Verfahrensgang
LG Dessau (Vorlegungsbeschluss vom 25.09.1996; Aktenzeichen (6) 8 O 853/96) |
Tenor
Die Vorlage ist unzulässig.
Tatbestand
I.
Die Richtervorlage betrifft die Verfassungsmäßigkeit des § 828 Abs. 2 BGB.
1. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens war im Alter von 16 Jahren an einem Verkehrsunfall beteiligt. Er fuhr ohne Fahrerlaubnis auf einem Moped und nahm seine 13jährige Freundin auf dem Soziussitz mit. Eine Haftpflichtversicherung bestand nicht. Die Freundin trug keinen Sturzhelm. Der Beklagte bog an einer Kreuzung in die Vorfahrtsstraße ein und stieß dabei mit einem vorfahrtsberechtigten Lastkraftwagen zusammen. Bei diesem Unfall wurde die Freundin des Beklagten schwer verletzt. Sie erlitt eine komplizierte Fraktur der Schädeldecke mit schweren Gehirnfunktionsstörungen. Das Mädchen war bis Ende 1995 ein Schwerpflegefall und benötigte umfangreiche Rehabilitationsmaßnahmen. Die Kosten des Unfalleinsatzes und der Behandlung wurden von der Krankenversicherung des Mädchens übernommen.
2. Im Ausgangsverfahren nahm der Krankenversicherungsträger den Beklagten in Regreß und trug vor, daß ihm insgesamt Kosten in Höhe von rund 241.000 DM entstanden seien. Die Haftpflichtversicherung des Lastkraftwagenfahrers habe davon einen Kostenanteil von 30.000 DM übernommen, so daß ein offener Betrag von 211.000 DM verbleibe. Das Mitverschulden des Mädchens bewerte er mit 30 Prozent. Demnach müsse der Beklagte Schadensersatz in Höhe von rund 153.000 DM leisten. Ferner beantragte der Krankenversicherungsträger die Feststellung, daß der Beklagte der Versicherung auch den weitergehenden materiellen Schaden im Rahmen der Überleitungsfähigkeit nach § 116 SGB X zu ersetzen habe. Dem Mädchen müßten voraussichtlich auch künftig Schwerpflegegelder, Kosten für Sprachtherapie und eventuell Rentenleistungen gezahlt werden.
Der Beklagte verteidigte sich damit, daß der Lkw-Fahrer den Unfall aufgrund erheblich überhöhter Geschwindigkeit verursacht habe. Selbst wenn er den Unfall verschuldet habe, sei seine Haftung ausgeschlossen. Das Mädchen habe gewußt, daß er keinen Führerschein und keinen Versicherungsschutz gehabt habe; sie habe sich trotzdem ohne Sturzhelm in eine Situation drohender Eigengefährdung begeben und damit stillschweigend in einen Haftungsausschluß eingewilligt. Jedenfalls sei die Geltendmachung des Regreßanspruchs nach Treu und Glauben ausgeschlossen, da der Anspruch ihm auf Dauer jede Existenzgrundlage nehme und damit unverhältnismäßig in seine Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG eingreife. Insoweit habe die Vorschrift des § 242 BGB über ihren Wortlaut hinaus die Bedeutung, das Individuum gegen den Verlust des „unveräußerlichen Menschenrechts auf Hoffnung und Streben nach Glück” zu schützen. Ein Leben im „Schuldturm” von der Volljährigkeit an, aufgrund einer als Minderjähriger begangenen fahrlässigen Handlung, sei damit unvereinbar.
