Verfahrensgang
Tenor
1. Der Beschluss des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 24. August 2000 – 3 BS 244/00 – und der Beschluss des Verwaltungsgerichts Dresden vom 26. Juli 2000 – 1 K 1065/00 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
2. Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 5.000 EUR (in Worten: fünftausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes zugunsten eines für einen Jahrmarkt abgelehnten Marktbeschickers.
I.
1. Der Beschwerdeführer betreibt als Schausteller ein Süßwarengeschäft. Im September 1999 bewarb er sich bei einer Gemeinde um einen Standplatz auf dem für Ende August 2000 festgesetzten dortigen Jahrmarkt. Die Gemeinde lehnte den Antrag auf Teilnahme mit Bescheid vom 18. Februar 2000 ab, da die Zahl der Bewerbungen das Platzangebot überschritten habe; bei der Auswahl nach einem Punktesystem habe der Beschwerdeführer nicht berücksichtigt werden können. Das am 20. Februar 2000 eingeleitete Widerspruchsverfahren endete erfolglos mit Widerspruchsbescheid vom 23. Mai 2000. Mit 41 der zugelassenen Bewerber schloss die Gemeinde unter dem 18. Februar 2000 Mietverträge über die Standplätze ab, mit einem Mitbewerber unter dem 16. Mai 2000.
2. Der Beschwerdeführer beantragte am 20. April 2000 beim Verwaltungsgericht, die Gemeinde im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihn zum Markt zuzulassen oder über die Zulassung neu zu entscheiden. Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag mit Beschluss vom 26. Juli 2000 ab, weil die Zulassung bereits wegen der inzwischen erfolgten Platzvergabe an die Konkurrenten tatsächlich unmöglich geworden sei. Der Widerspruch des Beschwerdeführers habe keine aufschiebende Wirkung bezüglich der Zulassung anderer Teilnehmer am Markt entfaltet; denn die Zulassung eines Bewerbers schließe nicht rechtlich, sondern nur tatsächlich die Zulassung eines weiteren Bewerbers auf demselben Platz aus. Das Gericht habe nicht zu prüfen, ob und gegebenenfalls aus welchen Gründen die Ablehnung des Beschwerdeführers durch die Gemeinde rechtswidrig gewesen sei, sondern nur, ob auf dem Jahrmarkt noch Platz für den Stand des Beschwerdeführers vorhanden gewesen sei.
3. Der Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Beschwerde wurde vom Oberverwaltungsgericht abgelehnt. Das Verwaltungsgericht habe es zu Recht abgelehnt, den Beschwerdeführer als Marktbeschicker durch einstweilige Anordnung zuzulassen, weil bei einer tatsächlich erschöpften Platzkapazität die Zulassung aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen unmöglich sei.
4. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die genannten Beschlüsse. Er sieht sich in seinem Grundrecht auf Eröffnung von Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts führe im Ergebnis dazu, dass er seinen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung der Gemeinde nicht mehr durchsetzen könne. Effektiver Rechtsschutz sei nicht mehr gewährleistet, wenn der primäre Rechtsschutz gegen eine gemeindliche Entscheidung aufgrund der besonderen Verfahrenssituation grundsätzlich ausgeschlossen sei und ein Bürger auf Amtshaftungsansprüche oder Fortsetzungsfeststellungsklagen als Sekundärrechtsschutz verwiesen werde.
5. Die Sächsische Staatsregierung, das Bundesverwaltungsgericht und die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung seines Anspruchs auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
a) Insbesondere ist der Rechtsweg erschöpft (§ 90 Abs. 2 BVerfGG); denn gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts ist kein Rechtsmittel gegeben (§ 152 Abs. 1 VwGO). Zwar reicht die Erschöpfung des Rechtswegs im vorläufigen Rechtsschutzverfahren dann nicht aus, wenn das Hauptsacheverfahren ausreichende Möglichkeiten bietet, der Grundrechtsverletzung abzuhelfen, und dieser Weg dem Beschwerdeführer zumutbar ist. Eine solche Möglichkeit ist anzunehmen, wenn mit der Verfassungsbeschwerde ausschließlich Grundrechtsverletzungen gerügt werden, die sich auf die Hauptsache beziehen und dem Beschwerdeführer durch die Verweisung auf den Rechtsweg in der Hauptsache kein schwerer Nachteil entsteht (vgl. BVerfGE 77, 381 ≪401 f.≫; 80, 40 ≪45≫; stRspr). Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor; denn der Beschwerdeführer rügt mit der Verfassungsbeschwerde eine Grundrechtsverletzung, die sich gerade durch das Eilverfahren ergibt. Er wird durch die ablehnenden Beschlüsse im vorläufigen Rechtsschutz dergestalt zu seinem Nachteil beschwert, dass er die erstrebte inhaltliche Überprüfung der gemeindlichen Entscheidung vor der Veranstaltung des Jahrmarktes nicht erreicht hat. Die Möglichkeit einer nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit der Zulassungsentscheidung im Wege einer Fortsetzungsfeststellungsklage oder ein eventuell bestehender Anspruch auf Schadensersatz beseitigen diese Beschwer nicht.
b) Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht ebenfalls nicht entgegen, dass der den Eilentscheidungen zugrunde liegende Jahrmarkt zwischenzeitlich ohne Beteiligung des Beschwerdeführers stattgefunden hat. Dadurch entfällt nicht das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis (vgl. BVerfGE 42, 212 ≪218≫; 50, 234 ≪239≫; 53, 152 ≪157 f.≫). Im Falle der Erledigung des mit der Verfassungsbeschwerde verfolgten Begehrens kommt es für das Fortbestehen eines Rechtsschutzbedürfnisses darauf an, ob entweder die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung andernfalls unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheint oder ob eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist (vgl. BVerfGE 33, 247 ≪257 f.≫; 69, 161 ≪168≫). In Fällen besonders tief greifender und folgenschwerer Grundrechtsverstöße besteht das Rechtsschutzbedürfnis auch dann fort, wenn die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene nach regelmäßigem Geschäftsgang eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kaum erlangen konnte, da der Grundrechtsschutz des Beschwerdeführers sonst in unzumutbarer Weise verkürzt würde (vgl. BVerfGE 34, 165 ≪180≫; 41, 29 ≪43≫; 49, 24 ≪51 f.≫). Der Umstand, dass die Fachgerichte und das Bundesverfassungsgericht oft außerstande sind, schwierige Fragen in kurzer Zeit zu entscheiden, darf nicht dazu führen, dass eine Verfassungsbeschwerde allein wegen des vom Beschwerdeführer nicht zu vertretenden Zeitablaufs verworfen wird (vgl. BVerfGE 74, 163 ≪172 f.≫; 76, 1 ≪38 f.≫; 81, 138 ≪140 f.≫). Der Beschwerdeführer hat jedenfalls ein „Fortsetzungsfeststellungsinteresse”(vgl. zur Übertragung der Terminologie auf die Verfassungsbeschwerde: BVerfGE 79, 275 ≪280≫). Sein schutzwürdiges Interesse an einer Entscheidung ergibt sich sowohl aus der in den nächsten Jahren bestehenden Wiederholungsgefahr als auch aus einem erst nach Feststellung der eventuellen Rechtswidrigkeit des gemeindlichen Handelns möglichen Kompensation materieller Schäden.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Das Bundesverfassungsgericht hat die einschlägigen verfassungsrechtlichen Fragen zur Bedeutung des Art. 19 Abs. 4 GG bereits entschieden.
a) Art. 19 Abs. 4 GG eröffnet den Rechtsweg gegen jede behauptete Verletzung subjektiver Rechte durch ein Verhalten der öffentlichen Gewalt. Gewährleistet wird nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 35, 263 ≪274≫; 35, 382 ≪401 f.≫ m.w.N.; 93, 1 ≪13≫). Dieser muss die vollständige Nachprüfung des angegriffenen Hoheitsakts in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht durch ein Gericht ermöglichen (vgl. BVerfGE 15, 275 ≪282≫; stRspr). Praktische Schwierigkeiten allein sind kein ausreichender Grund, den durch Art. 19 Abs. 4 GG gewährleisteten Rechtsschutz einzuschränken (vgl. BVerfGE 84, 34 ≪55≫).
In Eilverfahren dürfen sich die Fachgerichte dem Bedürfnis nach wirksamer Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht dadurch entziehen, dass sie überspannte Anforderungen an die Voraussetzungen der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes stellen. Das Erfordernis effektiven Rechtsschutzes gebietet, dass gerichtlicher Rechtsschutz namentlich in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich die Maßnahme bei endgültiger rechtlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (vgl. BVerfGE 93, 1 ≪13≫). Daher ist einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, wenn anders dem Antragsteller eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Grundrechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (vgl. BVerfGE 46, 166 ≪179≫; 79, 69 ≪74 f.≫).
b) Nach diesem Maßstab verletzen die angegriffenen Entscheidungen die Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 GG.
