Verfahrensgang

Bayerischer AGH (Beschluss vom 04.07.1995; Aktenzeichen I-11/94)

OLG Nürnberg (Gerichtsbescheid vom 17.10.1994; Aktenzeichen D I § 42)

 

Tenor

Der Bescheid der Rechtsanwaltskammer für den Bezirk des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 17. Oktober 1994 – D I § 42 – und der Beschluß des Bayerischen Anwaltsgerichtshofs vom 4. Juli 1995 – BayAGH I-11/94 – verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluß des Bayerischen Anwaltsgerichtshofs wird aufgehoben und das Verfahren zur erneuten Entscheidung an den Bayerischen Anwaltsgerichtshof zurückverwiesen.

Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Tatbestand

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Berechtigung einer Rechtsanwältin zur Führung des Titels “Fachanwältin für Arbeitsrecht”.

  • Die Beschwerdeführerin ist Rechtsanwältin im Landgerichtsbezirk Weiden/Oberpfalz. Vor ihrer Zulassung zur Anwaltschaft im Mai 1992 war sie rund 1 ½ Jahre beim Landesverband des Bayerischen Einzelhandels e.V. als Juristin beschäftigt. In dieser Eigenschaft beriet und vertrat sie die Mitglieder in arbeitsrechtlichen Fragen und trat vor Arbeitsgerichten auf. Auf ihren im Juni 1994 unter Beifügung von Unterlagen gestellten Antrag, ihr die Befugnis zum Führen des Titels “Fachanwältin für Arbeitsrecht” zu verleihen, kündigte der Fachgebietsausschuß der Rechtsanwaltskammer für den Oberlandesgerichtsbezirk Nürnberg an, sie zum Fachgespräch gemäß § 10 des Gesetzes über Fachanwaltsbezeichnungen nach der Bundesrechtsanwaltsordnung – RAFachBezG – vom 27. Februar 1992 (BGBl I S. 369) zu laden. Die von ihr eingereichten Unterlagen erlaubten es nicht, die gemäß § 9 RAFachBezG erforderlichen besonderen praktischen Kenntnisse auf dem Gebiet des kollektiven Arbeitsrecht zu bejahen. Nachdem die Beschwerdeführerin die Teilnahme am Fachgespräch verweigert hatte, lehnte die Anwaltskammer den Antrag mit Bescheid vom 17. Oktober 1994 ab. Der Bayerische Anwaltsgerichtshof, dem eine umfängliche Liste der von der Beschwerdeführerin bearbeiteten Verfahren – einige davon zum kollektiven Arbeitsrecht – vorlag, hat den Antrag der Beschwerdeführerin auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 223 der Bundesrechtsanwaltsordnung – BRAO – durch Beschluß vom 4. Juli 1995 zurückgewiesen. Zur Begründung heißt es im wesentlichen:

    Die Ladung zum Fachgespräch begegne keinen Bedenken. Die Feststellung der Rechtsanwaltskammer, daß die Beschwerdeführerin den erforderlichen Nachweis besonderer Erfahrung im kollektiven Arbeitsrecht nicht erbracht habe, unterliegt nur einer beschränkten richterlichen Nachprüfbarkeit und sei nicht zu beanstanden. Die Beschwerdeführerin habe nur auf ein arbeitsgerichtliches Beschlußverfahren im kollektiven Arbeitsrecht und allgemein auf ihre Tätigkeit als Verbandsjuristin verwiesen. Die auf § 43c Abs. 2 und 3 BRAO zurückgehende Besetzung des Fachgebietsausschusses mit drei Fachanwälten für Arbeitsrecht aus dem Oberlandesgerichtsbezirk Nürnberg sei unbedenklich. Allein die Zugehörigkeit zum selben Gerichtsbezirk könne eine Befangenheitsvermutung nicht auslösen.

  • Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung ihrer Grundrechte insbesondere aus Art. 12 Abs. 1 GG durch diese Entscheidungen. Sie habe durch Unterlagen auch die erforderlichen Erfahrungen im kollektiven Arbeitsrecht nachgewiesen. Zu Unrecht habe der Bayerische Anwaltsgerichtshof dies für nur eingeschränkt überprüfbar gehalten. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs könne bereits ein einziges Beschlußverfahren im Bereich des kollektiven Arbeitsrechts für den erforderlichen Nachweis ausreichen. Sie habe darüber hinaus entsprechende Erfahrungen aus ihrer Zeit als Verbandsvertreterin belegt. Die Ladung zum Fachgespräch sei deshalb rechtswidrig gewesen. Die Besetzung des Fachprüfungsausschusses ausschließlich mit Fachanwaltskollegen aus demselben Kammerbezirk sei mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar. Ausschußmitglieder und Bewerber stünden in einem Konkurrenzverhältnis. Die bereits als Fachanwälte anerkannten Rechtsanwälte hätten naturgemäß ein Interesse daran, die Zahl weiterer Fachanwälte gering zu halten, so daß ein faires Verfahren nicht gewährleistet sei.
  • Zu der Verfassungsbeschwerde haben das Bayerische Staatsministerium der Justiz, die Bundesrechtsanwaltskammer, die Rechtsanwaltskammer Nürnberg und der Deutsche Anwaltverein Stellung genommen. Sie halten die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Das Bundesministerium der Justiz hat sich zu den zugrunde liegenden Rechtsfragen geäußert.
 

