Entscheidungsstichwort (Thema)
Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung; überwachung des Schriftverkehrs; Rechtschutzinteresse
Beteiligte
Rechtsanwalt Wolfgang Zimmermann |
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 30. Dezember 1999 – 1 Ws 329/99 und 1 Ws 377/99 sowie 1 Ws 420/99 – verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 19 Absatz 4. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Karlsruhe zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde verworfen.
2. Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung der Bearbeitung von Eingaben und Anträgen auf gerichtliche Entscheidung gegen Maßnahmen im Strafvollzug.
1. Der Beschwerdeführer verbüßt eine mehrjährige Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung in einer Vollzugsanstalt in Baden-Württemberg. Zumindest in den Jahren 1998 und 1999 sandte er aus der Vollzugsanstalt eine große Anzahl von Schreiben an Mitglieder der Volksvertretungen des Bundes sowie der Länder Bayern, Baden-Württemberg und Hessen. Diese unterlagen gemäß § 29 Abs. 2 StVollzG nicht der Überwachung des Schriftverkehrs. Die Briefe enthielten Todesdrohungen gegen Politiker, namentlich benannte Justiz- und Vollzugsangehörige sowie deren Familien, Verunglimpfungen dieser Personen und grobe Beleidigungen.
2. Im Zeitraum von Januar bis August 1999 beanstandete der Beschwerdeführer in einer Vielzahl von Eingaben Verfügungen der Justizvollzugsanstalt entsprechend der in Baden-Württemberg bis 30. Juni 2000 geltenden Regelung gemäß § 43 AGGVG BW im Verwaltungsvorverfahren nach § 109 Abs. 3 StVollzG. Drohungen, Beleidigungen oder Verunglimpfungen enthielten diese Beschwerden nicht. Das Justizministerium Baden-Württemberg wies diese mit zwei Bescheiden vom 6. April 1999 und 24. August 1999 im Hinblick auf die vorgenannten, an die Mitglieder der Volksvertretungen gerichteten Schreiben des Beschwerdeführers als unzulässig zurück. Soweit seine Gefangenenbeschwerden noch den üblichen Anforderungen im Verkehr mit Behörden entsprächen, seien sie im unmittelbaren Zusammenhang mit den Droh- und Schmähschreiben erhoben worden, die der Beschwerdeführer durch das Ausnutzen des gesetzlichen Schutzes des unüberwachten Schriftverkehrs versandt habe. Die Eingaben seien deshalb als rechtsmissbräuchlich anzusehen. Außerdem habe er hierdurch seinen Anspruch auf Sachentscheidung verwirkt. Hinzu komme, dass sich sein Verhalten als widersprüchlich darstelle mit der Folge, dass ein Rechtsschutzinteresse zu verneinen sei. Wer die Tötung von Angehörigen der Justiz plane, wolle von der Justiz keinen Rechtsschutz. Eine Überprüfung des Vorbringens von Amts wegen habe ergeben, dass die gegenüber dem Beschwerdeführer getroffenen Entscheidungen der Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalt nicht zu beanstanden seien.
3. Auf Anträge des Beschwerdeführers hob das Landgericht die Bescheide des Justizministeriums auf und verpflichtete das Ministerium zur sachlichen Bescheidung der Beschwerden. Das Landgericht stellte in seinen Beschlüssen maßgeblich darauf ab, dass in den Beschwerdeschreiben selbst weder Beleidigungen noch Drohungen enthalten waren.
Auf Rechtsbeschwerden des Justizministeriums hob das Oberlandesgericht die Entscheidungen des Landgerichts auf und lehnte die Bearbeitung der Anträge des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung gegen die Bescheide des Justizministeriums ab. Zugleich erklärte es die Rechtsbeschwerden des Beschwerdeführers für gegenstandslos, mit denen er eine Verpflichtung des Landgerichts zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der beanstandeten vollzuglichen Einzelverfügungen erreichen wollte. Zur Begründung führte das Oberlandesgericht aus, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers in einer Gesamtschau aller seiner Schreiben grob ungehörig und beleidigend sei und schwergewichtige Drohungen enthalte.
