Verfahrensgang
LG Regensburg (Beschluss vom 14.04.2009; Aktenzeichen StVK 146/2009) |
Tenor
Der Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg mit dem Sitz in Straubing vom 14. April 2009 – StVK 146/2009 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an die auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg mit dem Sitz in Straubing zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft den Eilrechtsschutz gegen eine Disziplinarmaßnahme, die gegen den strafgefangenen Beschwerdeführer verhängt wurde, weil er eine Strafanzeige durch einen Mitgefangenen hatte schreiben lassen.
I.
1. Die Justizvollzugsanstalt beanstandete im Rahmen der Briefkontrolle ein ausgehendes maschinenschriftliches Schreiben an den Generalbundesanwalt, mit dem der Beschwerdeführer Strafanzeige „wegen Strafvereitelung im Amt bzw. Nötigung” erstatten wollte, und verhängte als Disziplinarmaßnahme eine zweiwöchige getrennte Unterbringung während der Freizeit sowie einen zweiwöchigen Entzug der Teilnahme an gemeinschaftlichen Veranstaltungen. Das maschinenschriftliche Schreiben sei ausweislich des Schriftbildes, der Wortwahl und des Umstandes, dass der Beschwerdeführer nicht im Besitz einer Schreibmaschine sei, durch einen Mitgefangenen gefertigt worden. Der Beschwerdeführer habe demnach unbefugt und schuldhaft den Mitgefangenen geschäftliche Angelegenheiten tätigen lassen, wodurch Abhängigkeitsverhältnisse entstünden.
2. Mit auf Aussetzung des Vollzugs der Disziplinarmaßnahme gerichtetem Eilantrag (§ 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG) machte der Beschwerdeführer geltend, sein Aussetzungsinteresse überwiege. Die Dringlichkeit ergebe sich aus der Schwere der Grundrechtsverletzung. Ein schuldhafter Verstoß liege nicht vor. Er habe sich das Schreiben zwar im Wege der Kameradschaftshilfe von einem Mitgefangenen anfertigen lassen. Eine unbefugte geschäftliche Tätigkeit habe er jedoch nicht ausgeübt. Die Justizvollzugsanstalt irre in der Annahme, dass Schreibhilfe durch Mitgefangene eine Strafbarkeit beinhalte. Insoweit habe sie auch den Sachverhalt nicht ausreichend ermittelt, weshalb ihre Entscheidung willkürlich sei.
3. Die Strafvollstreckungskammer wies den Antrag mit angegriffenem Beschluss vom 14. April 2009 zurück. Es überwiege das Vollzugsinteresse. Nach summarischer Prüfung sei die verhängte Disziplinarmaßnahme rechtmäßig. Die Hilfe bei der Erstellung „entsprechender Schreiben” durch Mitgefangene stelle auch nach dem nunmehr geltenden Rechtsdienstleistungsgesetz eine nicht erlaubte unentgeltliche Rechtsdienstleistung dar. Da auch bei vermeintlicher Unentgeltlichkeit die konkrete Gefahr der Entstehung von Abhängigkeitsverhältnissen, einhergehend mit der Entstehung subkultureller Strukturen, bestehe, werde auch das geordnete Zusammenleben innerhalb der Anstalt sowie die Sicherheit und Ordnung der Anstalt konkret gefährdet. Damit liege ein erheblicher Pflichtverstoß vor. Ermessensfehler seien nicht ersichtlich.
Entscheidungsgründe
II.
Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 4 GG. Diese Rechte seien eilverfahrensspezifisch verletzt. Die Strafvollstreckungskammer habe den Zugang zu wirksamer gerichtlicher Kontrolle im einstweiligen Rechtsschutzverfahren unzumutbar eingeschränkt. Eine Disziplinarmaßnahme hätte nicht verhängt werden dürfen, weil die „Strafbarkeit” der Schreibhilfe durch Mitgefangene nicht gesetzlich geregelt sei. Dass er aufgrund des bloßen Verdachts von „Geschäftemacherei” verurteilt worden sei, verstoße gegen den Schuldgrundsatz. Zu der Frage, ob die in Anspruch genommene Schreibhilfe einen Verstoß gegen die Hausordnung oder gegen ein Gesetz darstelle, seien die notwendigen näheren Feststellungen nicht getroffen worden. Die summarische Prüfung hätte zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Disziplinarmaßnahme führen müssen, weil er weder gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz verstoßen noch die Sicherheit und Ordnung der Anstalt gefährdet habe.
III.
Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat von einer Stellungnahme abgesehen.
IV.
1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Nach verfassungsrechtlichen Maßstäben, die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt sind (s. unter 2.), ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet (§ 93b, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
2. Die angegriffene Entscheidung verletzt das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, Art. 19 Abs. 4 GG.
a) Aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes ergeben sich Anforderungen auch für den Eilrechtsschutz (vgl. BVerfGE 49, 220 ≪226≫; 77, 275 ≪284≫; 93, 1 ≪13 f.≫; BVerfGK 1, 201 ≪204 f.≫). Soweit bei belastenden Maßnahmen – wie im Fall einer strafvollzugsrechtlichen Disziplinierung – die Einlegung eines Rechtsbehelfs nicht schon kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung hat, muss gewährleistet sein, dass der Betroffene umgehend eine gerichtliche Entscheidung darüber herbeiführen kann, ob im konkreten Einzelfall das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung oder aber das Interesse des Einzelnen an der Aussetzung der Vollziehung bis zur Nachprüfung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme überwiegt (vgl. BVerfGE 35, 382 ≪402≫; 37, 150 ≪153≫; 67, 43 ≪58 f.≫; BVerfGK 8, 118 ≪122≫). Für die bei einem Aussetzungsantrag gemäß § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG erforderliche Prüfung, ob die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird, und ob der Aussetzung ein höher zu bewertendes Interesse an dem sofortigen Vollzug entgegensteht, kann ohne Grundrechtsverstoß berücksichtigt werden, ob nach einer summarischen Prüfung der Antragsteller mit seinem Rechtsbehelf voraussichtlich Erfolg haben wird oder nicht (vgl. BVerfGK 7, 403 ≪409≫; 11, 54 ≪62≫, m.w.N.).
b) Die entscheidungstragende Feststellung der Strafvollstreckungskammer, nach summarischer Prüfung sei die Disziplinarmaßnahme rechtmäßig, hält jedoch ihrerseits verfassungsrechtlicher Prüfung nicht stand.