3. Das Landgericht Dessau führte eine mündliche Verhandlung ohne Beweisaufnahme durch, setzte anschließend das Verfahren aus und legte die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 828 Abs. 2 BGB zur verfassungsrechtlichen Prüfung vor (Beschluß vom 25. September 1996, VersR 1997, S. 242 ff.). Im vorliegenden Fall komme es auf die Gültigkeit von § 828 Abs. 2 BGB an. Nach dieser Vorschrift müßten Minderjährige, die das siebte, aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet hätten, für einen Schaden einstehen, wenn sie bei der Begehung der schädigenden Handlung die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht gehabt hätten. Diese Voraussetzungen lägen beim Beklagten vor. Denn ein durchschnittlich entwickelter Jugendlicher im Alter von 16 Jahren wisse, daß er ein Moped nicht ohne Versicherung und Fahrerlaubnis in Betrieb nehmen und eine Beifahrerin nicht ohne Sturzhelm mitnehmen dürfe.
Die durch § 828 Abs. 2 BGB begründete Haftung führe im vorliegenden Fall dazu, daß der Beklagte voraussichtlich lebenslang verschuldet sein werde. Der Beklagte habe zumindest fahrlässig gehandelt. Beim Einbiegen in die Kreuzung habe er offenbar die Geschwindigkeit des herannahenden Lastkraftwagens schuldhaft nicht richtig eingeschätzt. Dabei könne offenbleiben, ob der Unfall vorwiegend von dem Lastkraftwagenfahrer verschuldet worden sei. Denn § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB führe dazu, daß der Beklagte neben dem Lkw-Fahrer in vollem Umfang zur Haftung verpflichtet sei. Das Mitverschulden des Mädchens nach § 254 BGB könne allenfalls dazu führen, daß sich die Haftungsquote um 30 Prozent reduziere. Ein konkludent geschlossener Haftungsausschluß sei nicht anzunehmen. Abgesehen davon, daß es bereits an einer entsprechenden Erklärung des Mädchens fehle, könne nicht davon ausgegangen werden, daß das 13jährige Mädchen die Gefahr erkannt habe, in die es sich begab, als es auf dem Soziussitz des Beklagten Platz nahm.
Schließlich komme auch eine Haftungsbegrenzung unter Heranziehung des § 242 BGB nicht in Betracht. Allein in den Jahren 1974 bis 1994 seien über 20 Entscheidungen in den wichtigsten Zeitschriften veröffentlicht worden, in denen Kinder und Jugendliche zwischen sieben und 17 Jahren zur Zahlung von Schadensersatz von über 40.000 DM verurteilt worden seien. Eine Rechtsfortbildung der Rechtsprechung in Richtung auf eine Haftungseinschränkung habe nicht stattgefunden. Der Versuch des Landgerichts Bremen (NJW-RR 1991, S. 1432 ≪1434≫), der uneingeschränkten Haftung mit Hilfe von § 242 BGB entgegenzutreten, sei mit dem Willen des Gesetzgebers nicht vereinbar. Der Grundsatz der Totalreparation entspreche auch für den Bereich der Deliktshaftung Minderjähriger dem erkennbaren Wortlaut und dem Willen des Gesetzgebers. Auch wenn § 828 BGB vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes erlassen worden sei, liege ein nachkonstitutionelles Gesetz vor. Es bestehe kein Zweifel daran, daß der Gesetzgeber diese Vorschrift nach Inkrafttreten des Grundgesetzes in seinen Willen aufgenommen habe. Zwar sei das Deliktsrecht seit 96 Jahren nahezu unverändert geblieben. Der nachkonstitutionelle Gesetzgeber habe aber das Bürgerliche Gesetzbuch zahlreichen Änderungen unterworfen und auch das Haftungsrecht außerhalb des Bürgerlichen Gesetzbuchs weitgehend umgestaltet. Soweit er trotz mehrerer Reformvorschläge die deliktische Haftung und die Haftung der Minderjährigen nicht geändert habe, zeige dies, daß der Gesetzgeber diese Vorschriften in seinen Willen aufgenommen habe.
