Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zulässigkeit des sogenannten „allgemeinpolitischen Mandats” der Studierendenschaften an den Universitäten und Fachhochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen.
I.
1. An den Universitäten und Fachhochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen (im folgenden gemeinsam: „Hochschulen”) bilden die Studentinnen und Studenten die Studierendenschaft, welche eine rechtsfähige Gliedkörperschaft der Hochschule ist (§ 71 Abs. 1 des Gesetzes über die Universitäten des Landes Nordrhein-Westfalen – Universitätsgesetz – UG). Die Mitgliedschaft in der Studierendenschaft geht für die Studentinnen und Studenten zwangsweise mit der Zugehörigkeit zur Hochschule einher.
Die Studierendenschaft verwaltet ihre Angelegenheiten selbst. Ihre Aufgaben sind in § 71 Abs. 2 UG beschrieben. In Reaktion auf verschiedene Rechtsstreitigkeiten in Nordrhein-Westfalen, bei denen die Zulässigkeit der Wahrnehmung eines allgemeinpolitischen Mandats durch Studierendenschaften in Streit stand (vgl. nur Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, DVBl 1995, S. 433), änderte der Gesetzgeber des Landes Nordrhein-Westfalen durch Art. I Nr. 2 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Universitäten des Landes Nordrhein-Westfalen (Universitätsgesetz – UG) und des Gesetzes über die Fachhochschulen im Lande Nordrhein-Westfalen (Fachhochschulgesetz – FHG) vom 1. Juli 1997 (GV. NW, S. 213) § 71 Abs. 2 und 3 UG. Die Vorschriften lauten seitdem:
(2) Die Studierendenschaft verwaltet ihre Angelegenheiten selbst. Sie hat unbeschadet der Zuständigkeit der Hochschule und des Studentenwerks die folgenden Aufgaben:
- die Belange ihrer Mitglieder in Hochschule und Gesellschaft wahrzunehmen;
- die Interessen ihrer Mitglieder im Rahmen dieses Gesetzes zu vertreten;
- an der Erfüllung der Aufgaben der Hochschulen (§ 3), insbesondere durch Stellungnahmen zu hochschul- oder wissenschaftspolitischen Fragen, mitzuwirken;
- auf der Grundlage der verfassungsmäßigen Ordnung die politische Bildung, das staatsbürgerliche Verantwortungsbewußtsein und die Bereitschaft zur aktiven Toleranz ihrer Mitglieder zu fördern;
- fachliche, wirtschaftliche und soziale Belange ihrer Mitglieder wahrzunehmen;
- kulturelle Belange ihrer Mitglieder wahrzunehmen;
- den Studentensport zu fördern;
- überörtliche und internationale Studentenbeziehungen zu pflegen.
Die Studierendenschaft und ihre Organe können für die genannten Aufgaben Medien aller Art nutzen und in diesen Medien auch die Diskussion und Veröffentlichung zu allgemeinen gesellschaftspolitischen Fragen ermöglichen. Diskussionen und Veröffentlichungen im Sinne des Satzes 3 sind von Verlautbarungen der Studierendenschaft und ihrer Organe deutlich abzugrenzen. Die Verfasserin oder der Verfasser ist zu jedem Beitrag zu benennen; presserechtliche Verantwortlichkeiten bleiben unberührt.
(3) Die studentischen Vereinigungen an der Hochschule tragen zur politischen Willensbildung bei.
Das Änderungsgesetz trat am 22. Juli 1997 in Kraft.
2. Der Beschwerdeführer ist Student der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Mit seiner am 22. Juli 1998 eingegangenen Verfassungsbeschwerde wendet er sich mit der Rüge einer Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 GG unmittelbar gegen die Vorschriften des § 71 Abs. 2 UG neuer Fassung. Der Gesetzgeber habe den Studierendenschaften, insbesondere durch die Einführung der Bestimmungen des § 71 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1, 3, 4 und Sätze 3 und 4 UG, die Befugnis zur Wahrnehmung eines allgemeinpolitischen Mandats verliehen. Die Wahrnehmung eines allgemeinpolitischen Mandats gehe über den legitimierenden Verbandszweck der Studierendenschaft als öffentlichrechtlicher Zwangskörperschaft hinaus. Im Ergebnis stellten sich die Regelungen als unverhältnismäßiger Eingriff in sein Grundrecht auf negative Vereinigungsfreiheit dar. Außerdem verstoße es gegen das grundgesetzliche Demokratieprinzip, daß den Studierendenschaften eine Kompetenz zur Mitwirkung an der politischen Willensbildung eingeräumt worden sei.
Ausführungen zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das angegriffene Gesetz enthält die Verfassungsbeschwerde nicht.
Entscheidungsgründe
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die Annahmevoraussetzungen des § 93 a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor, weil die Verfassungsbeschwerde keine Erfolgsaussicht hat (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪25 f.≫). Die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen § 71 Abs. 2 UG ist unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde unzulässig.
1. Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz kann nur erheben, wer durch die angegriffene Vorschrift selbst, gegenwärtig und unmittelbar in seinen Grundrechten betroffen ist (vgl. BVerfGE 1, 97 ≪101≫; 90, 128 ≪135≫; stRspr). Der Beschwerdeführer ist als Student der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Zwangsmitglied der Studierendenschaft dieser Hochschule und damit von der Änderung der gesetzlichen Aufgabenbeschreibung von Studierendenschaften selbst und gegenwärtig betroffen. Er ist durch die angegriffenen Regelungen auch unmittelbar betroffen. Unmittelbarkeit bedeutet, daß das Gesetz ohne einen weiteren vermittelnden Akt, insbesondere ohne besonderen Vollzugsakt der Verwaltung, in den Rechtskreis des Beschwerdeführers einwirkt (vgl. BVerfGE 90, 128 ≪135 f.≫). § 71 Abs. 2 UG verleiht den Studierendenschaften an den Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen aus sich heraus einen Rechtstitel zur Wahrnehmung bestimmter Aufgaben. Weiterer Rechtsakte bedarf es nicht mehr, bevor die Studierendenschaften ihren (seit der Gesetzesänderung erweiterten) Aufgaben nachgehen können.
2. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann eine unmittelbar gegen ein Gesetz gerichtete Verfassungsbeschwerde jedoch trotz einer eigenen, gegenwärtigen und unmittelbaren Beschwer des Beschwerdeführers unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde unzulässig sein (vgl. BVerfGE 69, 122 ≪125 f.≫; 74, 69 ≪74 f.≫).
a) Der Grundsatz der Subsidiarität gebietet, daß ein Beschwerdeführer vor einer Anrufung des Bundesverfassungsgerichts alle ihm zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten vor den Fachgerichten ausschöpft, um es erst gar nicht zu dem Verfassungsverstoß kommen zu lassen oder eine bereits eingetretene Grundrechtsverletzung zu beseitigen. Der Grundsatz soll gewährleisten, daß das Bundesverfassungsgericht keine weitreichenden Entscheidungen auf einer ungesicherten Tatsachen- und Rechtsgrundlage trifft und erst dann über die Verfassungsmäßigkeit einer Norm entscheidet, wenn anhand eines konkreten Falls feststeht, ob und in welchem Ausmaß ein Beschwerdeführer durch die beanstandete Regelung in seinen Rechten betroffen ist (vgl. BVerfGE 79, 1 ≪20≫). Dies gilt insbesondere, aber nicht nur, dann, wenn das Gesetz einen Auslegungs- oder Entscheidungsspielraum offenläßt (vgl. BVerfGE 74, 69 ≪75≫).
Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht von diesen Grundsätzen in entsprechender Anwendung des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG dann eine Ausnahme gemacht, wenn eine Verfassungsbeschwerde von allgemeiner Bedeutung ist oder wenn dem Beschwerdeführer durch die Verweisung auf den Rechtsweg ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde (vgl. BVerfGE 84, 90 ≪116≫). Außerdem hat das Bundesverfassungsgericht stets betont, die Verpflichtung, vor einer Anrufung des Bundesverfassungsgerichts Rechtsschutz vor den Fachgerichten zu suchen, bestehe nur im Rahmen des Zumutbaren (vgl. BVerfGE 71, 305 ≪336≫; 85, 80 ≪86≫). Unzumutbar ist die Verweisung auf den fachgerichtlichen Rechtsschutz insbesondere dann, wenn das Gesetz schon mit seinem Inkrafttreten den Normadressaten zu später nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen zwingt oder zu Dispositionen veranlaßt, die später kaum noch rückgängig gemacht werden können (vgl. BVerfGE 79, 1 ≪20≫; 90, 128 ≪136≫). Ist dies nicht der Fall, bedarf es einer Abwägung, die die Vorteile des Beschwerdeführers aus einem sogleich eröffneten verfassungsrechtlichen Rechtsschutz den dabei für die Allgemeinheit oder für Dritte entstehenden Nachteilen gegenüberstellt und die widerstreitenden Gesichtspunkte sodann gegeneinander abwägt (vgl. BVerfGE 71, 305 ≪336≫). Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde Ausdruck einer sachgerechten Aufgabenverteilung zwischen Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten ist (vgl. BVerfGE 74, 69 ≪75≫).
b) Gemessen an diesen Maßstäben steht der Grundsatz der Subsidiarität der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde entgegen.
Das angegriffene Gesetz veranlaßt den Beschwerdeführer nicht zu unwiderruflichen Entscheidungen oder Dispositionen. Von daher ist es nicht zwingend geboten, den verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz unmittelbar zu eröffnen. Auch der Rechtsgedanke des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG gebietet nicht, die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen. Zwar betreffen die angegriffenen Bestimmungen nicht nur den Beschwerdeführer, sondern alle studierenden Hochschulangehörigen in Nordrhein-Westfalen. Allein deshalb hat die Verfassungsbeschwerde aber noch keine allgemeine Bedeutung. Es steht nämlich noch überhaupt nicht fest, ob und gegebenenfalls welche Relevanz die Änderung des § 71 Abs. 2 UG für die Arbeit der Organe der Studierendenschaften haben wird. Ebensowenig droht dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil, wenn das Bundesverfassungsgericht sich zunächst nicht mit den durch die Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Rechtsfragen befaßt. Die Zurechnung einer Handlung oder Äußerung eines Organs der Studierendenschaft zu dem einzelnen Studenten ist, selbst wenn sie ein „allgemeinpolitisches” Thema betrifft, in aller Regel so gering, daß jedenfalls von einem schweren Nachteil nicht gesprochen werden kann.
