Verfahrensgang
Tenor
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 9. April 2001 – OVG 1 S 96/01 – und der Beschluss des Verwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 2. Februar 2001 – 6 E 127/01 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes in seiner Bedeutung als Willkürverbot. Die Entscheidungen werden aufgehoben.
Die Sache wird an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Das Land Bremen hat dem Beschwerdeführer die ihm im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 30.000 DM (in Worten: dreißigtausend Deutsche Mark) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen Beschlüsse über die Festsetzung des Gegenstandswerts für seine anwaltliche Tätigkeit.
1. Der Beschwerdeführer ist Fachanwalt für Verwaltungs- und Sozialrecht. Er erhob für 29 Mandanten jeweils gesondert Klage beim Verwaltungsgericht, um die Zulassung zum Studium im Studiengang Sozialwesen zum Wintersemester 2000/2001 zu erreichen. In der mündlichen Verhandlung wurden insgesamt 47 Verfahren, bei denen es um die Zulassung zum Studium im Fach Sozialwesen ging, unter ihnen die vom Beschwerdeführer vertretenen Klagen, gleichzeitig verhandelt. In sämtlichen Verfahren wurde ein Vergleich folgenden Inhalts abgeschlossen:
- Die Beklagte lässt die 47 zur mündlichen Verhandlung erschienenen bzw. anwaltlich vertretenen Klägerinnen und Kläger als Studienanfänger zum Studium im Studiengang Sozialwesen der Hochschule B. zum Wintersemester 2000/2001 zu.
- Die Beklagte hebt die Widerspruchsbescheide einschließlich der darin bestimmten Gebührenregelungen sowie die Erstbescheide auf.
- Die Klägerinnen und Kläger tragen jeweils die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten des Vorverfahrens.
Nach Protokollierung des Vergleichs stellte das Gericht durch Beschluss vom 22. Dezember 2000 die Verfahren ein und setzte den Streitwert in jedem Verfahren auf 8.000 DM fest. 17 Mandanten, die der Beschwerdeführer vertrat, war Prozesskostenhilfe bewilligt worden. Für diese Mandanten rechnete er seine Gebühren gegenüber der Staatskasse ab. Auf Antrag des Vertreters der Staatskasse wurde durch Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 2. Februar 2001 der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit ab Beginn der mündlichen Verhandlung auf 232.000 DM (29 × 8.000 DM) festgesetzt. Zur Begründung seines Beschlusses führte das Gericht aus, dass die Staatskasse gemäß § 10 Abs. 2 Satz 2 der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte (im Folgenden: BRAGO) antragsbefugt sei, wofür genüge, dass nur in einem Teil der vom Beschwerdeführer vertretenen Klageverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt worden sei. Die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 BRAGO für die gesonderte Festsetzung des Gegenstandswerts für die anwaltliche Tätigkeit lägen vor, da durch den voraufgegangenen Streitwertbeschluss nur Einzelstreitwerte für die Gerichtsgebühren festgesetzt worden seien. Die Addition der Einzelstreitwerte ergebe sich aus § 7 Abs. 2 BRAGO, da es sich um dieselbe Angelegenheit gehandelt habe. Die vom Beschwerdeführer eingereichten Klagen für die von ihm vertretenen 29 Mandanten seien zusammen mit weiteren Klagen auf Grund faktischer Verbindung verhandelt worden. Eine förmliche Verbindung sei nicht erfolgt, da zunächst geklärt werden sollte, ob überhaupt und in welchen Einzelverfahren eine gerichtliche Entscheidung erforderlich werden würde. Auch inhaltlich stimmten die 29 Aufträge überein. In allen Fällen habe es sich um einen Kapazitätsstreit gehandelt, der den gleichen Studiengang und Zulassungszeitpunkt betroffen habe.
