Verfahrensgang
OLG Rostock (Beschluss vom 02.05.2003; Aktenzeichen 1 Vollz (Ws) 9/03) |
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Verfahren vor dem Oberlandesgericht Rostock wird zurückgewiesen.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die rechtlichen Folgen der Aufnahme einer Rechtsbeschwerde durch eine gemäß § 24 Abs. 1 RPflG hierzu nicht befugte Justizbedienstete.
I.
1. Der Beschwerdeführer ist Strafgefangener. In einem Verfahren, das er gegen die Justizvollzugsanstalt wegen Nichtaushändigung eines Buches aus seiner Post angestrengt hatte, lehnte das Landgericht R…. mit Beschluss vom 24. Februar 2003 seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet ab. Gegen diesen Beschluss erhob der nicht anwaltlich vertretene Beschwerdeführer am 19. März 2003 zu Protokoll der Geschäftsstelle des Landgerichts Rechtsbeschwerde. Die Rechtsbeschwerde wurde von einer Justizangestellten als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle aufgenommen. Mit dem angegriffenen Beschluss vom 2. Mai 2003 verwarf das Oberlandesgericht die Rechtsbeschwerde als unzulässig, weil sie nicht in der Form des § 118 Abs. 3 StVollzG erhoben worden sei. Für die Aufnahme der Erklärung über die Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde bei Gericht sei nach § 24 Abs. 1 Nr. 1 lit. a RPflG ausschließlich der Rechtspfleger zuständig. Die von einem unzuständigen Beamten aufgenommene Erklärung sei unwirksam. Das Rechtsmittel des Beschwerdeführers sei jedoch ausweislich der Niederschrift vom 19. März 2003 durch eine Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle erfolgt. Diese sei senatsbekannt keine Rechtspflegerin und auch nicht als solche tätig geworden. Auf die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wies das Oberlandesgericht den Beschwerdeführer nicht hin.
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1, Art. 3 und Art. 103 Abs. 1 GG. Es könne nicht von ihm erwartet werden, dass er die Unzuständigkeit einer Mitarbeiterin, zu der er in den Räumen der Geschäftsstelle geführt worden sei und die ihm erklärt habe, dass er bei ihr die beabsichtigte Rechtsbeschwerde form- und fristgerecht einlegen könne, erkenne. Das Landgericht habe seine Fürsorgepflicht verletzt. Da die Entscheidung des Oberlandesgerichts abschließend sei, bleibe ihm nur die Möglichkeit, das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Neben der Aufhebung des angegriffenen Beschlusses beantragt der Beschwerdeführer, ihm von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Verfahren vor dem Oberlandesgericht zu gewähren.
II.
1. Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie keine Aussicht auf Erfolg hat (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪25 f.≫). Sie ist unzulässig; es fehlt an der Erschöpfung des Rechtswegs (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG).
a) Kann ein Beschwerdeführer mit einem Rechtsmittel, für das ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, erreichen, dass seine Rechte im Wege des fachgerichtlichen Rechtsschutzes gewahrt werden, so ist regelmäßig von ihm zu verlangen, dass er diesen Weg beschreitet, bevor er Verfassungsbeschwerde einlegt (vgl. BVerfGE 10, 274 ≪281≫; 42, 252 ≪256 f.≫; 77, 275 ≪282≫). Diese Möglichkeit besteht im vorliegenden Fall.
Der Beschwerdeführer geht mit Recht davon aus, dass es ihn in seinen Grundrechten verletzen würde, wenn ihm aus dem Tätigwerden einer für die Aufnahme von Rechtsbeschwerden nicht zuständigen Mitarbeiterin der Geschäftsstelle ein mit Rechtsbehelfen nicht mehr abwendbarer Rechtsverlust entstünde. Aus dem grundrechtlichen Anspruch auf ein faires Verfahren folgt, dass die Gerichte aus Fehlern, die ihnen selbst zuzurechnen sind, keine Verfahrensnachteile für den Rechtsschutzsuchenden ableiten dürfen (BVerfGE 75, 183 ≪190 f.≫; 78, 123 ≪126≫; Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2004 – 1 BvR 1892/03 – JURIS; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Dezember 1995 – 2 BvR 2033/95 –, NStZ-RR 1996, S. 138 ≪138≫, m.w.N.). Das bedeutet nicht, dass es von Verfassungs wegen ausgeschlossen wäre, einen Rechtsbehelf aufgrund von Fehlern als unzulässig zu behandeln, die nicht dem Rechtsbehelfsführer, sondern bei Gericht unterlaufen sind. Der Grundsatz, dass die Gerichte aus eigenen oder ihnen zuzurechnenden Fehlern und Versäumnissen keine Verfahrensnachteile für die Beteiligten ableiten dürfen, erspart es dem Rechtsschutzsuchenden nicht, nachteilige Folgen gerichtlicher Fehler durch Inanspruchnahme verfügbarer Rechtsbehelfe abzuwehren. Mindestens dies muss ihm aber in zumutbarer Weise ermöglicht werden.
b) Da eine durch Unzuständigkeit der aufnehmenden Justizbediensteten bedingte Unzulässigkeit der Rechtsbeschwerde nicht auf einem Verschulden des Beschwerdeführers, sondern auf einem Fehler der Justiz beruht, besteht in derartigen Fällen die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl. BGH NJW 1952, S. 1386); bei rechtzeitiger Nachholung der nicht rechtzeitig wirksam eingelegten Rechtsbeschwerde ist die Wiedereinsetzung von Amts wegen zu gewähren (vgl. Schleswig-Holsteinisches OLG, Entscheidung vom 8. November 1982 – 1 Ws 484/82 und 1 Ws 519/82 – JURIS).
c) Eine Wiedereinsetzung scheidet im vorliegenden Fall nicht wegen Fristablaufs aus.
