Entscheidungsstichwort (Thema)
Beschränkte Aufenthaltsgestattung von Asylbewerbern
Verfahrensgang
LG Hildesheim (Beschluss vom 22.11.2001; Aktenzeichen 26 Qs 117/01) |
LG Hildesheim (Beschluss vom 22.11.2001; Aktenzeichen 26 Qs 118/01) |
AG Holzminden (Beschluss vom 29.09.2001; Aktenzeichen 13 AR 11/01) |
AG Holzminden (Beschluss vom 29.09.2001; Aktenzeichen 13 AR 12/01) |
Tenor
1. Die Beschlüsse des Landgerichts Hildesheim vom 22. November 2001 – 26 Qs 117 und 118/01 – sowie die Beschlüsse des Amtsgerichts Holzminden vom 29. September 2001 – 13 AR 11 und 12/01 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Abs. 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes). Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Holzminden zurückverwiesen.
2. Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden betreffen strafrechtliche Wiederaufnahmeverfahren.
A. – I.
1. Der Beschwerdeführer ist Asylbewerber aus dem Irak, dessen Aufenthaltsgestattung auf den Landkreis Peine räumlich beschränkt ist. Das Amtsgericht Peine setzte mit Strafbefehlen vom 21. März und 4. September 2000 gegen den Beschwerdeführer eine Geldstrafe von 15 und 30 Tagessätzen fest, weil er am 23. Januar und 14. April 2000 wiederholt seiner Aufenthaltsbeschränkung nach § 56 AsylVfG zuwidergehandelt habe. Beide Strafbefehle wurden rechtskräftig.
2. Mit gleich lautenden Schreiben vom 25. Juni und 16. August 2001 beantragte der Beschwerdeführer die Wiederaufnahme der Strafverfahren. Seit 1990 seien aus tatsächlichen Gründen keine Abschiebungen in den Irak möglich. (Zum Beweis legte der Beschwerdeführer den Erlass des Niedersächsischen Innenministeriums vom 18. Februar 1998 vor). Aus dem Akteninhalt ergebe sich, dass diese Tatsache im Sinn des § 359 Nr. 5 StPO dem Amtsgericht Peine nicht bekannt gewesen sei. Sie sei auch geeignet, die Freisprechung des Beschwerdeführers zu begründen. Auf Grund des tatsächlichen Abschiebungshindernisses habe er gemäß § 58 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG den Geltungsbereich seiner Aufenthaltsgestattung vorübergehend verlassen dürfen.
3. Das Amtsgericht Holzminden verwarf die Wiederaufnahmeanträge mit Beschlüssen vom 29. September 2001 als unzulässig, weil der Beschwerdeführer lediglich die Nichtanwendung einer Rechtsnorm gerügt habe.
4. Der Beschwerdeführer erhob sofortige Beschwerden, die das Landgericht Hildesheim mit Beschlüssen vom 29. September 2001 verwarf. Dem Amtsgericht Holzminden sei allenfalls ein rechtlicher Fehler in Form der Nichtbeachtung des § 58 Abs. 4 AsylVfG unterlaufen. Die Tatsachen, die zur Bestimmung des ausländerrechtlichen Status des Beschwerdeführers erforderlich gewesen seien (Staatsangehörigkeit und Aufenthalt), seien dem Gericht bekannt gewesen. Die Nichtanwendung einer begünstigenden Vorschrift könne nach Rechtskraft der Entscheidung nicht mehr gerügt werden.
5. Mit Schreiben vom 4. Dezember 2001 erhob der Beschwerdeführer Gegenvorstellungen. Das Landgericht habe nicht berücksichtigt, dass aus der Kenntnis der Staatsangehörigkeit nicht geschlossen werden könne, dem Amtsgericht sei auch die Abschiebungslage in den Irak bekannt gewesen. Hätte sie diese gekannt, wäre eine Auseinandersetzung mit § 58 Abs. 4 AsylVfG geboten gewesen.
Das Landgericht sah in den Gegenvorstellungen keinen Anlass, seine Entscheidungen abzuändern.
