Verfahrensgang
OLG Düsseldorf (Beschluss vom 30.12.1996; Aktenzeichen 5 Ss 382/96 -109/96 I) |
AG Krefeld (Urteil vom 26.08.1996; Aktenzeichen 21 Cs 8 Js 937/95–21–14/96) |
Tenor
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 30. Dezember 1996 – 5 Ss 382/96–109/96 I – und das Urteil des Amtsgerichts Krefeld vom 26. August 1996 – 21 Cs 8 Js 937/95– 21– 14/96 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Das Verfahren wird an das Amtsgericht zurückverwiesen.
- Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Volksverhetzung.
I.
1. Der Beschwerdeführer verfasste im Sommer 1995 ein Flugblatt mit der Überschrift “Benehmen sich so Gäste?”. In dem Flugblatt schilderte er Einzelheiten einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen einer deutschen und einer türkischen Familie in einem Mehrfamilienhaus in Krefeld. In den Überschriften zu den einzelnen Absätzen dieser Darstellung hieß es unter anderem “Terror von Türken an Deutschen”, “Ethnische Säuberung an Deutschen in Deutschland?”, “Türkisches Rollkommando mit Taxis zum Einsatz” sowie “Darf die Polizei nicht helfen?”. Im letzten Abschnitt des Flugblattes rief er dazu auf, sich eine Meinung zu dem Geschehen zu bilden und sie ihm mitzuteilen.
2. Durch Urteil des Amtsgerichts vom 26. August 1996 wurde der Beschwerdeführer wegen Volksverhetzung in zwei Fällen gemäß § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB zu einer Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 80 DM verurteilt. Zur Begründung führte das Amtsgericht aus: Das vom Beschwerdeführer hergestellte und in mindestens zwei Fällen auch vertriebene Flugblatt sei geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören sowie zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufzustacheln. Die jeweiligen Überschriften sowie die Aufmachung des Flugblattes würden diesen Zweck belegen. Die Schwelle der Strafbarkeit sei erreicht, weil mit Hilfe der reißerischen Darstellung der geschilderten Vorfälle das Gefühl der Feindseligkeit gegenüber den Betroffenen, den angeblich aggressiven “Türken”, hervorgerufen werden solle oder hervorgerufen werden könne. Die angebliche Bedrohung werde noch durch den Vorwurf der angeblich schweigenden oder untätigen Presse und Polizei gesteigert. Der Beschwerdeführer werde nicht unzulässig in seiner Meinungsfreiheit beschränkt. Die Meinungsfreiheit werde nur deshalb eingeschränkt, weil diesem Grundrecht das Erfordernis der Verteidigung des öffentlichen Friedens gegenüberstehe. Dieser werde verletzt, wenn mit überzogenen Formulierungen Feindseligkeit und ablehnende Aggressionen hervorgerufen würden. Die Revision des Beschwerdeführers verwarf das Oberlandesgericht durch Beschluss vom 30. Dezember 1996 als unbegründet.
3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG und führt aus: Die Gerichte hätten seiner Äußerung einen Sinn gegeben, der von ihm nicht beabsichtigt gewesen sei und sich auch nicht aus dem Flugblatttext ableiten lasse. Er habe einen konkreten Sachverhalt in der Öffentlichkeit bekannt machen und zur Diskussion stellen wollen. Das Amtsgericht habe den Begriff der “Ethnischen Säuberung” so hingestellt, als ob sie nur im negativen Sinn verstanden werden könne. Dieser Begriff stehe aber im Flugblatt im Zusammenhang mit der Überschrift eines Absatzes, die als Fragestellung formuliert sei. Das Amtsgericht habe es zudem unterlassen, Deutungen der Aussagen in Betracht zu ziehen, die nicht zu einer Verurteilung geführt hätten.
Entscheidungsgründe
II.
Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die grundsätzlichen Fragen zum Verhältnis von Meinungsfreiheit und deren Beschränkung zugunsten kollidierender Rechtsgüter sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt (vgl. BVerfGE 61, 1 ≪7 ff.≫; 90, 241 ≪246 ff.≫; 93, 266 ≪288 ff.≫).
Nach diesen Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet. Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG sind vorliegend zu bejahen. Die Annahme ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers auf Meinungsfreiheit angezeigt. Die geltend gemachte Grundrechtsverletzung ist besonders gewichtig, weil der Beschwerdeführer den Schuldspruch einer strafrechtlichen Verurteilung angreift (vgl. BVerfGE 96, 245 ≪249≫).
1. Die inkriminierten Äußerungen fallen in den Schutzbereich des Grundrechts auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG).