Nach der Überzeugung der Kammer sei § 828 Abs. 2 BGB in den Fällen mit Art. 1, 2 und 6 Abs. 2 Satz 2 GG unvereinbar, in denen Minderjährige im Alter zwischen sieben und 17 Jahren in langfristiger und unerträglich belastender Weise auf Schadensersatz in Anspruch genommen würden, obwohl ihr fahrlässiges Verhalten eine typische Jugendverfehlung darstelle und obwohl die finanzielle Entschädigung des Opfers von dritter Seite (z.B. durch eine Versicherung) gewährleistet sei. Die unbegrenzte Haftung von Minderjährigen bei Großschäden führe dazu, daß sie häufig zu lebenslangen Zahlungen mit einer Pfändung jeden Einkommens verpflichtet seien, das über der Pfändungsgrenze liege. Eine normale Lebensführung mit Berufsausbildung, Heirat und Familienplanung bleibe ihnen versagt. Die dadurch hervorgerufene Perspektivlosigkeit könne zur Zerstörung oder erheblichen Beeinträchtigung der Persönlichkeit und kriminellen Fehlentwicklungen führen. Durch eine solche schrankenlose Haftung werde der Minderjährige bloßes Mittel zum Zweck eines überzogenen Restitutionsgedankens.
Eine Haftung Minderjähriger sei nur dann mit der Menschenwürdegarantie und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht vereinbar, wenn der Minderjährige nicht mit unübersehbaren Schulden in die Volljährigkeit entlassen werde. Ebenso wie im Fall der Kinderhaftung für Gesellschaftsschulden (BVerfGE 72, 155 ≪170 ff.≫) sei der Gesetzgeber in Wahrnehmung seines Wächteramtes aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG aufgerufen, Regelungen zu treffen, die verhindern, daß der volljährig Gewordene nicht mehr als nur eine scheinbare Freiheit erreiche.
Entscheidungsgründe
II.
Die Richtervorlage ist unzulässig.
1. Der Zulässigkeit der Vorlage steht entgegen, daß es sich bei § 828 Abs. 2 BGB um vorkonstitutionelles Recht handelt. Der Normenkontrolle des Bundesverfassungsgerichts im Verfahren des Art. 100 Abs. 1 GG unterliegen Gesetze dann nicht, wenn sie vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes, als „vorkonstitutionelles” Recht, verkündet worden sind.
a) Eine Ausnahme gilt für diejenigen vorkonstitutionellen Gesetze, die der Gesetzgeber nach Inkrafttreten des Grundgesetzes „in seinen Willen aufgenommen” hat. Dies ist der Fall, wenn er seinen konkreten Bestätigungswillen im Gesetz selbst zu erkennen gibt oder wenn sich ein solcher Wille aus dem engen sachlichen Zusammenhang zwischen unveränderten und geänderten Normen objektiv erschließen läßt, insbesondere wenn eine alte Norm als Gesetz neu verkündet wird, wenn eine neue (nachkonstitutionelle) Norm auf die alte Norm verweist oder wenn ein begrenztes und überschaubares Rechtsgebiet durchgreifend geändert wird und veränderte und unveränderte Normen eng miteinander zusammenhängen. Hingegen ist von einem Willen zur Bestätigung eines vorkonstitutionellen Gesetzes nicht auszugehen bei Änderung nur einzelner Vorschriften dieses Gesetzes, denen ein solcher Zusammenhang fehlt. Das gleiche gilt, wenn der Gesetzgeber eine vorkonstitutionelle Norm nur als solche hinnimmt und von ihrer Aufhebung oder sachlichen Änderung vorerst absieht, ohne sie in ihrer Geltung bestätigen zu wollen (BVerfGE 70, 126 ≪129 f.≫).
