Verfahrensgang
AG Heilbronn (Beschluss vom 23.04.2009; Aktenzeichen BerH 200/09) |
AG Heilbronn (Beschluss vom 10.03.2009; Aktenzeichen BerH 200/09) |
AG Heilbronn (Beschluss vom 09.02.2009; Aktenzeichen BerH 200/09) |
Tenor
Die Beschlüsse des Amtsgerichts Heilbronn vom 9. Februar 2009 – BerH 200/09 –, vom 10. März 2009 – BerH 200/09 – und vom 23. April 2009 – BerH 200/09 –, verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 und Absatz 3 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Heilbronn zurückverwiesen.
Das Land Baden-Württemberg hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten. Mit dieser Anordnung erledigt sich der Antrag der Beschwerdeführerin auf Gewährung von Prozesskostenhilfe.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung von Beratungshilfe nach dem Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen (Beratungshilfegesetz – BerHG).
I.
1. Der Antrag der Beschwerdeführerin auf aufstockende Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) wurde von der Stadt H. unter Berufung auf die Haltung des Ministeriums zu § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II abgelehnt. Sie beantragte beim Amtsgericht erfolglos Beratungshilfe für den Widerspruch gegen die Ablehnung. Der zuständige Rechtspfleger wies den Antrag unter Hinweis auf die vorrangige Behördenberatung zurück. Zur Einlegung eines Widerspruchs sei in der Regel kein Rechtsanwalt erforderlich. Die in einer Sachverhaltsschilderung bestehende Widerspruchsbegründung könne auch von der Beschwerdeführerin zumutbar geleistet werden.
Der Erinnerung wurde mit einem weiteren Beschluss des Rechtspflegers nicht abgeholfen. Es sei auch zu berücksichtigen, dass in der Regel über den Widerspruch nicht dieselbe Abteilung entscheide, sondern eine Widerspruchsstelle. Auch bei Behörden, gegen die der Ratsuchende argumentieren müsse, habe die Beratung der Behörde Vorrang.
Mit richterlichem Beschluss wurde die Erinnerung unter Berufung auf die ständige Rechtsprechung des Amtsgerichts zurückgewiesen. Der Beschwerdeführerin sei es zumutbar, den Widerspruch selbst und ohne Hilfe eines Rechtsanwalts einzulegen. Beratungshilfe komme erst in Betracht, wenn die Erfolgsaussicht einer Klage zu beurteilen sei. Wenn sich der Rechtsuchende direkt an einen Anwalt wende, bevor er sich mit der Behörde in Verbindung gesetzt habe, sei die Beratungshilfe wegen Mutwilligkeit abzulehnen.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung von Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 sowie sinngemäß von Art. 20 Abs. 1 GG. Sie trägt insbesondere vor, dass komplizierte Rechtsfragen in den Bereichen Sozial- und Europarecht betroffen seien. Sie werde als unbemittelte Rechtsuchende gegenüber bemittelten Rechtsuchenden ungleich behandelt.
3. Das Justizministerium des Landes Baden-Württemberg, dem die Verfassungsbeschwerde gemäß § 94 Abs. 2 BVerfGG zugestellt worden ist, hat von einer Stellungnahme abgesehen.
Entscheidungsgründe
II.
1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt.
2. Die Verfassungsbeschwerde erweist sich danach als begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG).
Es wird insoweit auf den Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Mai 2009 – 1 BvR 1517/08, juris – verwiesen, wonach die vom Amtsgericht befürwortete Auslegung des Beratungshilfegesetzes, dass es einem Rechtsuchenden zumutbar sei, selbst kostenlos Widerspruch einzulegen und dabei die Beratung derjenigen Behörde in Anspruch zu nehmen, die zuvor den Ausgangsverwaltungsakt erlassen hat, den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht wird.
Das Amtsgericht hat keine Umstände angeführt, die die Notwendigkeit fremder Hilfe hier in Frage stellen könnten. Es geht nicht nur um Fragen allgemeiner Lebenshilfe, sondern um die rechtliche Auslegung einer Norm. Die Beschwerdeführerin beantragte Beratungshilfe für das Widerspruchsverfahren, insofern unterscheidet sich das Verfahrensstadium von einer erstmaligen Antragstellung oder einer bloßen Nachfrage. Eine Verweisung auf die Beratung durch dieselbe Behörde, deren Entscheidung die Beschwerdeführerin angreifen will, überschreitet die Grenze der Zumutbarkeit. In einem solchen Fall kann es auch nicht als mutwillig angesehen werden, wenn sich die Rechtsuchende direkt an den Rechtsanwalt wendet.
III.
Die angegriffenen Entscheidungen werden gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen, das erneut zu entscheiden hat.
Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Mit dieser Anordnung erledigt sich der Antrag der Beschwerdeführerin auf Gewährung von Prozesskostenhilfe (vgl. BVerfGE 71, 122 ≪136 f.≫; 105, 239 ≪252≫).
Unterschriften
Hohmann-Dennhardt, Gaier, Kirchhof
Fundstellen