Entscheidungsgründe

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Die Kammer nimmt sie zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin aus Art. 12 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Insoweit liegen die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG vor. Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

  • Sieht das Gesetz die staatliche Anerkennung einer beruflichen Qualifikation vor, mit der Vorteile im beruflichen Wettbewerb verbunden sind, so wirkt sich die Verweigerung dieser Anerkennung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Eingriff in die Berufsfreiheit aus (BVerfGE 86, 28 ≪37≫). Dies gilt auch, wenn das zusätzliche berufliche Qualitätsmerkmal nicht Art und Umfang der beruflichen Betätigung reglementiert, sondern den Wettbewerb zwischen den Berufsangehörigen und damit deren berufliche Entfaltungsmöglichkeiten beeinflußt (BVerfG, a.a.O. unter Hinweis auf BVerfGE 82, 209 ≪223 f.≫).

    Das Gesetz über Fachanwaltsbezeichnungen enthält danach eine an Art. 12 Abs. 1 GG zu messende Regelung der Berufsausübung. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind solche Regelungen mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar, wenn ihnen eine schutzwürdige Erwägung des Gemeinwohls zugrunde liegt, sie nach Art und Ausmaß geeignet und erforderlich sind, den vom Gesetzgeber verfolgten Zweck zu erreichen, und eine Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn tragenden Gründe ergibt, daß die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt ist (BVerfGE 7, 377 ≪405≫; 30, 292 ≪319≫; 47, 285 ≪321≫; 65, 116 ≪125≫; 77, 308 ≪332≫; 85, 248 ≪259≫). Darüber hinaus folgen aus Art. 12 Abs. 1 GG Anforderungen an solche Prüfungsverfahren, die Berufswahl oder -ausübung Schranken setzen. Diese müssen so ausgestaltet sein, daß der Bedeutung des Verfahrens für den Grundrechtsschutz Rechnung getragen wird (BVerfGE 52, 380 ≪389≫; 84, 34 ≪45≫). Es gehört zum Kern grundrechtlicher Verfahrensgarantien, daß die betroffenen Bürger rechtzeitig über den Verfahrensstand informiert werden und die Möglichkeit haben, Einwände wirksam vorzubringen (BVerfGE 84, 59 ≪72≫).

    Soweit die Beschwerdeführerin auch das Gesetz über Fachanwaltsbezeichnungen angreift, bestehen danach verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Regelungen nicht. Es dient dem Schutz des rechtsuchenden Publikums; dies ist ein tragender Gemeinwohlbelang. Die Regelung des § 9 Abs. 1c RAFachBezG, aus allen Bereichen des § 5 RAFachBezG eine Mindestzahl bearbeiteter Fälle zu verlangen, ist geeignet und erforderlich, um sicherzustellen, daß bei den Fachanwälten tatsächlich besondere Fachkompetenz vorhanden ist. Unter Berücksichtigung von § 9 Abs. 2 und § 10 RAFachBezG sind die Voraussetzungen zum Erwerb der Fachanwaltsqualifikation auch verhältnismäßig. Zwar bestehen gerade in wenig industrialisierten Gebieten und für Einzelanwälte nicht unerhebliche Schwierigkeiten, Mandate aus dem Bereich des kollektiven Arbeitsrechts zu bekommen. Indessen eröffnet die Möglichkeit, zunächst durch eine andere fachgebietsbezogene Tätigkeit die erforderlichen Anwaltserfahrungen im kollektiven Arbeitsrecht zu ersetzen (§ 9 Abs. 2 RAFachBezG) oder über das Fachgespräch nach § 10 RAFachBezG solche Kenntnisse nachzuweisen, den Bewerbern zumutbare Alternativen zum Erwerb der Fachanwaltsqualifikation.