II.
Mit den rechtzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerden rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 1 GG.
Die angegriffenen Entscheidungen ließen unberücksichtigt, dass sich aus den Strafakten der Staatsanwaltschaft Hildesheim sowie den Strafbefehlen keine Hinweise darauf ergäben, dass dem Amtsgericht Peine die Abschiebungslage in den Irak bekannt gewesen sei. Dabei handele es sich im Gegensatz zu der bekannten Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers um eine neue Tatsache im Sinne des Wiederaufnahmerechts. Die Nichtberücksichtigung dieses sich aus den Akten des Strafbefehlsverfahrens ergebenden Fehlers bei der Tatsachenfeststellung verletze das Grundrecht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz und das Gebot rechtlichen Gehörs.
III.
Das Justizministerium des Landes Niedersachsen hat von einer Stellungnahme abgesehen.
Entscheidungsgründe
B.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig und – in einer die Entscheidungszuständigkeit der Kammer gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG eröffnenden Weise – auch offensichtlich begründet; die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
I.
1. Das Rechtsinstitut der Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens ist dazu bestimmt, den Konflikt zwischen den Grundsätzen der materialen Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit zu lösen, die sich beide verfassungskräftig aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten (BVerfGE 22, 322 ≪329≫). Demgemäß ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass im Wiederaufnahmeverfahren zunächst die Zulässigkeit gemäß § 368 Abs. 1 StPO zu prüfen ist, dass mithin der Antrag auf Wiederaufnahme als unzulässig verworfen wird, wenn er nicht in der vorgeschriebenen Form angebracht ist, wenn weder ein gesetzlicher Grund der Wiederaufnahme geltend gemacht noch ein geeignetes Beweismittel angeführt wird und wenn die Strafprozessordnung bei der Wiederaufnahme wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel (§ 359 Nr. 5 StPO) eine Vorprüfung vorsieht, ob das Vorbringen geeignet ist, die Freisprechung des Angeklagten oder – in Anwendung eines milderen Strafgesetzes – eine geringere Bestrafung zu begründen (vgl. Beschluss des Vorprüfungsausschusses des Bundesverfassungsgerichts vom 6. November 1974, 2 BvR 407/74, MDR 1975, S. 468 f.).
Weicht das Wiederaufnahmegericht von diesen Grundsätzen im Sinne einer wesentlichen Verschlechterung der Chancen des Verurteilten auf Erlangung eines gerechten Richterspruchs ab, so verfehlt es das Ziel des Wiederaufnahmeverfahrens, den Konflikt zwischen materialer Gerechtigkeit und Rechtssicherheit angemessen zu lösen. Wird das Wiederaufnahmeverfahren – an seinem Ziel gemessen – derart ineffektiv, so steht dies in Widerspruch zum Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes und verletzt den Verurteilten in dessen Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG, das ein Recht auf effektiven Rechtsschutz in sich schließt (vgl. BVerfGE 53, 115 ≪127 f.≫; Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 1993, 2 BvR 1746/91, NJW 1993 S. 2735 f. und vom 7. September 1994, 2 BvR 2093/93, NJW 1995, S. 2024).
2. Bei Strafbefehlen, die einem rechtskräftigen Urteil gleich stehen (§ 410 Abs. 3 StPO) und auf die die für die Wiederaufnahme geltenden Vorschriften (§§ 359 bis 373 StPO) entsprechend anzuwenden sind (§ 373a Abs. 2 StPO), ist hinsichtlich der Beweiswürdigung und für die Beurteilung, ob neue Tatsachen und Beweismittel vorliegen, auf die Aktenlage abzustellen. Dabei ist es rechtsstaatlich geboten, sich aus den Akten aufdrängende, klar auf der Hand liegende Fehler bei der Tatsachenfeststellung zu beachten (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 1993, 2 BvR 1746/91, NJW 1993 S. 2735 f. m.w.N.).
II.
Diesen sich aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine nach §§ 359 ff. StPO zu treffende Entscheidung werden die angefochtenen Beschlüsse nicht gerecht.
