Verfahrensgang
LG Mainz (Beschluss vom 25.01.1996; Aktenzeichen 1 Qs 23/96) |
Tenor
Der Beschluß des Landgerichts Mainz vom 25. Januar 1996 – 1 Qs 23/96 – verletzt den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 und Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben.
Die Sache wird an das Landgericht Mainz zurückverwiesen.
Das Land Rheinland-Pfalz hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Anordnung von Beugehaft in einem Strafverfahren, in dem er als Zeuge unter Berufung auf § 55 Abs. 1 StPO die Auskunft verweigert hat.
Der Ermittlungsrichter des Amtsgerichts vernahm den Beschwerdeführer auf Antrag der Staatsanwaltschaft in einem Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt wegen des Verdachts des unerlaubten Entfernens vom Unfallort als Zeugen zu der Frage, wer sein Kraftfahrzeug zum Unfallzeitpunkt geführt habe. Der Beschwerdeführer verweigerte unter Berufung auf § 55 StPO die Auskunft auf diese Frage mit der Begründung, er setze sich bei pflichtgemäßer und vollständiger Äußerung selbst der Gefahr der Strafverfolgung aus. Der Ermittlungsrichter ordnete daraufhin “gem. § 70 Abs. 2 StPO Ordnungshaft” bis zu sechs Wochen an. Mit der angegriffenen Entscheidung verwarf das Landgericht die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Entscheidung des Ermittlungsrichters als unbegründet. Zur Begründung führte das Landgericht unter Bezugnahme auf vorausgegangene Entscheidungen in dieser Sache aus, das Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 StPO stehe dem Beschwerdeführer nicht zu, weil er ausweislich seiner früheren Angaben durch eine wahrheitsgemäße Aussage weder sich noch einen Angehörigen der Gefahr der Strafverfolgung aussetzen werde. Bei diesen früheren Angaben handelt es sich um die Einlassung des Beschwerdeführers in dem gegen ihn wegen desselben Tatverdachts geführten, im Zeitpunkt der Vernehmung gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellten Ermittlungsverfahren. Hier hatte sich der Beschwerdeführer zu dem Tatvorwurf dahin eingelassen, er kenne den Namen des Fahrers, der mit seinem Kraftfahrzeug den Unfall verursacht habe, und dieser sei mit ihm weder verwandt noch verschwägert. Er mache aber gegenüber der Polizei keine weiteren Angaben, weil er sich möglicherweise in dieser Sache selbst belasten könne.
Entscheidungsgründe
II.
Mit der fristgemäß erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1, von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 und von Art. 3 Abs. 1 GG und hat zur Begründung vorgetragen, der durch die angegriffenen Entscheidungen verursachte Zwang zur Aussage verstoße nicht nur gegen § 55 StPO, sondern auch gegen sein durch die Verfassung geschütztes Persönlichkeitsrecht.
Das Justizministerium des Landes Rheinland-Pfalz hat Gelegenheit erhalten, sich zu der Verfassungsbeschwerde zu äußern (§ 94 Abs. 2 BVerfGG).
III.
Der Verfassungsbeschwerde ist durch die Kammer stattzugeben (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Dem Beschwerdeführer droht aufgrund der angegriffenen Entscheidung Freiheitsentzug von nicht unerheblicher Dauer, mithin ein besonders schwerer Nachteil.
Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind bereits entschieden (vgl. BVerfGE 38, 105 ff.; 56, 37 ff.).
Die angegriffene Entscheidung verletzt die Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG. Die Anordnung der Beugehaft soll die Erfüllung einer Auskunftspflicht erzwingen, deren Auferlegung gegen Grundrechte des Beschwerdeführers verstößt.
