Verfahrensgang
AG Berlin-Lichtenberg (Beschluss vom 07.08.2009; Aktenzeichen 170a II 1614/09) |
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung von Beratungshilfe nach dem Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen (Beratungshilfegesetz – BerHG).
I.
Die Beschwerdeführerin erhielt im Mai 2009 eine Vollstreckungsankündigung des Hauptzollamts unter Bezugnahme auf einen Bescheid der Bundesagentur für Arbeit aus dem Jahr 2005 und auf Leistungen, die im Jahr 2009 fällig geworden seien. Da sie nach Prüfung ihrer Unterlagen keinerlei Anhaltspunkte dafür habe finden können, welche Forderungen aus welchen Gründen bei ihr vollstreckt werden sollten, wandte sich die Beschwerdeführerin an das Amtsgericht und beantragte Beratungshilfe.
Der Rechtspfleger wies den Antrag als mutwillig zurück. Die Antragstellerin habe die Herkunft der Forderung nicht erklären können und auf die Klärung durch den Anwalt verwiesen. Sie habe weder beim Hauptzollamt noch beim JobCenter nachgefragt.
Mit der Erinnerung wies die Beschwerdeführerin darauf hin, dass die personelle Einrichtung des JobCenters eine angemessene Beratung ausschließe. Eine telefonische Erklärung durch das Hauptzollamt sei nicht zu erwarten gewesen. Es sei auch die Dringlichkeit der Lage zu bedenken gewesen.
Nachdem der Rechtspfleger der Erinnerung nicht abgeholfen hatte, wurde sie mit richterlichem Beschluss zurückgewiesen, weil die Wahrnehmung der Rechte im vorliegenden Fall mutwillig im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 3 BerHG sei. Der Rechtspfleger habe insoweit zutreffend darauf hingewiesen, dass der Antragstellerin vor der Einholung anwaltlicher Hilfe zunächst die zumutbare Eigeninitiative abzuverlangen sei, die auch ein durchschnittlicher Rechtssuchender aufbringen würde, der die Kosten der anwaltlichen Tätigkeit selbst tragen müsse. Angesichts des Hinweises der Antragstellerin, dass der der Vollstreckung zugrundeliegende Verwaltungsakt aus dem Jahr 2005 offensichtlich fehlerhaft sei, weil er Forderungen des Jahres 2009 beinhalte, dürfe von ihr verlangt werden, dass sie zunächst beim JobCenter vorspreche, um die Aufhebung dieses – wenn auch bestandkräftigen – Titels zu erreichen und somit die Grundlage der Vollstreckung zu beseitigen. In Entscheidungen über eine Gegenvorstellung und eine Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin wurde diese Auffassung bestätigt.
Mit der fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung der Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG). Allein der Druck der bevorstehenden Zwangsvollstreckung sei so stark, dass sich ein bemittelter Rechtsuchender an einen Rechtsanwalt gewandt hätte. Die Beschwerdeführerin, die nur über eine einfache Schulbildung verfüge, sei existentiell betroffen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor.
Die Rechtswahrnehmungsgleichheit fordert eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten im Bereich des gerichtlichen wie außergerichtlichen Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 122, 39 ≪48 f.≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 – 1 BvR 1517/08 –, NJW 2009, S. 3417). Dabei ist der Unbemittelte einem solchen Bemittelten gleichzustellen, der bei seiner Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigt und vernünftig abwägt (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪357≫; 122, 39 ≪51≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 – 1 BvR 1517/08 –, NJW 2009, S. 3417). Ein kostenbewusster Rechtsuchender wird dabei insbesondere prüfen, inwieweit er fremde Hilfe zur effektiven Ausübung seiner Verfahrensrechte braucht oder selbst dazu in der Lage ist.
Bei der Auslegung des Beratungshilfegesetzes und insbesondere des Merkmals der Mutwilligkeit (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 BerHG) hat das Amtsgericht eine Abwägung im Einzelfall zu treffen. Das Bundesverfassungsgericht kann die Wertung des Amtsgerichts nur daraufhin überprüfen, ob es die Bedeutung oder Reichweite der Rechtswahrnehmungsgleichheit verkannt hat. Dabei ist von dem Vortrag auszugehen, der der Entscheidung des Amtsgerichts zugrunde lag.
Anders als der pauschale Verweis auf die Beratungspflicht der Behörde im Widerspruchsverfahren (vgl. BVerfG, NJW 2009, S. 3417) überschreitet die Wertung des hier vorliegenden richterlichen Beschlusses, wonach zunächst Eigeninitiative der Beschwerdeführerin erwartet werden könne, die Grenzen der Rechtswahrnehmungsgleichheit nicht. Soweit die Beschwerdeführerin den Bescheid, auf den sich die Vollstreckungsankündigung bezog, noch nicht einmal kannte, lässt dies entweder auf Nachlässigkeit in eigenen Angelegenheiten oder auf ein offensichtliches Versehen der Behörde schließen. Es darf in einer solchen Situation von einer Rechtsuchenden erwartet werden, durch eine Nachfrage bei der Behörde den Sachverhalt zumindest in groben Zügen zunächst selbst aufzuklären.
Zu einer zumutbaren Eigeninitiative gehört hier der Versuch, sich die wesentlichen Unterlagen zu beschaffen und bei der Behörde nach der Existenz des Bescheids zu fragen. Es ist nicht ersichtlich, dass diese Schritte von der Beschwerdeführerin unternommen wurden. Ein bemittelter kostenbewusster Rechtsuchender würde einen Rechtsanwalt nicht bereits zu einer derartigen Geschäftsbesorgung, sondern erst zur Klärung von Rechtsfragen beauftragen.
Soweit sich die Beschwerdeführerin auf den Druck der bevorstehenden Zwangsvollstreckung beruft, so ist damit noch nicht hinreichend erklärt, warum eine Nachfrage bei der Behörde zum Sachverhalt nicht in Frage käme.
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Kirchhof, Bryde, Schluckebier
Fundstellen