II.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 und 19 Abs. 4 GG. Die oberlandesgerichtlichen Beschlüsse führten – ebenso wie die Bescheide des Justizministeriums – dazu, dass er völlig rechtlos gestellt werde. Dies sei dem Entzug seines Grundrechts auf Rechtsschutz gleichzustellen. Die Rückverweisung zur sachlichen Bescheidung an das Justizministerium im landgerichtlichen Beschluss sei mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes nicht vereinbar.
III.
Das Justizministerium Baden-Württemberg hat namens der baden-württembergischen Landesregierung zur Verfassungsbeschwerde Stellung genommen. Es habe die Beschlüsse des Oberlandesgerichts als Bestätigung seiner Bescheide vom 6. April und 24. August 1999 verstanden. Im Übrigen werde dem Beschwerdeführer im Justizvollzug umfassend Rechtsschutz gewährt. Soweit der Beschwerdeführer nicht beschieden werde, würden seine Beschwerden einer summarischen Prüfung unterzogen. Soweit es sich um Sachverhalte handele, die erheblich in Grundrechte des Beschwerdeführers eingriffen, würden eingehende Bescheide gefertigt werden.
IV.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung von Grundrechten des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Sie ist zur Sachentscheidung berufen, da die zulässige Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§§ 93b Satz 1, 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Entscheidungen des Oberlandesgerichts verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG).
1. Nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG steht demjenigen, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, der Rechtsweg offen. Dieser Gewährleistung liegt der rechtsstaatliche Gedanke einer allgemeinen und lückenlosen gerichtlichen Sicherung gegen Maßnahmen von Trägern der öffentlichen Gewalt im Bereich der individuellen Rechte zu Grunde. Der Bürger hat einen substanziellen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 35, 382 ≪401 f.≫; 49, 329 ≪340 ff.≫; 84, 34 ≪49≫; stRspr). Der gesetzlich vorgesehene Rechtsweg darf nicht ausgeschlossen werden (BVerfGE 22, 49 ≪81 f.≫; 27, 297 ≪310≫; 40, 272 ≪274 f.≫).
Die Rechtsweggarantie des Grundgesetzes gilt allerdings nur im Rahmen der jeweiligen Prozessordnung. Daher ist es durchaus zulässig, die Anrufung des Gerichts von der Erfüllung bestimmter, gesetzlich geregelter formaler Voraussetzungen, wie der Einhaltung einer Frist oder einer bestimmten Form, abhängig zu machen, wenn dadurch der Weg zu den Gerichten nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird (BVerfGE 10, 264 ≪267 f.≫; 32, 305 ≪309≫; 37, 93 ≪96≫; 40, 272 ≪274≫). Gleiches gilt auch für eine Einschränkung des Rechtswegs durch ungeschriebene, allgemein anerkannte Prozessgrundsätze (vgl. BVerfGE 32, 305 ≪309≫ zur Frage der Verwirkung prozessualer Befugnisse).
2. Die oberlandesgerichtlichen Beschlüsse lehnen eine Bearbeitung ab, weil das Vorbringen des Verurteilten gegen die Bescheide des Justizministeriums in einer „Gesamtschau aller Schreiben des Verurteilten grob ungehörig und beleidigend” sei und „schwergewichtige Drohungen” enthalte. Damit stellen sie der Sache nach auf ein (ungeschriebenes) allgemeines prozessuales Missbrauchsverbot ab. Dessen Existenz ist in der Rechtsprechung und der Kommentarliteratur anerkannt (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., Einl. Rn. 111; Calliess/Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz, 8. Aufl., § 109 Rn. 15; Schwind/Böhm, Strafvollzugsgesetz, 3. Aufl., § 109 Rn. 39 jeweils m.w.N. auf die Rechtsprechung). Sein Inhalt, seine dogmatische Grundlage und seine Grenzen sind jedoch nicht fest umrissen (vgl. Kröpil, JuS 1997, S. 345 ff.); die hierzu ergangenen Entscheidungen orientieren sich am Einzelfall.