Die „Hinnahme” einer vorkonstitutionellen Norm durch den Gesetzgeber beschreibt hiernach einen vorläufigen Zustand, so daß für die Entscheidung der Frage, ob eine Regelung vor- oder nachkonstitutionelles Recht ist, auch das Zeitmoment von Bedeutung ist. Je länger der Gesetzgeber vor Inkrafttreten des Grundgesetzes erlassene Regelungen in Geltung läßt, desto geringer werden die Voraussetzungen für die Annahme, er habe sie in seinen Willen aufgenommen (vgl. BVerfGE 63, 181 ≪188≫; 66, 248 ≪255≫). Objektiv erkennbare Anhaltspunkte, aus denen auf einen Bestätigungswillen des Gesetzgebers geschlossen werden kann, werden dadurch aber nicht entbehrlich. Die gesetzgebenden Organe müssen, sofern von einem Bestätigungswillen ausgegangen werden soll, zumindest in irgendeiner Weise mit der zur Prüfung gestellten Norm und ihrem Regelungsgehalt befaßt gewesen sein (BVerfGE 70, 126 ≪133≫).
b) Gemessen an diesen Maßstäben hat der Bundesgesetzgeber § 828 Abs. 2 BGB nicht in seinen Willen aufgenommen. Die Vorschrift ist durch keinen Gesetzgebungsakt erkennbar bestätigt worden. Für die Annahme eines Bestätigungswillens ist es nicht ausreichend, daß das Bürgerliche Gesetzbuch in den letzten Jahrzehnten wiederholt Gegenstand gesetzlicher Änderungen gewesen ist. Denn bei umfangreichen vorkonstitutionellen Gesetzen kann nicht davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber aus Anlaß einzelner Änderungen jeweils die Verfassungsmäßigkeit des gesamten Gesetzes geprüft und bejaht hat (BVerfGE 11, 126 ≪131≫). Auch die mehrfache Änderung einzelner Abschnitte und Titel läßt nicht den Schluß zu, daß die inhaltlich nicht betroffenen Abschnitte und Titel in irgendeiner Weise mitgeprüft und bestätigt worden sind.
Das vorlegende Gericht hat selbst ausgeführt, daß der Titel über unerlaubte Handlungen im Bürgerlichen Gesetzbuch seit 96 Jahren nahezu unverändert geblieben ist. Der nachkonstitutionelle Gesetzgeber hat sich nur ganz allgemein mit einigen Folgefragen der deliktischen Haftung beschäftigt (Verjährung: § 852 Abs. 2 BGB; Vollstreckung: § 850 f. Abs. 2 ZPO, § 302 Nr. 1 InsO; Aufrechnung: § 84 Abs. 2 BBG; Zeitpunkt des Inkrafttretens in den neuen Bundesländern: Art. 232 § 10 EGBGB). Darin kann allenfalls eine Bestätigung des allgemeinen Prinzips der verschuldensabhängigen Deliktshaftung, nicht aber eine spezielle Befassung mit der Minderjährigenhaftung gesehen werden.
Mit dem Problem der deliktischen Minderjährigenhaftung und der dafür maßgeblichen Vorschrift des § 828 BGB hat sich der Gesetzgeber seit Inkrafttreten des Grundgesetzes inhaltlich nicht befaßt. Der Deutsche Bundestag hat weder Änderungen am Text der Vorschrift vorgenommen noch Gesetzesinitiativen zur Änderung der Norm abgelehnt. Eine inhaltliche Befassung mit der Minderjährigenhaftung kam auch nicht zustande, als die zum Bereich der Kindeshaftung gehörende Billigkeitsklausel des § 829 BGB im Zuge des Familienrechtsänderungsgesetzes vom 11. August 1961 (BGBl I S. 1221 ≪1226≫) neu gefaßt wurde. Durch diese Novelle wurde lediglich die unzeitgemäße Formulierung „standesgemäß” durch den moderneren Ausdruck „angemessen” ersetzt. Mit dieser rein sprachlichen Änderung war keine inhaltliche Entscheidung bezweckt (BTDrucks III/530 S. 25). Tauscht der Gesetzgeber lediglich ein veraltetes durch ein neues Wort aus, liegt darin grundsätzlich keine Aufnahme der vorkonstitutionellen Regelung in den Willen des Gesetzgebers (BVerfGE 25, 25 ≪27≫).