Erforderlich ist deshalb eine Abwägung der Gesichtspunkte, die für bzw. gegen die unmittelbare Eröffnung verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes streiten. Diese Abwägung fällt hier gegen eine Annahme der Verfassungsbeschwerde aus. Zwar sind die Verwaltungsgerichte immer wieder mit der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Wahrnehmung eines „allgemeinpolitischen Mandats” durch Organe von Studierendenschaften befaßt. Das Bundesverfassungsgericht hat sich aber mit der Problematik bisher noch nicht ausführlich auseinandergesetzt (vgl. allerdings den Beschluß der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Februar 1992 – 2 BvR 321/89 –, unveröffentlicht, dokumentiert in: Juris). Das könnte dafür sprechen, durch eine bundesverfassungsgerichtliche Entscheidung für Rechtssicherheit zu sorgen. Ferner fällt für eine Annahme der Verfassungsbeschwerde ins Gewicht, daß es fraglich sein mag, ob die Fachgerichte dem Beschwerdeführer tatsächlich in angemessener Zeit, also noch während seiner Hochschulzugehörigkeit, Rechtsschutz vermitteln können. Ausgeschlossen ist dies allerdings nicht, zumal dem Beschwerdeführer offensteht, ein Unterlassungsbegehren im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu verfolgen.
Gegen eine Annahme der Verfassungsbeschwerde sprechen aber vor allem folgende Erwägungen: Erstens steht es derzeit nicht fest, ob sich die mit dem angegriffenen Gesetz aus der Sicht des Beschwerdeführers verbundene Grundrechtsbeeinträchtigung überhaupt durch die Inanspruchnahme eines „allgemeinpolitischen Mandats” durch die Studierendenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster realisiert. Ist dies nicht der Fall, tritt eine grundrechtliche Beschwer für den Beschwerdeführer nicht ein.
Zweitens sind die vom Beschwerdeführer vornehmlich angegriffenen Regelungen des § 71 Abs. 2 UG keineswegs eindeutig, sondern auslegungsbedürftig. Dem Wortlaut der Vorschriften ist nicht ohne weiteres zu entnehmen, daß und gegebenenfalls mit welchen Alternativen des § 71 Abs. 2 UG den Studierendenschaften an den Hochschulen in Nordrhein-Westfalen ein „allgemeinpolitisches Mandat” verliehen ist. Auslegung und Anwendung des „einfachen” Rechts obliegen grundsätzlich den sachnäheren Fachgerichten. Im übrigen ist es im vorliegenden Fall nicht ausgeschlossen, daß die Verwaltungsgerichte die angegriffenen Bestimmungen verfassungskonform dergestalt auslegen, daß sowohl eine Grundrechtsverletzung des Beschwerdeführers als auch eine Anrufung des Bundesverfassungsgerichts vermieden wird. Abgesehen davon bedarf auch § 41 Abs. 1 HRG, zu dessen Regelung der neu gefaßte § 71 Abs. 2 UG jedenfalls nach Auffassung des Beschwerdeführers in Widerspruch steht, der Auslegung, welche ebenfalls zunächst den Fachgerichten obliegt.
Drittens ist zu berücksichtigen, daß es der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungsfindung dient, wenn ihm nicht nur die abstrakte Rechtsfrage, sondern auch die Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch ein für die Materie speziell zuständiges Gericht unterbreitet wird. Das gilt gerade im vorliegenden Fall: Die Abgrenzung von „hochschulpolitischen” und „allgemeinpolitischen” Aktivitäten von Studierendenschaften ist vielfach schwierig, wie nicht zuletzt das Gesetzgebungsverfahren, welches zur Änderung des § 71 Abs. 2 UG führte, gezeigt hat (vgl. nur das Protokoll der 50. Sitzung des Ausschusses für Wissenschaft und Forschung des Landtags Nordrhein-Westfalen vom 24. März 1995 – Ausschußprotokoll 11/1593 –, S. 14, 16). Das spricht dagegen, daß das Bundesverfassungsgericht unabhängig von einem konkreten Fall und ohne Bezug auf ein fachgerichtlich aufgearbeitetes Tatsachenmaterial über die Verfassungskonformität einer Norm befindet, bei der es wesentlich auf gerade diese Abgrenzung von hochschul- und allgemeinpolitischen Aktivitäten ankommt.
Schließlich ist der Beschwerdeführer durch die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde nicht rechtsschutzlos gestellt. Er kann eine inzidente Prüfung der angegriffenen Vorschriften erreichen, wenn er sich – notfalls in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren – mit der Unterlassungsklage gegen Äußerungen oder Handlungen allgemeinpolitischer Art seiner Studierendenschaft zur Wehr setzt.
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Grimm, Hömig
Fundstellen