Vorliegend bedarf es keiner abschließenden Klärung der Frage, in welchen Ausnahmefällen ein Gericht unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs die Bearbeitung eines gesetzlich normierten Rechtsbehelfs ablehnen kann. Das allgemeine prozessuale Missbrauchsverbot hat in den hier angefochtenen oberlandesgerichtlichen Beschlüssen jedenfalls eine Anwendung erfahren, die Bedeutung und Tragweite des Rechtsschutzanspruchs des Betroffenen nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht in dem von der Verfassung gebotenen Umfang gerecht wird.
a) Eine Eingabe, die sich in beleidigenden oder erpresserischen Ausführungen erschöpft, entspricht nicht den Mindestanforderungen, die an Eingaben bei Behörden und Gerichten zu stellen sind (vgl. BVerfGE 2, 225 ≪229≫ für den Bereich des Petitionsrechts; OLG Düsseldorf, wistra 1992, S. 200; OLG Hamm, NJW 1976, S. 978; OLG Karlsruhe, MDR 1978, S. 74; OLG Karlsruhe, MDR 1973, S. 867 f.). Im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG kann jedoch von einer Sachentscheidung oder Verwerfung eines Rechtsmittels als unzulässig nur abgesehen werden, wenn sich die Eingabe überwiegend oder ausschließlich in Beleidigungen erschöpft und nicht ersichtlich ist, dass zugleich auch ein sachliches Anliegen verfolgt wird (vgl. OLG Düsseldorf, MDR 1993, S. 462; KG, NStZ 1998, S. 399; vgl. auch OLG Frankfurt, NJW 1979, S. 1613; OLG Frankfurt, NStZ 1989, S. 296).
Vorliegend enthielten die Anträge des Beschwerdeführers nach § 109 StVollzG jedoch keine Drohungen, Beleidigungen oder Verunglimpfungen. Das Oberlandesgericht lehnte die Bearbeitung der Eingaben des Beschwerdeführers vielmehr ab, weil das Vorbringen in einer Gesamtschau aller Schreiben des Beschwerdeführers grob ungehörig und beleidigend sei und schwergewichtige Drohungen enthalte.
Eine Gesamtbetrachtung des Verhaltens ist für die Frage, ob missbräuchliches Verhalten vorliegt, zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen (vgl. BGHSt 38, 111 ff.; vgl. auch LG Bonn, NStZ 1993, S. 54). Bisweilen mag sich die Missbräuchlichkeit nur aus einer Gesamtbetrachtung ergeben. Wesentliche inhaltliche Voraussetzung, um einen Missbrauch annehmen zu können, ist jedoch das Vorliegen eines zweckwidrigen Einsatzes von Rechten. Es kann daher nicht nur positiv darauf abgestellt werden, dass das Verfahren erschwert oder schutzwürdige Belange verletzt werden. Vielmehr muss auch negativ eine Abgrenzung dahingehend erfolgen, dass der Verfahrensbeteiligte die ihm eingeräumten prozessualen Möglichkeiten nicht zur Wahrung seiner Belange, sondern gezielt zu verfahrensfremden und verfahrenswidrigen Zwecken verfolgt, etwa um den Antragsgegner zu schädigen oder das Gericht zu belästigen (vgl. BGHSt 38, 111 ≪113≫; OLG Hamm, ZfStrVO 1988, S. 113; OLG Karlsruhe, MDR 1978, S. 74; OLG Frankfurt, NJW 1979, S. 1613; OLG Frankfurt, NStZ 1989, S. 296; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., Einl. Rn. 111; Calliess/Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz, 8. Aufl., § 109 Rn. 15; Schwind/Böhm, Strafvollzugsgesetz, 3. Aufl., § 109 Rn. 39). Dies setzt notwendig eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den vom Verfahrensbeteiligten mit Stellung seiner Anträge verfolgten Zielen voraus. Lässt sich seinem Verhalten entnehmen, dass es ihm jedenfalls auch um ein sachliches, von der eingeräumten prozessualen Befugnis gedecktes Anliegen geht, muss das Gericht sich damit auch inhaltlich auseinander setzen. Andernfalls wird die Versagung einer inhaltlichen Prüfung zu einer Sanktion für ungehöriges Verhalten. Dies aber verstößt gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Zur Sanktionierung dienen die Vorschriften des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts. Ergibt sich aufgrund des Gesamtverhaltens des Beschwerdeführers, dass er möglicherweise nicht mehr prozessfähig ist, besteht die Möglichkeit, einen Pfleger zu bestellen. Im Übrigen bleibt es Behörden und Gerichten unbenommen, bei einer unverhältnismäßig großen Anzahl von Eingaben diese zusammenzufassen und gegebenenfalls einheitlich zu bescheiden.
