Verfahrensgang
OLG Naumburg (Urteil vom 12.12.2000; Aktenzeichen 9 U 99/00) |
Tenor
Das Urteil des Oberlandesgerichts Naumburg vom 12. Dezember 2000 – 9 U 99/00 – verletzt die Beschwerdeführer in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben.
Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Das Land Sachsen-Anhalt hat den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft im Wesentlichen Fragen des rechtlichen Gehörs in einem mietrechtlichen Rechtsstreit.
1. Die Beschwerdeführer zu 1. und zu 2. sind Geschäftsführer und alleinige Gesellschafter der Beschwerdeführerin zu 3. und zugleich einzige Kommanditisten der M… KG, deren Komplementärin die Beschwerdeführerin zu 3. ist.
Im März 1993 mietete die KG von der späteren Klägerin des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Klägerin) ein Ladenlokal in einem noch fertigzustellenden Wohn- und Geschäftshaus bei Dessau. Da die angemietete Ladenfläche nicht ausreichte, wurde unter dem 21. Juli/9. August 1993 ein weiterer Mietvertrag über eine Zusatzfläche geschlossen, die zusammen mit der bereits angemieteten als einheitliches Ladenlokal erstellt werden sollte. Nach Fertigstellung und Bezug der angemieteten Räume im Jahr 1994 traten in dem Flachdachgebäude Feuchtigkeitsschäden auf, auf Grund derer im Jahr 1999 eine komplette Sanierung des Dachs erfolgte.
Im Ausgangsverfahren nahm die Klägerin die Beschwerdeführer zu 1. und zu 2. sowie eine „M… GmbH” auf Zahlung rückständigen Mietzinses für die Monate April bis August 1999 in Anspruch, die Beschwerdeführer zu 1. und zu 2. aus der unter dem 21. Juli/9. August 1993 ergänzend geschlossenen Vereinbarung und die „M… GmbH” aus dem im März 1993 geschlossenen Mietvertrag. Die Beschwerdeführer wandten gegen die Klageforderung ein, sie hätten die beiden Mietverträge mit Schreiben vom 28. März 1999 wirksam wegen der in Abständen von teils mehreren Monaten infolge von Wassereinbrüchen auftretenden erheblichen Gebrauchsbeeinträchtigungen der Mietsache aus wichtigem Grund fristlos gekündigt. Außerdem sei das Mietverhältnis jedenfalls durch einen mündlich geschlossenen und anschließend schriftlich dokumentierten Aufhebungsvertrag zum Ablauf des 30. April 1999 aufgelöst worden.
Das Landgericht wies die Klage durch Urteil vom 28. April 2000 mit der Begründung ab, die fristlose Kündigung der Beschwerdeführer sei wirksam gewesen.
Die Klägerin legte gegen das klageabweisende Urteil beim Oberlandesgericht mit der Begründung Berufung ein, die Beschwerdeführer seien nicht zur Kündigung berechtigt gewesen.
In ihrer Berufungserwiderung trugen die Beschwerdeführer unter Benennung eines Zeugen vor, in einem zwischen dem Beschwerdeführer zu 2. und einem der Gesellschafter der Klägerin (dem Kläger zu 2.) geführten Gespräch hätten die Parteien Einigkeit darüber erzielt gehabt, dass das Mietverhältnis einvernehmlich zum Ende des Monats April 1999 aufgelöst und die von den Beschwerdeführern gestellte Bürgschaft von der Klägerin an sie zurückgegeben werden solle. Diese Vereinbarung werde durch ein – von der Klägerin – maschinenschriftlich vorbereitetes Übergabeprotokoll bestätigt, in dem ausdrücklich „Mietvertragsende 31.04.1999” vermerkt und auch die geschilderte Absprache erwähnt sei. Außerdem habe der von der Klägerin hierzu bevollmächtigte Hausmanager das Protokoll entsprechend der vorangegangenen Vereinbarung mit dem handschriftlichen Zusatz „Bankbürgschaft wird bis 25.05.99 zurückgegeben” ergänzt.