Disziplinarmaßnahmen unterliegen dem strengen Gesetzesvorbehalt (vgl. BVerfGE 71, 108 ≪114≫) des Art. 103 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 26, 186 ≪203 f.≫; 45, 346 ≪351≫); sie dürfen nur auf der Grundlage einer gesetzlichen Regelung verhängt werden, die das disziplinarisch zu ahndende Verhalten in für die Normadressaten vorhersehbarer Weise vorab bestimmt.
aa) Ein disziplinarisch sanktionierbarer Verstoß gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) lag offensichtlich nicht vor.
Das in § 3 RDG statuierte, nach § 20 RDG bußgeldbewehrte Verbot, jenseits gesetzlicher oder gesetzlich fundierter Erlaubnisnormen außergerichtliche Rechtsdienstleistungen zu erbringen, richtet sich nicht an denjenigen, dem die Leistung erbracht wird; dieser soll durch die Norm gerade geschützt werden (vgl. Franz, in: Grunewald/Römermann, Rechtsdienstleistungsgesetz, 2008, § 20 Rn. 12; Klees, in: Krenzler, Rechtsdienstleistungsgesetz, 2010, § 20 Rn. 20). Eine Veränderung gegenüber den Vorgängernormen des Rechtsberatungsgesetzes ist in diesem Punkt offensichtlich nicht eingetreten. Unabhängig von der Frage, ob die Hilfe des Mitgefangenen, der das angehaltene Schreiben für den Beschwerdeführer gefertigt hatte, eine verbotene Rechtsdienstleistung darstellte, verstößt daher jedenfalls die dem Beschwerdeführer allenfalls anzulastende bloße Inanspruchnahme einer Rechtsdienstleistung nicht gegen § 3 RDG (vgl. zum Rechtsberatungsgesetz BVerfGK 2, 196 ≪199 f.≫; 4, 305 ≪311≫; 6, 291 ≪294≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. August 2004 – 2 BvR 1766/03 –, NJW-RR 2004, S. 1713).
bb) Soweit die Strafvollstreckungskammer sinngemäß angenommen hat, die Inanspruchnahme der Hilfe des Mitgefangenen für das angehaltene Schreiben könne als Verstoß gegen das gesetzliche Verbot der Störung des geordneten Zusammenlebens (Art. 88 Abs. 1 Satz 2 BayStVollzG; entspricht § 82 Abs. 1 Satz 2 StVollzG) disziplinarisch geahndet werden, weil die Verabredung oder Entgegennahme einer solchen Hilfeleistung die Gefahr subkultureller Abängigkeitsverhältnisse begründe, lässt die angegriffene Entscheidung nicht nur jede Auseinandersetzung mit der Frage vermissen, ob die unterstellte Sanktionierbarkeit seines Verhaltens für den Beschwerdeführer nach dieser Vorschrift in einer den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügenden Weise vorhersehbar war. Die Strafvollstreckungskammer verkennt insoweit auch, dass die bloße Feststellung der Entgegennahme einer Gefälligkeit – sei es auch in Rechtsangelegenheiten – zur Begründung des disziplinarischen Vorwurfs der Schaffung sicherheits- und ordnungsstörender Abhängigkeitsverhältnisse nicht genügt, weil dem Gefangenen nicht jede Gegenseitigkeitsbeziehung und damit jede Form des normalen menschlichen Miteinander als ordnungsstörend verboten sein kann (vgl. im Einzelnen BVerfGK 9, 390 ≪398≫).
cc) Ob es aus diesem Grund und im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG auf verfassungsrechtliche Bedenken stößt, wenn für die disziplinarische Sanktionierung rechtsbezogener Hilfestellungen unter Gefangenen auf eine Auslegung des Art. 90 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BayStVollzG zurückgegriffen wird, nach der jegliche von der Anstalt nicht genehmigte Annahme von Schriftverkehr anderer Gefangener – und demzufolge wohl auch die Abgabe entsprechender Schriftstücke, vgl. Art. 90 Abs. 1 Satz 2 BayStVollzG – eine Pflichtverletzung darstellt (vgl. BayVerfGH, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – Vf. 3-VI-09 –, juris), bedarf hier keiner Entscheidung. Denn auf diese Annahme haben sich weder die Justizvollzugsanstalt noch die Strafvollstreckungskammer gestützt. Die Strafvollstreckungskammer wäre im Übrigen auch nicht befugt, eine Disziplinarmaßnahme unter Auswechselung der von der Anstalt angeführten Gründe für die angenommene Pflichtwidrigkeit des sanktionierten Verhaltens als rechtmäßig zu bestätigen (vgl. BVerfGK 9, 390 ≪397≫).
3. Der angegriffene Beschluss beruht auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Die angegriffene Entscheidung ist daher aufzuheben und die Sache an das Gericht zurückzuverweisen, § 95 Abs. 2 BVerfGG. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Mellinghoff, Lübbe-Wolff, Huber
Fundstellen
NJW 2011, 2348 |
NJW 2011, 6 |
StV 2013, 449 |
ZfStrVo 2012, 112 |