  • Das Grundrecht der Beschwerdeführerin aus Art. 12 Abs. 1 GG wird jedoch durch Auslegung und Anwendung des § 9 RAFachBezG durch die Rechtsanwaltskammer und den Bayerischen Anwaltsgerichtshof verletzt. Nach den Grundsätzen der verfassungsgerichtlichen Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen ist die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts Sache der Fachgerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht weitgehend entzogen (BVerfGE 18, 85 ≪92 f.≫; 85, 248 ≪257 f.≫). Die angegriffenen Entscheidungen lassen jedoch Auslegungsfehler erkennen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und dem Schutzbereich der Berufsfreiheit beruhen.

    a) Unter Berücksichtigung der verfahrensrechtlichen Auswirkungen des Art. 12 Abs. 1 GG hätte schon der Fachprüfungsausschuß der Beschwerdeführerin mitteilen müssen, warum er hinreichende Erfahrungen im kollektiven Arbeitsrecht trotz der von ihr insoweit nachgewiesenen Verfahren, von denen auch die Stellungnahmen ausgehen, verneint und welchen Maßstab er zur Bejahung ausreichender Erfahrung anlegt. Aus dem Bescheid der Rechtsanwaltskammer Nürnberg ergibt sich nicht, daß der Ausschuß die nach § 9 Abs. 2 RAFachBezG zu berücksichtigende Tätigkeit beim Einzelhandelsverband in ihren Einzelheiten zur Kenntnis genommen und mit dem im Lichte des Grundrechts erforderlichen großzügigen Maßstab bewertet hat. Mangels eines erkennbaren Maßstabs – der Bescheid belegt die “Zweifel an überdurchschnittlichen Kenntnissen” nicht mit Zahlen – war der Beschwerdeführerin die Möglichkeit verwehrt, ihren Standpunkt zur Durchsetzung des Grundrechts zu vertreten.

    b) Die Entscheidung des Bayerischen Anwaltsgerichtshofs wird den Anforderungen effektiven Rechtsschutzes aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG nicht gerecht. Dabei bedarf es hier keiner Entscheidung darüber, ob die Ladung zum Fachgespräch richterlich voll überprüfbar ist (vgl. hierzu: BGH, AnwBl 1997, S. 223 f.). Ausgehend von der Rechtsauffassung im angegriffenen Beschluß, wonach der Bescheid nur eingeschränkt nachprüfbar ist, hätte der Anwaltsgerichtshof jedenfalls seine gerichtliche Kontrolle darauf erstrecken müssen, ob die Rechtsanwaltskammer den zugrunde liegenden Sachverhalt unzutreffend ermittelt, allgemein gültige Bewertungsmaßstäbe verletzt oder sachfremde Gesichtspunkte zugrunde gelegt hat. Dies hätte vorausgesetzt, daß der Rechtsanwaltskammer aufgegeben worden wäre, ihre Maßstäbe offenzulegen. Dadurch, daß der Anwaltsgerichtshof dies nicht nur unterlassen, sondern – trotz der ihm vorliegenden Liste einzelner Verfahren – den Antrag der Beschwerdeführerin mit der Begründung abgewiesen hat, sie habe nur “allgemein” auf ihre Tätigkeit als Verbandsvertreterin verwiesen, hat auch er das Grundrecht der Beschwerdeführerin aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt. Seine Entscheidung war daher aufzuheben.

  • Im übrigen ist die Verfassungsbeschwerde unbegründet. Insbesondere ist die Besetzung des Fachprüfungsausschusses verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

    Zwar sind die Rechtsanwaltskammern angesichts der Bedeutung des Anerkennungsverfahrens gehalten, unter Berücksichtigung der objektiven Wertentscheidung des Art. 12 Abs. 1 GG in der Verfahrensgestaltung auf die Gefahr einer Konkurrenzsituation zwischen Prüfer und Geprüftem Rücksicht zu nehmen. Werden die Prüfungsausschüsse von Fachanwälten gebildet, die in räumlicher Nähe zum Bewerber praktizieren, läßt sich die Besorgnis nicht völlig ausschließen, daß aus prüfungsfremden Motiven besonders strenge Anforderungen gestellt werden. Dem kann jedoch – wie auch aus den eingereichten Stellungnahmen hervorgeht – unter anderem dadurch Rechnung getragen werden, daß auf hinreichende Entfernung zwischen dem Kanzleisitz des Prüfers und des Prüflings geachtet wird, so daß eine signifikante Überschneidung des Einzugsbereiches nicht zu befürchten ist. Allein die Zugehörigkeit zur Fachanwaltschaft im selben Gerichtsbezirk birgt angesichts der räumlichen Ausdehnung des Oberlandesgerichtsbezirks Nürnberg hier keine beachtliche Gefahr der Voreingenommenheit der Prüfer. Insoweit fehlte es dem

    Vortrag der Beschwerdeführerin schon im Verfahren vor dem Anwaltsgerichtshof an Substanz.

  • Die Kostenentscheidung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
 

Unterschriften

Steiner, Jaeger, Kühling

 

Fundstellen

Haufe-Index 1276170

NJW-RR 1998, 1001

FA 1998, 253

NZA 1998, 417

ArbuR 1998, 252

MDR 1998, 499

Anwaltsreport 1998, 5

BRAK-Mitt. 1998, 145

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