Dieses Grundrecht gewährleistet jedermann das Recht, seine Meinung frei zu äußern. Die verletzende Formulierung einer Aussage entzieht sie nicht dem Schutzbereich des Grundrechts (vgl. BVerfGE 61, 1 ≪7 f.≫; 93, 266 ≪289≫; stRspr). Tatsachenbehauptungen, die streng genommen keine Meinungsäußerung bilden, genießen den Grundrechtsschutz jedenfalls insoweit, als sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen sind. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit schützt allerdings nicht die erwiesen oder bewusst unwahre Tatsachenbehauptung (BVerfGE 61, 1 ≪8≫). Der beanstandete Text enthält nicht nur Werturteile, sondern, soweit der Beschwerdeführer den Sachverhalt schildert, auch Tatsachenbehauptungen, die zur Grundlage für Wertungen werden. Die angegriffenen Entscheidungen enthalten keine Feststellungen dazu, dass die Tatsachenbehauptungen erwiesenermaßen oder bewusst unwahr sind. Alle Äußerungen unterfallen daher dem Schutz von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
2. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit gilt allerdings nicht vorbehaltlos. Es findet gemäß Art. 5 Abs. 2 GG unter anderem eine Schranke in den allgemeinen Gesetzen, zu denen auch § 130 StGB n.F. gehört. Die Auslegung und Anwendung der Strafgesetze ist grundsätzlich Aufgabe der Strafgerichte. Diese haben dabei jedoch, wenn es sich um ein Gesetz handelt, das die Meinungsfreiheit einschränkt, die sich aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen zu beachten, damit die wertsetzende Bedeutung des Grundrechts auf der Normanwendungsebene zur Geltung kommt (vgl. BVerfGE 7, 198 ≪208 f.≫; stRspr).
a) Voraussetzung jeder rechtlichen Würdigung von Äußerungen ist, dass ihr Sinn zutreffend erfasst worden ist. Dabei haben die Gerichte nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgehend vom Wortlaut auch den Kontext und die sonstigen Begleitumstände der Äußerung zu beachten. Geht es um die strafrechtliche Ahndung einer Meinungsäußerung, so ist insbesondere zu sichern, dass die Verurteilung nur wegen einer Äußerung erfolgt, die dem Äußernden zuzurechnen ist. Mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG wäre es nicht vereinbar, wenn Meinungsäußerungen mit dem Risiko verbunden wären, wegen einer nachfolgenden Deutung einer Äußerung durch die Strafgerichte verurteilt zu werden, die dem objektiven Sinn dieser Äußerung nicht entspricht. Ist eine Äußerung mehrdeutig, so haben die Gerichte, wollen sie die zur Verurteilung führende Deutung ihrer rechtlichen Würdigung zu Grunde legen, andere Auslegungsvarianten mit nachvollziehbaren Gründen auszuschließen (vgl. BVerfGE 43, 130 ≪136 f.≫; 82, 43 ≪52≫; stRspr).
Diese Voraussetzungen erfüllen die angegriffenen Entscheidungen nicht.
aa) Das Amtsgericht hat bei der Deutung des beanstandeten Flugblattes nahezu allein auf die Überschriften und auf seine Aufmachung abgestellt. Den Kontext der Überschriften, insbesondere den im Einzelnen geschilderten Vorfall, hat es nicht hinreichend berücksichtigt.
Zwar deuten die überzogenen Ausdrücke (“Ethnische Säuberung” und “Türkisches Rollkommando”) auf eine extrem ablehnende Einstellung des Beschwerdeführers gegenüber der Bevölkerungsgruppe der Türken in Deutschland hin. Die Ausdeutung des Flugblattes, auf deren Grundlage die Verurteilung wegen Volksverhetzung erfolgte, konnte mit einer entsprechenden Feststellung aber nicht abgeschlossen sein. Zu drei Überschriften gehört nämlich jeweils ein Text, der im Wesentlichen einen konkreten Sachverhalt aus der Sicht des Beschwerdeführers wiedergibt. Im letzten Abschnitt des Flugblattes fragt der Beschwerdeführer die Leser, ob sie ähnliche Vorfälle erlebt haben. Abschließend fügt er einige mäßigende Formulierungen an. Es konnte nicht genügen, wie es das Amtsgericht getan hat, diese weiteren Formulierungen lediglich zum Anlass zu nehmen, den Tatbestand der Volksverhetzung nur “am unteren Rand” als erfüllt anzusehen. Sie hätten in die Deutung der Aussage des Flugblatts einbezogen werden müssen.
bb) Gänzlich ungeprüft blieb überdies, dass die drei Überschriften als Fragen formuliert waren. Dies gilt sowohl für die Einleitung des Flugblatttextes (“Benehmen sich so Gäste?”) als auch für die Überschriften “Ethnische Säuberung an Deutschen in Deutschland?” und “Darf die Polizei nicht helfen?”. Ob es sich dabei um bloße “rhetorische Fragen” handelte oder ob sie auf Antworten gerichtet waren, ist verfassungsrechtlich von Belang.