Die hiergegen eingelegte Beschwerde wurde vom Oberverwaltungsgericht durch Beschluss vom 9. April 2001 zurückgewiesen. Begründet wurde die Entscheidung damit, dass gegen die Streitwertfestsetzung für die Gerichtsgebühren erhebliche Bedenken bestünden, was aber auf sich beruhen könne, da die Festsetzung für die Bemessung der anwaltlichen Gebühren nicht bindend sei. Zwar sei § 10 Abs. 1 BRAGO gegenüber § 9 Abs. 1 BRAGO subsidiär. Entscheidend für die Anwendung von § 10 Abs. 1 BRAGO sei aber nicht, ob eine Streitwertfestsetzung möglich, sondern ob sie maßgeblich für die Berechnung der Anwaltsgebühren sei. Selbst wenn es denkbar wäre, in einer einheitlichen Verhandlung 47 Einzelstreite fortzuführen, dürften die Einzelstreitwerte nach § 7 Abs. 2 BRAGO nicht der anwaltlichen Gebührenbemessung zugrunde gelegt werden, sondern seien zusammenzurechnen.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Die angegriffenen Beschlüsse verstießen gegen das Willkürverbot. Es sei in mehrfacher Hinsicht einfaches Recht verletzt worden. Dies sei nur dadurch zu erklären, dass aus rein fiskalischen Erwägungen versucht worden sei, seinen sachgerechten, aber für zu hoch angesehenen Gebührenanspruch gegenüber der Staatskasse zu mindern. § 10 Abs. 1 BRAGO sei durch § 9 Abs. 1 BRAGO gesperrt. Das Rechtsinstitut der „faktischen Verbindung” zwecks Reduzierung der Anwaltsgebühren gebe es nicht. Auch liege nicht „dieselbe Angelegenheit” gemäß § 7 Abs. 2 BRAGO vor, da die Mandanten ihn unabhängig voneinander aufgesucht und Klageauftrag erteilt hätten. Da jeder Kläger einen Studienplatz begehrt habe, seien die verschiedenen Mandanten sogar untereinander Konkurrenten gewesen.
Falls die Staatskasse gemäß § 10 Abs. 2 Satz 2 BRAGO antragsberechtigt sein sollte, könne sich ein solcher Antrag nur auf Verfahren auswirken, in denen Prozesskostenhilfe bewilligt worden sei. Es gebe keinen sachlichen Grund, auch die Selbstzahler zu erfassen. Ferner werde eine unsachgemäße Differenzierung zwischen Gerichtskosten und Anwaltsgebühren vorgenommen. Es könne nicht sein, dass die Staatskasse bei den Selbstzahlern einen Streitwert von jeweils 8.000 DM ansetze, während er nur aus der Summe der Einzelstreitwerte abrechnen könne. Außerdem führten die angegriffenen Beschlüsse zu einer unberechtigten Ungleichbehandlung mit den übrigen beteiligten Rechtsanwälten, da sie bei der Abrechnung gegenüber der Staatskasse und den Selbstzahlern einen Streitwert von 8.000 DM zugrunde legen könnten.
Die genannten Beschlüsse seien ferner nicht mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar, da er gebührenmäßig umso schlechter stehe, je mehr Mandanten er vertrete. Der Umstand, dass er hinsichtlich der Zahl der Mandate beruflich erfolgreicher sei als seine Kollegen, führe dazu, dass er seine anwaltlichen Leistungen billiger erbringen müsse.
Letztlich verstießen die angegriffenen Beschlüsse auch gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Das Gebot der Vorausberechenbarkeit staatlichen Handelns sei verletzt, da ihm durch die Annahme einer stillschweigenden Verbindung der Verfahren im Kosteninteresse der Staatskasse die Möglichkeit genommen worden sei, nicht mehr lohnende Mandate niederzulegen oder Honorarvereinbarungen abzuschließen.