Auch das Schweigen des Gesetzgebers zur bisherigen Rechtsprechung der Zivilgerichte kann nicht als ausreichender objektiver Anhaltspunkt für einen Bestätigungswillen angesehen werden (BVerfGE 78, 20 ≪25≫). Ebensowenig kann sein Schweigen zu privaten oder ministeriellen Reformüberlegungen in eine Bestätigung der bisherigen Gesetzeslage umgedeutet werden. Die strenge Haftung nach § 828 Abs. 2 BGB ist zwar außerhalb des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens immer wieder kritisiert worden. Es mangelt auch nicht an Reformvorschlägen, die von einer Änderung der Altersgrenzen und einer stärkeren Haftung der Erziehungsberechtigten über eine Reduktion der Kindeshaftung nach Billigkeitsgesichtspunkten bis hin zur Einführung einer Pflichtversicherung für Kinder reichen (vgl. Scheffen, Der Kinderunfall – Eine Herausforderung für Gesetzgebung und Rechtsprechung, DAR 1991, S. 121 ff.; Goecke, Die unbegrenzte Haftung Minderjähriger im Deliktsrecht, Berlin 1997, S. 194-259). Diese Überlegungen sind aber bislang nicht in den parlamentarischen Prozeß vorgedrungen. Der parlamentarische Gesetzgeber war – soweit ersichtlich – seit Inkrafttreten des Grundgesetzes mit der Frage der Minderjährigenhaftung nicht befaßt, so daß § 828 BGB als vorkonstitutionelles Recht anzusehen ist (vgl. Canaris, Die Verfassungswidrigkeit von § 828 Abs. 2 BGB als Ausschnitt aus einem größeren Problemfeld, JZ 1990, S. 679 ≪681≫).
2. Die Richtervorlage erfüllt im übrigen nicht die Begründungsanforderungen des § 80 Abs. 2 BVerfGG.
a) Nach dieser Vorschrift muß die Begründung angeben, inwiefern von der Gültigkeit der Rechtsvorschrift die Entscheidung des vorlegenden Gerichts abhängt und mit welchen übergeordneten Rechtsvorschriften sie unvereinbar ist. Dem genügt eine Richtervorlage nur, wenn das Gericht die für seine Entscheidung maßgebenden Erwägungen nachvollziehbar darlegt und sich dabei mit sämtlichen naheliegenden Gesichtspunkten auseinandersetzt (BVerfGE 86, 52 ≪57≫; stRspr). In diesem Zusammenhang kann es erforderlich sein, vor der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zu prüfen, ob ein verfassungswidriges Ergebnis auf andere Weise – etwa durch Heranziehung anderer Vorschriften – vermieden werden kann (BVerfGE 88, 187 ≪194 f.≫).
b) Im vorliegenden Fall hat das Landgericht zwar die Entscheidungserheblichkeit des § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB hinreichend begründet und auch plausibel ausgeführt, daß die unbegrenzte Haftung Minderjähriger im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet. Es hat sich aber nicht ausreichend mit der Frage beschäftigt, welche einfachrechtlichen Möglichkeiten zur Korrektur der Minderjährigenhaftung zur Verfügung stehen.
Dabei fällt es nicht entscheidend ins Gewicht, daß das Landgericht die Mitschuld des Lkw-Fahrers und damit mögliche Erstattungsansprüche des Minderjährigen gegenüber dem Lkw-Fahrer nach den §§ 840, 426 BGB nicht im erforderlichen Maße untersucht hat. Zwar müßten auch diese Ansprüche bei der Frage der existenzvernichtenden Wirkung der Minderjährigenhaftung näher geprüft werden. Es spricht aber im vorliegenden Fall vieles dafür, daß dadurch keine durchgreifende Entlastung des Minderjährigen eingetreten wäre.