Rhetorische Fragen sind nur scheinbar Fragen. Sie werden nicht um einer – inhaltlich noch nicht feststehenden – Antwort willen geäußert, sondern bilden vielmehr Aussagen, die rechtlich entweder wie ein Werturteil oder wie eine Tatsachenbehauptung zu behandeln sind. Echte Fragen stehen unter dem Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit Werturteilen gleich (vgl. BVerfGE 85, 23 ≪32≫). Die Unterscheidung zwischen echten und rhetorischen Fragen muss nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit Hilfe von Kontext und Umständen der Äußerung erfolgen. Ist ein Fragesatz mehreren Deutungen zugänglich, von denen ihn eine als echte, die andere als rhetorische Frage erscheinen lässt, müssen die Gerichte beide Deutungen erwägen und ihre Wahl begründen. Bei der Klärung, ob eine Äußerung eine wirkliche Frage oder bloß eine rhetorische Frage darstellt, ist im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes im Zweifel von einem weiten Fragebegriff auszugehen (vgl. BVerfGE 85, 23 ≪33≫).
Das Amtsgericht hätte mithin begründen müssen, warum es die als Fragen formulierten Überschriften gleichwohl als Aussagen verstanden hat. Dies ist aber nicht geschehen.
b) Auch die Ausführungen des Amtsgerichts auf der Rechtsanwendungsebene lassen verfassungsrechtliche Fehler erkennen. Da die wertsetzende Bedeutung der Meinungsfreiheit ebenfalls auf dieser Ebene gewahrt bleiben muss, ist im Rahmen der auslegungsfähigen Tatbestandsmerkmale der einfachrechtlichen Vorschriften regelmäßig eine fallbezogene Abwägung zwischen der Bedeutung der Meinungsfreiheit und dem Rang des durch die Meinungsäußerung beeinträchtigten Rechtsguts vorzunehmen. Das Erfordernis der Abwägung entfällt allerdings im Fall einer Verletzung der Menschenwürde (vgl. BVerfGE 93, 266 ≪293≫).
aa) Der Beschwerdeführer ist gemäß § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB n.F. verurteilt worden. Danach wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft, wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt oder zu Gewalt oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert. Diese Vorschrift setzt nicht mehr wie § 130 StGB a.F. tatbestandlich den Angriff auf die Menschenwürde anderer voraus. Die Bejahung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 130 StGB a.F. hatte zur Folge, dass Belange der Meinungsfreiheit grundsätzlich keine Berücksichtigung mehr finden konnten (vgl. BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, NJW 2001, S. 61 ff.). Die Menschenwürde ist im Verhältnis zur Meinungsfreiheit nicht abwägungsfähig, so dass die Meinungsfreiheit zurücktreten muss (vgl. BVerfGE 93, 266 ≪293≫).
bb) Belange der Meinungsfreiheit sind trotz Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB n.F. nunmehr grundsätzlich zu berücksichtigen, denn Meinungen in Sinne dieser Vorschrift stellen nicht in jedem Fall einen Angriff auf die Würde des Betroffenen dar.
Äußerungen, in denen zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufgestachelt wird, werden in der Rechtsprechung der Strafgerichte so verstanden, dass damit eine verstärkte, auf die Gefühle des Aufgestachelten gemünzte, über die bloße Ablehnung und Verachtung hinaus ergehende Form des Anreizens zu einer emotional gesteigerten feindseligen Haltung gemeint ist (BGHSt 21, 371 ≪372≫; 40, 97 ≪102≫). Darin kann, muss aber nicht notwendig ein Angriff auf die Menschenwürde liegen. Das Amtsgericht hat nicht festgestellt, dass die Äußerungen gegen die Menschenwürde verstießen.
cc) Die deshalb erforderliche Abwägung hat das Amtsgericht nicht vorgenommen. Bei dieser Abwägung wäre es entscheidend darauf angekommen, ob es sich bei den beanstandeten Äußerungen um Werturteile oder Tatsachenbehauptungen handelte. Bei Tatsachenbehauptungen hängt die Abwägung vom Wahrheitsgehalt ab. Wahre Aussagen müssen in der Regel hingenommen werden, auch wenn sie nachteilig für den Betroffenen sind, unwahre dagegen nicht (vgl. BVerfGE 99, 185 ≪196≫). Bei tatsachenhaltigen Werturteilen spielt die Wahrheit der tatsächlichen Bestandteile eine Rolle. Eine mit erwiesen unwahren Annahmen vermengte Meinung ist weniger schutzwürdig als eine auf zutreffende Annahmen gestützte (vgl. BVerfGE 90, 241 ≪253≫).
Das Urteil des Amtsgerichts enthält keine Feststellung dazu, ob der in dem Flugblatt geschilderte Sachverhalt zutreffend ist oder nicht. Dies durfte indessen bei der Prüfung der Schutzwürdigkeit der beanstandeten Äußerungen nicht offen gelassen werden.
3. Die angegriffenen Gerichtsentscheidungen beruhen auf den festgestellten Grundrechtsverletzungen. Da diese Entscheidungen keinen Bestand haben, braucht der Frage nicht nachgegangen zu werden, ob mit ihnen auch gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verstoßen wurde. Die Entscheidungen sind daher aufzuheben und die Sache ist an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
4. Die Auslagenentscheidung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Steiner, Hoffmann-Riem
Fundstellen
Haufe-Index 874989 |
NJW 2003, 660 |
NVwZ 2003, 599 |
NStZ 2003, 655 |
AfP 2003, 41 |
StraFo 2003, 83 |