Durch Urteil vom 12. Dezember 2000 änderte das Oberlandesgericht die landgerichtliche Entscheidung ab und gab der Klage unter Klageabweisung und Berufungszurückweisung im Übrigen weitgehend statt. In den Entscheidungsgründen führte es unter anderem aus, dass das Mietverhältnis der Parteien nicht einverständlich zum 30. April 1999 aufgehoben worden sei. Für ihre diesbezügliche Behauptung hätten die Beschwerdeführer keinen Beweis angetreten. Der im Übergabeprotokoll enthaltene Vermerk „Mietvertragsende 31.04.99” besage nicht mehr als dass die Beschwerdeführer bis zu diesem Zeitpunkt die Mieträume verlassen hätten.
2. Mit ihrer gegen das Berufungsurteil gerichteten Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer, das Oberlandesgericht Naumburg habe in mehrfacher Hinsicht gegen Art. 103 Abs. 1 GG bzw. den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen und in der Folge willkürlich zu ihren Lasten entschieden.
a) Es habe ihren zum Teil unstreitigen Tatsachenvortrag zur fehlenden persönlichen Haftung der Beschwerdeführer zu 1. und zu 2., zur Inanspruchnahme einer nicht existierenden juristischen Person und zur Kündigung entweder übersehen oder nicht erwogen; die gar nicht wirksam verklagte Beschwerdeführerin zu 3. habe es überraschend ohne vorherigen Hinweis und ohne Begründung verurteilt.
b) Soweit das Oberlandesgericht den Abschluss eines Aufhebungsvertrags mit der Begründung verneint habe, die Beschwerdeführer hätten für ihren diesbezüglichen Vortrag keinen Beweis angeboten, sei nicht nur das fehlende Bestreiten dieses Vortrags durch die Klägerin übersehen, sondern auch der von den Beschwerdeführern angebotene Zeugenbeweis übergangen worden. Die weitere Begründung des Oberlandesgerichts, das auf dem Übergabeprotokoll ausdrücklich vermerkte „Mietvertragsende 31.04.1999” bestätige lediglich die Tatsache der Räumung, sei völlig fern liegend und ignoriere den Vortrag der Beschwerdeführer zu der vorangegangenen mündlichen Aufhebungsvereinbarung und zu dem handschriftlichen Zusatz des Hausmanagers der Klägerin, betreffend die Herausgabe der Mietsicherheit.
c) Auf den geschilderten Grundrechtsverletzungen beruhe die angegriffene Entscheidung, weil die eingeklagte Mietzinsforderung bei Berücksichtigung des Vortrags und der Beweisantritte der Beschwerdeführer zu verneinen und die Klage dementsprechend abzuweisen gewesen wäre.
3. Die Landesregierung Sachsen-Anhalt hat von einer Stellungnahme zu der Verfassungsbeschwerde abgesehen.
Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Ein Gehörs- oder Willkürverstoß des Oberlandesgerichts liege nicht vor. Soweit sie im Berufungsrechtszug den Abschluss eines Aufhebungsvertrags zum Ende des Monats April 1999 behauptet hätten, sei vom Oberlandesgericht weder ein fehlendes Bestreiten der betreffenden Tatsachenbehauptungen seitens der Klägerin übergangen worden noch ein von den Beschwerdeführern für den Abschluss eines Aufhebungsvertrags angebotener Zeugenbeweis. Zum einen habe die Klägerin den Aufhebungsvertrag schon durch die Erhebung der Mietzinsklage „konkludent bestritten”. Zum anderen habe sich der Zeugenbeweisantritt der Beschwerdeführer allein auf das Zustandekommen des Übergabeprotokolls bezogen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführer angezeigt ist (§§ 93b, 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht entschieden; die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
Das Oberlandesgericht hat gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen, indem es der Berufung der Klägerin weitgehend stattgegeben hat, ohne den Tatsachenvortrag der Beschwerdeführer über den Abschluss eines Aufhebungsvertrags und den hierfür angebotenen Zeugenbeweis zu berücksichtigen.
1. Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 83, 24 ≪35≫; 96, 205 ≪216≫; stRspr). Es ist allerdings erst verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist (vgl. BVerfGE 25, 137 ≪140≫; 34, 344 ≪347≫; 65, 293 ≪295 f.≫; 85, 386 ≪404≫). Denn grundsätzlich geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben (BVerfGE 40, 101 ≪104 f.≫; 65, 293 ≪295 f.≫).
Sie sind dabei nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen (vgl. BVerfGE 5, 22 ≪24≫; 13, 132 ≪149≫; 42, 364 ≪368≫), namentlich nicht bei letztinstanzlichen, mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr angreifbaren, Entscheidungen (BVerfGE 50, 287 ≪289 f.≫; 65, 293 ≪295 f.≫). Deshalb müssen, damit das Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG feststellen kann, im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfGE 27, 248 ≪251 f.≫; 42, 364 ≪368≫; 47, 182 ≪188≫; 65, 293 ≪295 f.≫; 70, 288 ≪295 f.≫).
2. Ein solcher Fall liegt hier vor. Das Oberlandesgericht hat die vom ihm für erheblich gehaltene Behauptung der Beschwerdeführer, die Parteien hätten die streitgegenständlichen Mietverträge zum Ende des Monats April 1999 einverständlich aufgehoben, unter Hinweis auf das Fehlen eines Beweisantritts unberücksichtigt gelassen.
a) Dabei hat es zum einen übersehen, dass die Klägerin die von den Beschwerdeführern behauptete mündliche Einigung der Mietvertragsparteien über eine Vertragsbeendigung zum Ende des Monats April 1999 nicht bestritten hatte, so dass es gemäß § 288 ZPO eines Beweisantritts nicht bedurfte. Die Klageerhebung als solche konnte ein substantiiertes Bestreiten der von den Beschwerdeführern behaupteten anspruchsvernichtenden Tatsachen – entgegen der von der Klägerin im Verfassungsbeschwerde-Verfahren geäußerten Ansicht – nicht ersetzen.
b) Zum anderen hatten die Beschwerdeführer im Schriftsatz vom 13. September 2000 für ihren gesamten, den Abschluss eines Aufhebungsvertrags betreffenden, Tatsachenvortrag einen Zeugen benannt. Anhaltspunkte dafür, dass sich dieser Beweisantritt allein auf das Zustandekommen des Übergabeprotokolls bezog, sind weder dem genannten Schriftsatz noch den Ausführungen des Oberlandesgerichts zu entnehmen. Daher hätte das Oberlandesgericht über die von ihm als bestritten angesehene Behauptung der Beschwerdeführer, das Mietverhältnis der Parteien sei einvernehmlich aufgelöst worden, den hierfür angebotenen Zeugenbeweis erheben müssen und die Beschwerdeführer insoweit nicht als beweisfällig behandeln dürfen (zum Gehörsverstoß durch Übergehen von Beweisantritten vgl. BVerfGE 50, 32 ≪33 f.≫; 60, 247 ≪249 f.≫).
c) Auf dem vorstehenden Gehörsverstoß beruht das angegriffene Urteil. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Oberlandesgericht anders entschieden hätte, wenn es den unter Zeugenbeweis gestellten Tatsachenvortrag der Beschwerdeführer über die einvernehmliche Aufhebung der streitgegenständlichen Mietverträge vollständig zur Kenntnis genommen und sachgemäß erwogen hätte.
d) Ob das Urteil auch deshalb verfassungsrechtlich zu beanstanden ist, weil das Oberlandesgericht weiteren Vortrag der Parteien, etwa zur Frage der persönlichen Haftung der Beschwerdeführer zu 1. und zu 2., unzureichend erwogen oder den Inhalt des von der Klägerin vorbereiteten Übergabeprotokolls unter Verstoß gegen das Willkürverbot unzutreffend gewürdigt hat, kann hiernach dahinstehen.
Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Limbach, Hassemer, Mellinghoff
Fundstellen
Haufe-Index 1267263 |
WuM 2002, 140 |
GuT 2002, 37 |