Die Auferlegung einer Auskunftspflicht, durch die die Auskunftsperson in die Konfliktsituation geraten kann, sich entweder selbst einer strafbaren Handlung zu bezichtigen oder durch eine Falschaussage gegebenenfalls ein neues Delikt zu begehen oder aber wegen ihres Schweigens Zwangsmitteln ausgesetzt zu werden, ist als Eingriff in die Handlungsfreiheit sowie als Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG zu beurteilen. Ein Zwang zur Selbstbezichtigung berührt zugleich die Würde des Menschen, dessen Aussage als Mittel gegen ihn selbst verwendet wird (vgl. BVerfGE 56, 37 ≪41 f.≫). Unzumutbar und mit der Würde des Menschen unvereinbar ist ein Zwang, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für eine strafrechtliche Verurteilung oder die Verhängung entsprechender Sanktionen liefern zu müssen (vgl. BVerfG a.a.O., S. 49). Das Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 Abs. 1 StPO ist Ausfluß dieses allgemeinen, für den Beschuldigten in §§ 136, 163a, 243 StPO und entsprechenden Vorschriften als selbstverständlich vorausgesetzten rechtsstaatlichen Grundsatzes, daß niemand gezwungen werden kann, gegen sich selbst auszusagen (vgl. BVerfGE 38, 105 ≪113≫).
Ist über die Berechtigung einer auf § 55 StPO gestützten Auskunftsverweigerung zu entscheiden, muß nach der strafgerichtlichen Rechtsprechung die Möglichkeit einer Bejahung und einer Verneinung der an den Zeugen gerichteten Frage in gleicher Weise in Betracht gezogen werden. Bringt auch nur eine dieser Möglichkeiten den Zeugen in die Gefahr einer Strafverfolgung, ist die Auskunftsverweigerung in der Regel berechtigt. Andernfalls würde der (schuldige) Zeuge durch den Gebrauch des Auskunftsverweigerungsrechts einen Verdachtsgrund gegen sich schaffen, was dem Schutzzweck von § 55 StPO zuwiderliefe (vgl. BGHR StPO § 55 Abs. 1 Auskunftsverweigerung 3). Für die Gefahr der strafgerichtlichen Verfolgung muß es konkrete tatsächliche Anhaltspunkte geben (vgl. BGHR StPO § 55 Abs. 1 Auskunftsverweigerung 5). Ob diese Gefahr besteht, unterliegt der tatsächlichen Beurteilung durch den Tatrichter (vgl. BGHR StPO § 55 Abs. 1 Auskunftsverweigerung 2).
Unter Berücksichtigung der dargestellten strafgerichtlichen Rechtsprechung zu § 55 StPO lassen die Gründe der angegriffenen Entscheidung besorgen, daß das Landgericht bei der ihm obliegenden Beurteilung, ob dem Beschwerdeführer strafgerichtliche Verfolgung drohte, den verfassungsrechtlichen Grundsatz, der in der genannten Vorschrift zum Ausdruck kommt, grundlegend verkannt hat. Tatsächlicher Anhaltspunkt für die Annahme, daß der Beschwerdeführer sich bei wahrheitsgemäßer Beantwortung der an ihn gestellten Frage selbst der verfahrensgegenständlichen Straftat bezichtigen müßte, ist der Umstand, daß er Halter des offenbar privatgenutzten unfallbeteiligten Fahrzeugs ist. Diesen tatsächlichen Anhaltspunkt sah das Landgericht durch seine Erklärungen gegenüber der Polizei und der Staatsanwaltschaft als entkräftet an. Das Landgericht legte aber nicht offen, aufgrund welcher Überlegungen es die naheliegende Möglichkeit ausschloß, daß es sich bei diesen Erklärungen lediglich um eine Schutzbehauptung des Beschwerdeführers gehandelt habe. Die Staatsanwaltschaft schloß diese Möglichkeit ersichtlich nicht aus. Dies ergibt sich aus der Begründung für die Verfügung, mit der sie das gegen den Beschwerdeführer eingeleitete Strafverfahren einstellte. Dort wird ausgeführt, es könne dem Beschwerdeführer nicht nachgewiesen werden, daß er zum Zeitpunkt des Unfalls das Fahrzeug selbst gefahren habe. Der verfassungsrechtliche Grundsatz, daß niemand gezwungen werden kann, gegen sich selbst auszusagen, hätte das Landgericht zumindest veranlassen müssen, sich in den Gründen der angegriffenen Entscheidung mit der Glaubhaftigkeit der von dem Beschwerdeführer als Beschuldigten abgegebenen Erklärungen auseinanderzusetzen.
Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß die angegriffene Entscheidung auf dem Verfassungsverstoß beruht.
Die Auslagenentscheidung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Limbach, Winter, Hassemer
Fundstellen
Haufe-Index 1276515 |
NJW 1999, 779 |
DAR 1999, 65 |
StV 1999, 71 |
www.judicialis.de 1998 |