3. Zu der Verfassungsbeschwerde haben die Regierungen sämtlicher Bundesländer mit Ausnahme von Brandenburg sowie das Bundesverwaltungsgericht und der Deutsche AnwaltVerein Stellung genommen. Soweit in anderen Bundesländern in Hochschulzulassungsverfahren mehrere Klagen zeitgleich ohne förmliche Verbindung verhandelt werden, erfolgt danach keine Addition der Gegenstandswerte. Das Bundesverwaltungsgericht hat mitgeteilt, dass es noch nicht mit Rechtsfragen befasst gewesen sei, die in dem der Verfassungsbeschwerde zugrunde liegenden Fall einschlägig seien. Der Deutsche AnwaltVerein hält die Verfassungsbeschwerde für begründet. Die Entscheidungen verstießen gegen Art. 12 Abs. 1 GG, da nicht „dieselbe Angelegenheit” gemäß § 7 Abs. 2 BRAGO vorgelegen habe.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 BVerfGG liegen vor. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG.
1. Die Verfassungsbeschwerde wirft keine Fragen von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung auf. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen zu dem aus Art. 3 Abs. 1 GG hergeleiteten Willkürverbot hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. BVerfGE 87, 273 ≪278 f.≫; 89, 1 ≪13 f.≫).
2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt.
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein Richterspruch willkürlich, wenn er unter keinem denkbaren rechtlichen Aspekt vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Schuldhaftes Verhalten des Richters ist nicht erforderlich. Fehlerhafte Auslegung des Gesetzes allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst vor, wenn die Rechtslage in krasser Weise verkannt wird. Davon kann nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinander setzt und seine Auffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehrt (vgl. BVerfGE 81, 132 ≪137≫; 87, 273 ≪278 f.≫; 89, 1 ≪13 f.≫).
b) Die angegriffenen Entscheidungen halten einer verfassungsrechtlichen Prüfung anhand dieses Maßstabs nicht stand.
aa) Rechtlich nicht vertretbar ist die Auffassung in den angegriffenen Entscheidungen, dass § 9 Abs. 1 BRAGO nicht einschlägig sei und eine Wertfestsetzung der Rechtsanwaltsgebühren nach § 10 Abs. 1 BRAGO zu erfolgen habe, da als Gerichtsgebühren nur die Verfahrensgebühr bei Klageeingang angefallen sei und es daher für die späteren Verfahrensstadien an einer gerichtlichen Wertfestsetzung fehle. § 9 Abs. 1 BRAGO bestimmt, dass bei einer gerichtlichen Festsetzung des Werts für die Gerichtsgebühren diese Festsetzung auch für die Gebühren des Rechtsanwalts maßgebend ist. In diesem Fall ist § 10 Abs. 1 BRAGO nach Auffassung des einschlägigen Schrifttums subsidiär und unanwendbar (vgl. Riedel/Sußbauer, Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung, 8. Aufl., 2000, § 9 Rn. 3 und § 10 Rn. 3; Gerold/Schmidt/von Eicken/Madert, Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte, 13. Aufl., 1997, § 10 Rn. 1). So liegt der vorliegende Fall.
Solange das Gericht getrennte Streitwerte für die Gerichtsgebühren festsetzt und von den Klägern, die die Gerichtskosten selbst aufbringen, auch die entsprechenden Zahlungen verlangt, fehlt es an jedem einleuchtenden Grund dafür, bei der Festsetzung der Anwaltsgebühren abweichend vorzugehen. Genau dem soll § 9 BRAGO entgegenwirken. Hier einschlägige Ausnahmen von diesem Grundsatz sind im Gesetz nicht vorgesehen. Ein Gericht, das durch Auslegung eine hiervon abweichende Differenzierung anstrebt, müsste sachlich nachvollziehbare Gründe anführen, warum ausnahmsweise gegen den Wortlaut von § 9 BRAGO der Wert der Gerichtsgebühren nicht für die Gebühren des Rechtsanwalts maßgeblich ist und warum gegen den Wortlaut von § 10 BRAGO Raum für eine getrennte Wertfestsetzung für Anwaltsgebühren bleibt, wenn das Gericht den Gegenstandswert für die Gerichtsgebühr tatsächlich festgesetzt hat.