b) Das Oberlandesgericht hat die Bearbeitung der Anträge ohne jede inhaltliche Prüfung abgelehnt, obgleich die Schmäh- und Drohschreiben weder formal noch inhaltlich in einem unmittelbaren Bezug zu dem Begehren auf gerichtliche Überprüfung der Bescheide des Justizministeriums und der Verfügungen der Vollzugsanstalt standen. Diese Handhabung lässt sich nicht auf das allgemeine prozessuale Missbrauchsverbot stützen, denn eine Prüfung, ob mit den Anträgen nach §§ 109 ff. StVollzG verfahrensfremde Zwecke verfolgt wurden, hat nicht stattgefunden.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts hätte im Übrigen auch nicht mit den Verfahrenshindernissen des widersprüchlichen Verhaltens und der Verwirkung begründet werden können. Zur Feststellung eines widersprüchlichen Prozessverhaltens hätte es einer Auseinandersetzung mit den konkreten Rechtsschutzbegehren bedurft. Eine generelle Verwirkung von Rechtsschutz gegenüber Maßnahmen der öffentlichen Gewalt aufgrund von bedrohenden und beleidigenden Schreiben, die sich nicht auf die angegriffenen Maßnahmen beziehen und mit diesen in keinerlei Zusammenhang stehen, ist weder in der Rechtsprechung anerkannt noch würde eine solche Handhabung des Prozessrechts Art. 19 Abs. 4 GG gerecht.
Das Oberlandsgericht hat ohne verfahrensrechtlich rechtfertigende Grundlage eine Bearbeitung der Anträge abgelehnt und den gesetzlich vorgesehenen Rechtsweg nicht zur Verfügung gestellt. Hierdurch verletzt es den Beschwerdeführer in seinem Rechtsschutzanspruch aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Die oberlandesgerichtlichen Beschlüsse sind daher aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen (§§ 93c Abs. 2, 95 Abs. 2 BVerfGG). Ob die Entscheidung auch andere Grundrechte des Beschwerdeführers verletzt, bedarf deshalb keiner Entscheidung.
V.
Soweit die Verfassungsbeschwerde sich gegen die landgerichtlichen Beschlüsse sowie die Bescheide des Justizministeriums richtet, ist sie unzulässig. Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (vgl. § 90 Abs. 2 BVerfGG) gebietet es, dass ein Beschwerdeführer den fachgerichtlichen Rechtsweg ausschöpft, um seine verfassungsrechtliche Beschwer auszuräumen. Nachdem nunmehr feststeht, dass das Oberlandesgericht die Rechtsbeschwerden nicht als unzulässig verwerfen durfte, steht noch ein fachgerichtlicher Rechtsweg zur Entscheidung über die verfassungsrechtlichen Einwendungen zur Verfügung (vgl. BVerfGE 96, 27 ≪43≫).
VI.
Da der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde im Wesentlichen durchdringt, ist der Ausspruch der vollen Auslagenerstattung angemessen (§ 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG). Damit erledigt sich der Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts (BVerfGE 62, 392 ≪397≫; 71, 122 ≪136 f.≫).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Limbach, Hassemer, Mellinghoff
Fundstellen
Haufe-Index 645113 |
NPA 2002, 0 |
StV 2001, 697 |