Die im Ausgangsverfahren angerufenen Verwaltungsgerichte haben bei der Auslegung von § 70 GewO und § 123 VwGO die Anforderungen wirksamen Rechtsschutzes im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG nicht hinreichend beachtet, indem sie die inhaltliche Überprüfung des vom Beschwerdeführer geltend gemachten Anspruchs auf Teilnahme am Jahrmarkt ablehnten und zur Begründung ohne materielle Prüfung der Vergabeentscheidung allein auf die Erschöpfung der Platzkapazität abstellten. Auf diesen tatsächlichen Umstand hätte das Verwaltungsgericht seine Entscheidung schon deshalb nicht stützen dürfen, weil zum Zeitpunkt des Eingangs des Eilantrags noch nicht alle Plätze vergeben waren. Auch nach den Kriterien des Verwaltungsgerichts wäre effektiver Rechtsschutz also noch möglich gewesen. Selbst wenn aber zu diesem Zeitpunkt bereits alle Standplätze vergeben gewesen wären, hätte die Ablehnung einstweiligen Rechtsschutzes nicht alleine auf diesen Umstand gestützt werden dürfen. Vielmehr war die angegriffene Vergabeentscheidung jedenfalls einer summarischen inhaltlichen Prüfung zu unterziehen.
Die von den Verwaltungsgerichten vertretene Rechtsauffassung unterläuft einen effektiven Primärrechtsschutz für abgelehnte Marktstandbewerber. Sie führt dazu, dass die veranstaltende Gemeinde eine inhaltliche Kontrolle ihrer Entscheidung nur im Verfahren einer Fortsetzungsfeststellungsklage oder im Rahmen eines Schadensersatzprozesses wegen eines Amtshaftungsanspruchs zu gewärtigen hätte. Das von Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Recht des Beschwerdeführers auf Ausübung seines Berufes als Marktbeschicker oder Teilnahme an einer korrekten Bewerberauswahl zu diesem Jahrmarkt ist aber bereits mit der verzögerten oder verweigerten Sachentscheidung im einstweiligen Rechtsschutz unwiederbringlich verloren, ohne dass eine von Art. 19 Abs. 4 GG geforderte inhaltliche Überprüfung der Vergabeentscheidung durch ein Gericht stattgefunden hätte.
Ausnahmsweise bestehende besondere Gründe, welche die endgültige Vereitelung dieses Rechts des Beschwerdeführers rechtfertigten, sind nicht erkennbar:
Eine eventuelle Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigt es nicht, die Erfordernisse eines effektiven Rechtsschutzes hintanzustellen. Die von der Rechtsprechung im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG entwickelten Grundsätze zu Ausnahmen vom Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache stellen zu Recht regelmäßig auch auf den irreparablen Rechtsverlust als solchen oder das Zeitmoment ab, wenn eine Entscheidung in der Hauptsache mit hoher Wahrscheinlichkeit zu spät käme (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl. München 2000, § 123 Rn. 14 ff. m.w.N.).
Auch die Erschöpfung der Platzkapazität rechtfertigt nicht die Versagung effektiven einstweiligen Rechtsschutzes. Ergibt die Überprüfung der versagenden Vergabeentscheidung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, dass ein Standplatz zu Unrecht vorenthalten wurde, hat das Fachgericht eine entsprechende Verpflichtung des Marktanbieters auszusprechen. Es ist dann die im Einzelnen vom Gericht nicht zu regelnde Sache des Marktanbieters, diese Verpflichtung umzusetzen. Sowohl das öffentliche Recht wie das Privatrecht halten mit Widerruf und Rücknahme oder der Möglichkeit der (außerordentlichen) Kündigung, gegebenenfalls gegen Schadensersatz für den rechtswidrig bevorzugten Marktbeschicker, Vorkehrungen für den Fall bereit, dass die öffentliche Hand eine zunächst gewährte Rechtsposition entziehen muss. Die Bescheidung von (vorerst) erfolgreichen Mitbewerbern oder der Abschluss von Mietverträgen mit ihnen ist demnach weder ein rechtliches noch ein faktisches Hindernis, das die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes für einen zu Unrecht übergangenen Antragsteller unmöglich machte. Die Marktanbieter haben es in der Hand, durch die Regelung entsprechender Widerrufsvorbehalte oder die Vereinbarung entsprechender Kündigungsklauseln für diese Fälle vorzusorgen.
c) Die angegriffenen Beschlüsse beruhen auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Die Entscheidungen sind aufzuheben, die Sache ist an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
3. Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Gegenstandswertes auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO.
Unterschriften
Jaeger, Hömig, Bryde
Fundstellen
Haufe-Index 841113 |
NJW 2002, 3691 |
NVwZ 2003, 729 |
NJ 2003, 81 |
VR 2004, 252 |
BayVBl. 2003, 303 |
DVBl. 2003, 257 |
JURAtelegramm 2003, 104 |
SächsVBl. 2003, 21 |