bb) Eine vertretbare Begründung hat das Gericht seiner Entscheidung auch nicht damit beigegeben, dass es zeitlich danach differenziert, wann die Gerichtsgebühren angefallen sein sollen. Diese Unterscheidung sieht das Gesetz ebenfalls nicht vor. Sie findet auch im Gebührenrecht keine Stütze. Fällig wird die Verfahrensgebühr im Verwaltungsprozess erst nach Abschluss der Instanz (vgl. § 63 Abs. 1 GKG; Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 12. Aufl., 2000, § 189 Rn. 4). Die Verfahrensgebühr (vgl. Nr. 2110 des Kostenverzeichnisses als Anlage 1 zum GKG) deckt daher nicht nur den Klageeingang ab. Sie umfasst vielmehr bei Prozessverfahren vor den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit „das Verfahren im Allgemeinen” und bezieht sich damit auf das gesamte gerichtliche Verfahren bis zu seinem Ende.
cc) Rechtlich ebenfalls nicht vertretbar ist die selbständige Anwendung von § 7 Abs. 2 BRAGO, solange für das entsprechende Gerichtsverfahren kein einheitlicher Gegenstandswert gebildet worden ist. Die Stellung des § 7 Abs. 2 BRAGO an der Spitze der Vorschriften über den Gegenstandswert zeigt, dass es sich um eine allgemeine Regel handelt, die eingreift, falls nicht Sondervorschriften bestehen. Soweit sich die Rechtsanwaltsgebühren nach den in gerichtlichen Verfahren geltenden Wertvorschriften richten (§ 8 Abs. 1 BRAGO), bestimmt sich nach diesen Vorschriften auch, ob die Werte mehrerer Gegenstände zusammenzurechnen sind (vgl. Riedel/Sußbauer, a.a.O., § 7 Rn. 24). Hier wurde für die Gerichtsgebühren unangefochten keine Addition der Einzelstreitwerte vorgenommen.
dd) Unter diesen Umständen kann es auf sich beruhen, ob es vertretbar wäre, die prozessuale Vertretung mehrerer – untereinander konkurrierender – Personen vor den Verwaltungsgerichten im Wettbewerb um mögliche Studienplätze überhaupt als „dieselbe Angelegenheit” gemäß § 7 Abs. 2 BRAGO anzusehen. Jedenfalls kann die Vorschrift nicht isoliert auf die Anwaltsgebühren angewandt werden, wenn der in ihr zum Ausdruck kommende Gedanke bei der Festsetzung der Gerichtsgebühren für dieselben Personen nicht herangezogen worden ist.
Ohne Einfluss auf die Entscheidung ist ebenso, ob es ein Rechtsinstitut der faktischen Verbindung in der Verwaltungsgerichtsordnung neben der Regelung von § 93 VwGO gibt (vgl. zur konkludenten Verbindung BayVGH, BayVBl. 1976, S. 18; Kopp/Schenke, a.a.O., § 93 Rn. 6; a.A. Redeker/von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 13. Aufl., 2000, § 93 Rn. 4). Anhaltspunkte hierfür können im konkreten Verfahren kaum gefunden werden. Registermäßig behielt jedes Verfahren sein Aktenzeichen, und in dem Einstellungs- und Streitwertbeschluss wurde nach wie vor von Verfahren in der Mehrzahl gesprochen.
3. Die angegriffenen Entscheidungen können auf der Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG beruhen. Bei Beachtung der Grundrechte des Beschwerdeführers liegt es nahe, dass die Abrechnung der Rechtsanwaltsgebühren im vorliegenden Fall auf der Grundlage von Einzelstreitwerten zu erfolgen hat.
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts ergibt sich aus § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO (vgl. auch BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫).
Unterschriften
Jaeger, Hömig, Bryde
Fundstellen
Haufe-Index 1267227 |
NVwZ-RR 2002, 389 |
WissR 2002, 300 |
BRAGOreport 2003, 179 |