Jedenfalls hätte das Landgericht näher prüfen müssen, ob der Beklagte nach Abschluß des zivilgerichtlichen Verfahrens von dem Träger der Krankenversicherung einen Forderungserlaß erreichen kann. Auf Antrag hat ein Sozialversicherungsträger nach § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV zu prüfen, ob er eine Forderung zur Vermeidung unbilliger Härten erlassen kann. Diese Vorschrift gilt auch für nach § 116 SGB X übergeleitete Schadensersatzansprüche (Heinrichs, in: Palandt, BGB, 57. Aufl. 1998, vor § 249 Rn. 158). Sie gibt dem Betroffenen einen öffentlichrechtlichen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über den Forderungserlaß, was grundsätzlich von den Sozialgerichten überprüft wird (BSG, VersR 1990, S. 175 f.; BGHZ 88, 296 ff.). Bei dieser Entscheidung müssen die Sozialversicherungsträger die Grundrechte des Betroffenen berücksichtigen. Daher hätte es einer eingehenden Erörterung der Frage bedurft, ob der Grundrechtsschutz des Beklagten nicht in dem sozialgerichtlichen Folgeverfahren ausreichend gewahrt werden kann (vgl. Ahrens, Existenzvernichtung Jugendlicher durch Deliktshaftung? VersR 1997, S. 1064). Dabei wäre auch zu fragen, ob sich dieses Verfahren wegen des Amtsermittlungsprinzips und der vorangegangenen Klärung der Haftungsfrage nicht besser für eine Billigkeitsentscheidung eignet als ein zivilprozessualer Haftungsstreit. Ebenso hätte das Landgericht sich argumentativ mit der Frage beschäftigen müssen, inwieweit durch den Erlaß der neuen Insolvenzordnung die Gefahr der lebenslangen Überschuldung ausgeschaltet oder eingeschränkt worden ist (vgl. Mertens, in: Münchener Kommentar zum BGB, Band 5, 3. Aufl. 1997, § 828 Rn. 14; kritisch: Goecke, Die unbegrenzte Haftung Minderjähriger im Deliktsrecht, Berlin 1997, S. 69-74).
Schließlich lassen die vom Landgericht gegen die Anwendbarkeit des § 242 BGB vorgetragenen Argumente eine hinreichende Auseinandersetzung mit der einschlägigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung vermissen. Das Bundesverfassungsgericht hat gerade im Hinblick auf die deliktischen Haftungsbestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches ausgeführt, daß die Auslegung einer Gesetzesnorm nicht immer auf die Dauer bei dem ihr zu ihrer Entstehungszeit beigelegten Sinn stehenbleiben kann (BVerfGE 34, 269 ≪288 f.≫). Angesichts des beschleunigten Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse und der begrenzten Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers sowie der offenen Formulierung zahlreicher Normen gehört die Anpassung des geltenden Rechts an veränderte Verhältnisse im Gegenteil zu den Aufgaben der Dritten Gewalt. Das gilt insbesondere bei zunehmendem zeitlichen Abstand zwischen Gesetzeserlaß und richterlicher Einzelfallentscheidung (BVerfGE 96, 375 ≪394≫). Demnach stehen aus verfassungsrechtlicher Sicht weder der Wille des vorkonstitutionellen Gesetzgebers noch der Wortlaut des § 828 Abs. 2 BGB einer Einschränkung der Minderjährigenhaftung aus Billigkeitsgründen zwingend entgegen. Ob eine solche Einschränkung nach § 242 BGB im konkreten Fall geboten ist, haben die für den Zivilrechtsstreit zuständigen Gerichte zu entscheiden.
Unterschriften
Papier, Grimm, Hömig
Fundstellen
Haufe-Index 1261610 |
NJW 1998, 3557 |
EuGRZ 1999, 91 |
FamRZ 1998, 1500 |
JurBüro 1999, 53 |
JA 1999, 355 |
JZ 1999, 251 |
NZV 1999, 39 |
SGb 1999, 252 |
VersR 1998, 1289 |
ZfJ 1999, 25 |
SozSi 1999, 221 |