Verfahrensgang
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 11. Dezember 2000 – 1 A 1074/96 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Braunschweig zurückverwiesen.
Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerde-Verfahren zu erstatten.
Tatbestand
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft den Inhalt des Anspruchs auf rechtliches Gehör.
I.
1. Der Beschwerdeführer ist vietnamesischer Staatsangehöriger. Er reiste im März 1996 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte seine Anerkennung als Asylberechtigter.
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte den Antrag als (schlicht) unbegründet ab und drohte ihm die Abschiebung nach Vietnam an. Auf Art. 16a Abs. 1 GG könne er sich schon deshalb nicht berufen, weil er auf dem Landweg eingereist sei. Abschiebungshindernisse nach § 51 Abs. 1 AuslG lägen ebenfalls nicht vor. Die vom Beschwerdeführer angeführten Verhöre bei der Polizei sowie Hausdurchsuchungen überschritten nicht die Schwelle, die bloße Belästigungen von politischer Verfolgung trenne. Zudem habe er Vietnam mit eigenem Reisepass und ohne jegliche Schwierigkeiten bei der Ausreisekontrolle verlassen; das spreche gegen ein großes Interesse der vietnamesischen Behörden an seiner Person. Der Verweis von der Privatschule – gemeint ist hier offensichtlich die vom Beschwerdeführer bei seiner Anhörung als Privatuniversität bezeichnete Ausbildungsstätte – sei ebenfalls nicht von asylrechtlicher Bedeutung, weil der vietnamesische Staat dem Beschwerdeführer damit die Schaffung einer wirtschaftlichen Existenzgrundlage noch nicht verwehrt habe. Allein wegen seines illegalen Aufenthalts und der Asylantragstellung in der Bundesrepublik Deutschland habe er ebenfalls keine Verfolgung zu befürchten.
2. a) Gegen den Bescheid des Bundesamtes erhob der Beschwerdeführer Klage beim Verwaltungsgericht Braunschweig. Ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung erschien er zur mündlichen Verhandlung am 11. Dezember 2000 persönlich. Nach Vortrag des Sachberichts durch den Einzelrichter erklärte der Beschwerdeführer laut Protokoll, er habe „über sein bisheriges Vorbringen” – gemeint wohl: über sein bisheriges Vorbringen hinaus – nichts weiter vorzutragen. Weiter vermerkt das Protokoll, dass dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben und die Sach- und Rechtslage mit ihm erörtet wurde.
b) Mit dem angegriffenen Urteil vom 11. Dezember 2000 wies das Verwaltungsgericht Braunschweig die Asylklage als offensichtlich unbegründet ab. Von einer offensichtlichen Unbegründetheit sei auszugehen, wenn nach vollständiger Erforschung des Sachverhalts an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen vernünftigerweise kein Zweifel bestehen könne und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung die Erfolglosigkeit des Asylbegehrens geradezu aufdränge. So liege es im Fall des Beschwerdeführers. Er habe eindeutig keine Gründe vorgebracht, die seinen Klageanspruch rechtfertigen könnten. Im Übrigen brauche das Gericht im vorliegenden Verfahren, soweit das tatsächliche Vorbringen des Beschwerdeführers unzureichend geblieben sein sollte, keine weitere Sachaufklärung zu betreiben. Die Sachaufklärungspflicht finde ihre Grenze an der Mitwirkungspflicht der Beteiligten. Der Beschwerdeführer habe seiner Pflicht zur Mitwirkung an der Aufklärung des Sachverhalts nicht genügt. Trotz ordnungsgemäßer Ladung und obwohl er nicht von der Unerheblichkeit seines persönlichen Erscheinens habe ausgehen können, sei er ohne Entschuldigung nicht persönlich zum Termin zur mündlichen Verhandlung erschienen. Die Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung sei als zusätzliches Anzeichen dafür zu werten, dass die behauptete Verfolgungsfurcht nicht begründet sei.
II.
1. Mit seiner fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 16a Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 sowie von Art. 103 Abs. 1 GG.
Das Verwaltungsgericht habe ihm rechtliches Gehör verweigert. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichte das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das sei hier unterblieben, weil das Verwaltungsgericht nicht einmal seine Anwesenheit in der mündlichen Verhandlung zur Kenntnis genommen habe. Ausweislich des Protokolls sei er dort zugegen gewesen und habe sich zur Sache geäußert. Ungeachtet dessen werfe ihm das Gericht in den Entscheidungsgründen vor, der mündlichen Verhandlung ohne Entschuldigung ferngeblieben zu sein und damit seine Mitwirkungspflicht verletzt zu haben. Es weise in der Urteilsbegründung selbst darauf hin, dass es seine Anwesenheit für erforderlich gehalten hätte. Es sei daher durchaus denkbar, dass das Verwaltungsgericht ohne diesen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.
2. Die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt, als Beteiligte des Ausgangsverfahrens sowie das Niedersächsische Justizministerium hatten Gelegenheit zur Äußerung. Sie haben von einer Stellungnahme abgesehen.
Entscheidungsgründe
B.
I.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93b in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt.
Die für die Beurteilung des Falles maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundsätze hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt (s. unter II. 1.). Nach diesen Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet, so dass die Entscheidungskompetenz der Kammer besteht (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
II.
Das angegriffene Urteil verletzt den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG.
1. Art. 103 Abs. 1 GG garantiert den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens, dass sie hinreichende Gelegenheit erhalten, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern und dadurch auf die Willensbildung des Gerichts Einfluss zu nehmen (BVerfGE 22, 114 ≪119≫; 49, 212 ≪215≫; 94, 166 ≪207≫). Art. 103 Abs. 1 GG ist verletzt, wenn tatsächliches Vorbringen eines Beschwerdeführers entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen wurde (BVerfGE 86, 133 ≪145 f.≫; stRspr).
Nach diesen Maßstäben hat das Verwaltungsgericht den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör missachtet. Das Gericht hat nicht nur die im Protokoll vermerkte Äußerung des Beschwerdeführers nicht zur Kenntnis genommen und bereits dadurch den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt. Es hat darüber hinaus auch nicht zur Kenntnis genommen, dass der Beschwerdeführer zum Termin anwesend war. Aus der unterstellten Abwesenheit des Beschwerdeführers hat das Gericht geschlossen, dass die geltend gemachte Verfolgungsfurcht nicht bestehe. Soweit ein Gericht nichtsprachliche Handlungen oder Unterlassungen eines Prozessbeteiligten als Äußerung zu entscheidungsrelevanten Tatsachenfragen deutet, unterliegt es den dargelegten Anforderungen aus Art. 103 Abs. 1 GG. Es darf bei seiner Entscheidung nicht, wie im vorliegenden Fall geschehen, von unzutreffenden Feststellungen und Deutungen eines solchen Verhaltens ausgehen.
2. Die angegriffene Entscheidung beruht auf dem Grundrechtsverstoß und ist daher aufzuheben (vgl. BVerfGE 18, 399 ≪407≫; 36, 92 ≪97≫; 86, 133 ≪144≫). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Gericht ohne den Gehörsverstoß zu einer dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung als der einer Klageabweisung als offensichtlich unbegründet gelangt wäre. Die Sache ist daher an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§§ 93c Abs. 2, 95 Abs. 2 BVerfGG).
3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Jentsch, Broß, Lübbe-Wolff
Fundstellen