Verfahrensgang
Tenor
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 9. Mai 2003 – Ws 220/03 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.
- Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage der Zulässigkeit einer unter Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz zustandegekommenen Rechtsbeschwerde eines Strafgefangenen.
I.
1. Der Beschwerdeführer ist Strafgefangener in der Justizvollzugsanstalt Straubing. Am 22. September 2000 wurde er im Haftraum eines Mitgefangenen angetroffen, bei dem Haschisch gefunden wurde. In dem Haftraum fand sich außerdem eine Milchtüte mit einer stark süßlich riechenden Flüssigkeit. Um den Verdacht unerlaubten Drogenkonsums abzuklären, wurde der Beschwerdeführer aufgefordert, eine Urinprobe abzugeben. Weil der Beschwerdeführer dies verweigerte, wurde er auf Anordnung des zuständigen Abteilungsleiters bis zum 25. September 2000 in einer sog. Trockenzelle untergebracht. Darüber hinaus wurde gegen ihn als Disziplinarmaßnahme ein fünftägiger Arrest festgesetzt, der in der Zeit vom 28. September bis zum 3. Oktober 2000 vollzogen wurde.
2. Nachdem die Auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg mit Sitz in Straubing den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gegen die Disziplinarmaßnahme mit Beschluss vom 28. September 2000 abgelehnt hatte, beantragte der Beschwerdeführer unter dem 26. Oktober 2000 die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Disziplinarmaßnahme. Die Strafvollstreckungskammer wies den Antrag mit Beschluss vom 24. November 2000 als unbegründet zurück. Auf die Rechtsbeschwerde des Beschwerdeführers hob das Oberlandesgericht Nürnberg diesen Beschluss wegen fehlender Tatsachenfeststellungen auf und verwies die Sache zur Aufklärung des Sachverhalts und zur erneuten Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer zurück.
3. Mit Beschluss vom 30. Dezember 2002 wies die Auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg mit Sitz in Straubing den auf die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der Disziplinarmaßnahme gerichteten Antrag des Beschwerdeführers erneut als unbegründet zurück.
4. Seine hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde wurde vom Oberlandesgericht Nürnberg durch Beschluss vom 9. Mai 2003 als unzulässig mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Beschwerdeschrift nach Aufbau, Diktion und Erscheinungsbild von einem anderen, dem Gericht aus anderen Verfahren bekannten Strafgefangenen herrühre, der mit Wissen des Beschwerdeführers unerlaubt rechtsberatend tätig geworden sei. Eine unter Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz zustandegekommene Rechtsbeschwerde könne nicht Gegenstand einer oberlandesgerichtlichen Überprüfung sein. Zur näheren Begründung verwies das Oberlandesgericht auf seinen dem Beschwerdeführer bekannten Beschluss vom 27. Juli 2001 – Ws 452/01 – (NStZ 2002, S. 55). Dieser Beschluss stützt sich auf die Erwägung, dass gegen Recht und Gesetz verstoßende Anträge keinen Anspruch auf gerichtliche Sachprüfung begründen könnten, weil dies einer unzulässigen Beihilfe zu gesetzwidrigen Handlungen gleichkäme. Ergänzend führte das Oberlandesgericht in seiner im vorliegenden Fall angegriffenen Entscheidung aus, dass die auf Dauer angelegte rechtsberatende Tätigkeit eines Strafgefangenen geeignet sei, Abhängigkeiten und Autoritätsstrukturen entstehen zu lassen, die geeignet seien, den Vollzugszweck und die Ordnung in der Justizvollzugsanstalt zu gefährden. Auch aus diesem Grund könne eine unter Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz zustandegekommene Rechtsbeschwerde nicht Gegenstand oberlandesgerichtlicher Prüfung sein.
II.
Mit der Verfassungsbeschwerde greift der Beschwerdeführer den Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 9. Mai 2003 an. Er rügt unter anderem eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Abs. 3, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG. Er macht vor allem eine willkürliche Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes geltend.
Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hatte Gelegenheit zur Äußerung; es hat von einer Stellungnahme abgesehen.
III.
1. Die zulässige Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung (§ 93c Abs. 1 BVerfGG) liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt (siehe unter 2. a). Nach diesen Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet im Sinne des § 93c Abs. 1 BVerfGG.
2. Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf wirksamen Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG.
a) Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet einen möglichst lückenlosen gerichtlichen Schutz gegen die Verletzung der Rechtssphäre des Einzelnen durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt. Die Voraussetzungen und Bedingungen des Zugangs zu gerichtlichem Rechtsschutz werden durch das einfache Recht ausgestaltet. Dabei darf der Anspruch des Bürgers auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise eingeschränkt werden (vgl. BVerfGE 40, 237 ≪256≫; 77, 275 ≪284≫; stRspr). Dasselbe gilt für die gerichtliche Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts (vgl. BVerfGE 50, 16 ≪30≫; 74, 228 ≪234≫; 77, 275 ≪284≫). Art. 19 Abs. 4 GG ist daher verletzt, wenn eine gerichtliche Sachentscheidung ohne nachvollziehbaren Grund versagt wird (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 13. März 2002 – 2 BvR 261/01 –, ZfStrVo 2002, S. 178). Die Gerichte haben bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts vor allem auch darauf zu achten, dass der Zugang zu den Gerichten allen Bürgern auf möglichst gleichmäßige Weise eröffnet wird (BVerfGE 74, 228 ≪234≫).
b) Hieran gemessen hält die Auffassung des Oberlandesgerichts, ein Antrag sei als unzulässig zu verwerfen, wenn bei seiner Erstellung ein Mitgefangener unter Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz tätig geworden ist, verfassungsrechtlicher Prüfung nicht stand.
Das Rechtsberatungsgesetz sieht als Mittel der Sanktionierung von Verstößen gegen die Verbote und Gebote des Rechtsberatungsgesetzes die Ahndung als Ordnungswidrigkeit (Art. 1 § 8 RBerG), nicht aber eine Beschneidung der Rechtsschutzmöglichkeiten des rechtssuchenden Antragstellers vor. Die Ordnungswidrigkeit begeht zudem nicht derjenige, der die unerlaubte Rechtsbesorgung lediglich – sei es auch in Kenntnis des an den Anderen gerichteten Verbots – in Anspruch nimmt und sich in seinen Rechtsangelegenheiten helfen lässt (vgl. Senge, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Stand Oktober 2002, Art. 1 § 8 RBerG Rn. 18; Rennen/Caliebe, Rechtsberatungsgesetz, 3. Aufl. 2001, Art. 1 § 8 RBerG Rn. 10 und Chemnitz/Johnigk, Rechtsberatungsgesetz, 11. Aufl. 2003, Art. 1 § 8 RBerG Rn. 756, jew. m.w.N.). Dahinter steht die Annahme, dass der Rechtssuchende durch die Vorschriften des Rechtsberatungsgesetzes geschützt werden soll. Dieser Schutzrichtung läuft es zuwider, wenn an Verstöße gegen dieses Gesetz die vom Oberlandesgericht gezogenen prozessrechtlichen Folgerungen zulasten desjenigen geknüpft werden, der die untersagte Rechtshilfeleistung in Anspruch genommen hat.
Demgemäß geht für den Fall, dass ein Prozessbevollmächtigter mit seiner rechtsbesorgenden Tätigkeit gegen Art. 1 § 1 Abs. 1 RBerG verstößt, die herrschende Auffassung dahin, dass dieser durch konstitutiv wirkenden Beschluss vom weiteren Verfahren auszuschließen ist, sobald das Gericht von dem Verstoß Kenntnis erlangt (vgl. Rennen/Caliebe, a.a.O., Art. 1 § 1 RBerG Rn. 199; Chemnitz/Johnigk, a.a.O., Art. 1 § 1 RBerG Rn. 211 f., jew. m.w.N.; zur Verfassungsmäßigkeit vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 12. September 2003 – 2 BvR 1311/03 –). Hingegen wird nicht angenommen, dass verfahrenseinleitende Anträge und andere Prozesshandlungen, die einem solchen Beschluss vorausgegangen sind, von vornherein unbeachtlich oder unzulässig wären, soweit sie unter Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz zustandegekommen sind (vgl. BGHZ 54, 275 ≪281≫).