1. Die den angefochtenen Entscheidungen zu Grunde liegende Auffassung, bei Erlass der Strafbefehle sei es allenfalls zu Rechtsanwendungsfehlern gekommen, ist nicht tragfähig. Unter Tatsachen sind als existierend feststellbare Vorgänge oder Zustände zu verstehen, die der Gegenwart oder Vergangenheit zugehören. Ob eine Tatsache neu ist, beurteilt sich allein danach, ob das Gericht sie bereits verwertet hat. Neu ist damit grundsätzlich alles, was der Überzeugungsbildung des Gerichts nicht zu Grunde gelegt worden ist, auch wenn es ihr hätte zu Grunde gelegt werden können (vgl. Gössel in Löwe-Rosenberg, 25. Aufl., 1997, Rdnr. 58, 96 zu § 359 StPO m.w.N.). Der Umstand, dass keine Möglichkeit der Abschiebung in den Irak besteht, ist mithin eine Tatsache, die unabhängig davon neu ist, ob dem Amtsgericht bei Strafbefehlserlass bekannt war, dass der Beschwerdeführer irakischer Staatsangehöriger und Asylbewerber ist, weil sich für eine Berücksichtigung dieser Tatsache kein Anhaltspunkt in den Gerichtsakten findet.
2. Diese Tatsache, die durch ein dem Wiederaufnahmeantrag beigefügtes Beweismittel belegt war, war auch geeignet, die Freisprechung des Beschwerdeführers zu begründen.
Nach der in der fachgerichtlichen Rechtsprechung herrschenden Ansicht ist im Aditionsverfahren vom Standpunkt des erkennenden Gerichts aus (BGHSt 39, 75 ≪86≫ m.w.N.) zu prüfen, ob dessen Entscheidung bei Berücksichtigung der neuen Beweise anders ausgefallen wäre. Dabei schließt das Zulassungsverfahren eine Wahrscheinlichkeitsprognose ein (BGHSt 39, 75 ≪85≫).
Bei der hier vorliegenden Unvollständigkeit des festgestellten Sachverhalts im Hinblick auf § 58 Abs. 4 AsylVfG, der einen tatbestandsmäßigen Verstoß gegen § 85 Nr. 2 AsylVfG ausschließt (Franke in: Gemeinschaftskommentar zu Asylverfahrensgesetz, Rdnr. 24 zu § 85), ist davon auszugehen, dass das erkennende Gericht bei Kenntnis der neuen Tatsache den Erlass der Strafbefehle abgelehnt hätte (§ 408 Abs. 2 StPO). Da sich der Wahrscheinlichkeitsmaßstab auf den Ausgang des Wiederaufnahmeverfahrens bezieht und nicht darauf, ob das erkennende Gericht bei Kenntnis von der Unmöglichkeit der Abschiebung gleichwohl mangels Rechtskenntnis § 58 Abs. 4 AsylVfG unangewendet gelassen hätte, lassen sich die angefochtenen Entscheidungen auch nicht aus anderen Gründen rechtfertigen. Mit Ausnahme des Falles der Mitwirkung eines unredlichen Richters (§ 359 Nr. 3 StPO) kann die auf falscher Rechtsauffassung beruhende „noch so falsche Entscheidung” nur bei Unrichtigkeit des der fehlerhaften Entscheidung zu Grunde liegenden Sachverhalts beseitigt werden (BGHSt 39, 75 ≪79≫ m.w.N.). Es stellt daher eine wesentliche Verschlechterung der Chancen des Verurteilten auf Erlangung eines gerechten Richterspruchs dar, wenn die angefochtenen Entscheidungen ohne Prüfung, ob neue Tatsachen vorliegen, darauf abstellen, dass letztendlich eine begünstigende gesetzliche Vorschrift nicht angewendet worden sei.
III.
Die angegriffenen Beschlüsse waren gemäß §§ 93c Abs. 2, 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht Holzminden zurückzuverweisen.
IV.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Jentsch, Broß, Lübbe-Wolff
Fundstellen