darauf hingewiesen hat, das Verwaltungsgericht habe sich „von der gesetzgeberischen Grundentscheidung leiten lassen, dass Widerspruch und Anfechtungsklagen gegen Maßnahmen nach § 37 KWG keine aufschiebende Wirkung haben”, kommt dem daneben keine eigenständige, allein tragende Bedeutung zu. Denn das Oberverwaltungsgericht hat daneben auch die der Interessenabwägung des Verwaltungsgerichts zugrunde liegenden Erwägungen, dass sich die Beschwerdeführerin nicht auf Vertrauensschutz berufen könne und weder das Interesse der Anleger noch die geltend gemachte Existenzgefährdung der Beschwerdeführerin einem überwiegenden öffentlichen Interesse am Sofortvollzug entgegenstehe, gewürdigt und sie ausdrücklich gebilligt.
(3) Aus den Ausführungen unter II 1 ergibt sich schließlich auch, dass Art. 19 Abs. 4 GG nicht deshalb verletzt ist, weil die Verwaltungsgerichte eine „willkürliche Vertauschung der Rechtsschutzformen” vorgenommen hätten.
b) Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen auch nicht gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG; von einer Begründung wird insoweit gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Jaeger, Hömig, Bryde
Fundstellen
Haufe-Index 585080 |
NJW-RR 2001, 1268 |
ZBB 2001, 378 |
www.judicialis.de 2001 |