Eine andere Beurteilung rechtfertigt auch nicht die Erwägung des Oberlandesgerichts, dass die rechtsberatende Tätigkeit des Mitinhaftierten geeignet sei, Abhängigkeiten und Autoritätsstrukturen entstehen zu lassen, die in ihren Auswirkungen den Vollzugszweck und die Sicherheit und Ordnung in der Justizvollzugsanstalt gefährden könnten. Verbotener Rechtsberatung und deren Auswirkungen auf den Strafvollzug kann mit den Instrumenten des Strafvollzugsgesetzes – gegebenenfalls auch mit disziplinarischen Maßnahmen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. August 1997 – 2 BvR 2334/96 –, NStZ 1998, S. 103) – entgegengetreten werden.
Nicht tragfähig ist die mit der angegriffenen Entscheidung in Bezug genommene Erwägung des Oberlandesgerichts (NStZ 2002, S. 55), dass es möglich sein müsse, eine unter Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz zustandegekommene Rechtsbeschwerde als unzulässig zu behandeln, weil das Gericht andernfalls genötigt wäre, Beihilfe zu einer gesetzwidrigen Handlung zu leisten. Das Ordnungswidrigkeitenrecht kennt schon den Begriff der Beihilfe nicht; es behandelt jede Form der Beteiligung an einer Ordnungswidrigkeit als täterschaftliche Begehung (vgl. § 14 Abs. 1 OWiG). Die Annahme einer zurechenbaren Beteiligung des Gerichts ist auch deshalb verfehlt, weil die Pflichten des Gerichts im Zusammenhang mit der Gewährung von Rechtsschutz in erster Linie durch das Prozessrecht bestimmt werden. Verpflichtet dieses das Gericht zur rechtlichen Prüfung eines Antrags, so beteiligt sich das Gericht, indem es entsprechend verfährt, nicht an einem Rechtsverstoß, sondern handelt in Erfüllung seiner Rechtspflicht zur Gewährung von Rechtsschutz (vgl. BVerfGE 103, 111 ≪137 f.≫). Die Rechtfertigung für die Behandlung eines bei Gericht gestellten Antrags als unzulässig kann daher nur dem Prozessrecht entnommen werden.
Das Prozessrecht kennt keinen Grundsatz des Inhalts, dass nur rechtmäßig zustandegekommene Anträge zulässig sind. Auch aus dem ungeschriebenen Verbot des Missbrauchs prozessualer Rechte lässt sich ein solcher Grundsatz nicht ableiten. Ein Missbrauch ist dann anzunehmen, wenn ein Verfahrensbeteiligter die ihm durch die Verfahrensordnung eingeräumte Möglichkeit zur Wahrung seiner Belange benutzt, um statt des Schutzes seiner Rechte gezielt verfahrensfremde oder verfahrenswidrige Zwecke zu verfolgen (vgl. Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21. August 2001 – 2 BvR 282/00 sowie 2 BvR 406/00 –, NJW 2001, S. 3770; speziell für das Strafverfahren BGHSt 38, 111 ≪113≫; Kudlich, Strafprozess und allgemeines Missbrauchsverbot, 1998, S. 21 m.w.N.). So verhält es sich im vorliegenden Fall jedoch nicht. Der Beschwerdeführer begehrte mit seiner Rechtsbeschwerde die Überprüfung einer seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurückweisenden Entscheidung des Landgerichts, durch die er sich in seinen Rechten verletzt sah. Mag seine Rechtsbeschwerde auch unter Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz zustandegekommen sein, so verfolgte sie doch ein sachliches, dem Zweck des Verfahrens entsprechendes Anliegen.
3. Die angegriffene Entscheidung beruht auf der nicht hinreichenden Berücksichtigung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 GG. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Oberlandesgericht eine für den Beschwerdeführer günstigere Entscheidung getroffen hätte, wenn es seine Rechtsbeschwerde nicht schon deshalb als unzulässig behandelt hätte, weil sie nach seiner Auffassung unter Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz zustandegekommen war. Die angegriffene Entscheidung ist daher wegen des festgestellten Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG aufzuheben; auf die weiteren vom Beschwerdeführer erhobenen Rügen kommt es deshalb nicht an.
4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Jentsch, Broß, Lübbe-Wolff
Fundstellen
Haufe-Index 1097440 |
NJW 2004, 1373 |
NWB 2004, 599 |
NStZ 2004, 612 |
NPA 2005, 0 |
StV 2004, 277 |
BRAK-Mitt. 2004, 78 |
www.judicialis.de 2003 |