Der Zugang zum Gericht darf nicht in unzumutbarer, sachlich nicht gerechtfertigter Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 69, 381 ≪385≫; 93, 99 ≪108≫). Damit sind den Anforderungen, die an das Verhalten und die Rechtskenntnisse der Rechtsschutzsuchenden gestellt werden dürfen, insbesondere für Verfahren, in denen kein Anwaltszwang besteht, Grenzen gesetzt (vgl. BVerfGE 93, 99 ≪108≫). Zwar schützen die Verfahrensgrundrechte nicht denjenigen, der der Wahrnehmung seiner Rechte mit vermeidbarer Gleichgültigkeit gegenübersteht. Von einem Betroffenen kann daher verlangt werden, dass er auch zur Erlangung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die ihm zumutbaren Anstrengungen unternimmt, wenn er dazu Anlass hat und in der Lage ist (vgl. BVerfGE 42, 120 ≪126 f.≫; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Oktober 1992 – 2 BvR 805/91 –, NJW 1993, S. 847). Andererseits treffen aber auch die Gerichte Fürsorgepflichten gegenüber dem Bürger. Ihre Verletzung ist bei der Frage, ob die prozessuale Sanktionierung einer Verspätung verfassungsrechtlich vertretbar ist, zu berücksichtigen. Führen dem Staat zuzurechnende Fehler des Gerichts zu einer Behinderung des ersten Zugangs zu Gericht, ist die Wiedereinsetzung durch verfassungskonforme Gesetzesauslegung zu erleichtern (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21. November 1989 – 2 BvR 1089/89 –, JURIS; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 13. April 1994 – 2 BvR 2107/93 –, NJW 1994, S. 1856; Goerlich, NJW 1976, S. 1526 ≪1527≫).
Bei einer diesen Grundsätzen entsprechenden Anwendung des § 45 Abs. 1 StPO kann der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erlangen.
Jedenfalls in den Fällen, in denen der Wiedereinsetzungsgrund, wie hier, in einem den Gerichten zuzurechnenden Fehler liegt, fordert der Grundsatz fairer Verhandlungsführung eine Belehrung des Betroffenen über die Möglichkeit der Wiedereinsetzung (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November 2001 – 2 BvR 1471/01 – JURIS; Maul, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Aufl. 2003, § 45 Rn. 18; Löwe-Rosenberg-Wendisch, StPO, 25. Aufl. 1999, § 44 Rn. 63; Geppert, Die “qualifizierte” Belehrung, in: FS Karlheinz Meyer, Berlin 1990, S. 105; Schünemann, MDR 1969, S. 101 ≪103≫). Es ist Sache der Fachgerichte, zu entscheiden, ob wegen der unterbliebenen Belehrung des Beschwerdeführers bereits die Frist zur Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Einlegung einer zulässigen Rechtsbeschwerde nicht zu laufen begonnen hat oder ob davon auszugehen ist, dass diese Frist in dem Zeitpunkt zu laufen begann, in dem der Beschwerdeführer Kenntnis von der Unzulässigkeit seiner Rechtsbeschwerde und den Gründen dieser Unzulässigkeit erhielt. Im letzteren Fall wäre auch die Wiedereinsetzungsfrist inzwischen abgelaufen. Da der Beschwerdeführer jedoch über die Möglichkeit, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erlangen, erst durch den vorliegenden Beschluss in der notwendigen Weise informiert wird, beginnt jedenfalls die Frist zur Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist erst mit der Zustellung dieses Beschlusses zu laufen (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November 2001 – 2 BvR 1471/01 – JURIS). Der Beschwerdeführer kann daher innerhalb einer Woche seit Zustellung dieses Beschlusses durch eine von einem Rechtsanwalt unterzeichnete Schrift oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle beim Landgericht Rostock eine zulässige Rechtsbeschwerde einlegen, indem er gleichzeitig Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt (§ 118 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2, § 120 Abs. 1 StVollzG, § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO) und zwar sowohl hinsichtlich der versäumten Rechtsbeschwerdefrist als auch vorsorglich im Hinblick auf die Wiedereinsetzungsfrist. Hierzu ist ihm rechtzeitig Gelegenheit zu geben.
2. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, der sich auf das fachgerichtliche Verfahren bezieht, ist nicht statthaft. Das Bundesverfassungsgericht kann nach § 93 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG Wiedereinsetzung nur hinsichtlich der Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde (§ 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) gewähren.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Broß, Di Fabio, Lübbe-Wolff
Fundstellen
NStZ-RR 2005, 238 |
www.judicialis.de 2005 |