Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Beschluss vom 21.01.2005; Aktenzeichen 11 C 04.3097) |
VG Bayreuth (Beschluss vom 13.10.2004; Aktenzeichen B 4 K 03.167) |
Tenor
- Die Beschlüsse des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 21. Januar 2005 – 11 C 04.3097 – und des Bayerischen Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 13. Oktober 2004 – B 4 K 03.167 – verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs wird aufgehoben. Die Sache wird an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
- Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen verwaltungsgerichtliche Entscheidungen, durch die ihr Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für ein vertriebenenrechtliches Verfahren abgelehnt wurde.
I.
1. Die im Jahre 1955 in der ehemaligen Sowjetunion geborene Beschwerdeführerin ist die Tochter eines ukrainischen Vaters und einer deutschen Mutter, die nach ihren Angaben im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 2 Bundesvertriebenengesetz (BVFG) umgesiedelt wurde. Die Beschwerdeführerin ist zudem mit einem deutschen Volkszugehörigen verheiratet, dem auf Antrag im August 1992 ein Aufnahmebescheid erteilt wurde, in dem sie als mit aussiedelnde nicht deutsche Ehefrau berücksichtigt wurde. Im Februar 1993 reiste die Beschwerdeführerin mit ihrer Familie in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie beantragte die Ausstellung eines Vertriebenenausweises A…, der aufgrund der zum 1. Januar 1993 in Kraft getretenen Neufassung des Bundesvertriebenengesetzes durch das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (KfbG) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I S. 2094) in einen Antrag auf Ausstellung einer Bescheinigung als Spätaussiedlerin nach § 15 Abs. 1 BVFG umgedeutet wurde. Ihr wurde zunächst eine Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG als nicht deutsche Ehegattin eines deutschen Volkszugehörigen erteilt. Der Antrag auf Ausstellung einer Bescheinigung als Spätaussiedlerin nach § 15 Abs. 1 BVFG wurde mit der Begründung abgelehnt, es fehle aufgrund der Eintragung der ukrainischen Nationalität in ihrem ersten Inlandspass an einem Bekenntnis zum deutschen Volkstum. Ihr hilfsweise gestellter Antrag auf Anerkennung als Vertriebene nach § 7 BVFG alte Fassung wurde abgelehnt, weil diese Vorschrift mit Wirkung vom 1. Januar 1993 aufgehoben worden, die Beschwerdeführerin jedoch erst im Februar 1993 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei. Im Klageverfahren trug die Beschwerdeführerin vor, die Eintragung der ukrainischen Nationalität in ihrem ersten Inlandspass sei ohne ihr Wissen und Wollen erfolgt. Außerdem habe sie die Eigenschaft als Vertriebene im Sinne des § 7 BVFG alte Fassung bereits mit der Geburt erworben.
2. Den für diese Klage gestellten Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe lehnte das Verwaltungsgericht mit dem angegriffenen Beschluss wegen fehlender Erfolgsaussichten ab. Die Beschwerdeführerin habe keinen Anspruch auf Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung, denn es könne nicht festgestellt werden, dass sie sich fortdauernd nur zum deutschen Volkstum bekannt habe. Unter Berufung auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. April 1995 – BVerwG 9 C 400.94 – (Buchholz 412.3 § 1 BVFG Nr. 51) verneinte das Verwaltungsgericht zudem die Erfolgsaussichten eines Anspruchs auf Anerkennung als Vertriebene im Sinne des § 7 BVFG alte Fassung, weil diese Vorschrift nur auf einen Vertriebenenstatus Anwendung finde, der in einer Person eines bis zum 1. Januar 1993 Übergesiedelten entstanden sei. Die hiergegen gerichtete Beschwerde lehnte der Verwaltungsgerichtshof unter Bestätigung der Ausführungen der Vorinstanz ab.
3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) durch die die Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschlüsse des Verwaltungsgerichts und des Verwaltungsgerichtshofs. Sie habe den Vertriebenenstatus (Umsiedlerin im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 2 BVFG) gemäß § 7 BVFG alte Fassung von ihrer Mutter im Zeitpunkt der Geburt vermittelt bekommen. Damit stelle sich die Frage, ob sich Vertriebene in diesem Sinne auf ihre Rechtsstellung berufen könnten, auch wenn sie – wie die Beschwerdeführerin – erst nach dem 31. Dezember 1992 eingereist seien. Dies bedürfe nicht nur einer höchstrichterlichen Überprüfung, sondern sei auch verfassungsrechtlich bedenklich, weil kein Grund dafür ersichtlich sei, nach 1992 eingereiste Vertriebene so zu behandeln, als ob der Status nicht mehr existiere.
Hinsichtlich der Spätaussiedlereigenschaft werde der Beschwerdeführerin durch die Ablehnung der Prozesskostenhilfe die Gelegenheit genommen, ihre Version der Dinge in einem ordnungsgemäßen Verfahren darzulegen und zu beweisen. Die Wertung des Verwaltungsgerichts zu den Umständen der Nationalitäteneintragung in ihrem ersten Inlandspass stelle eine Vorwegnahme der Beweisaufnahme dar.
In Anbetracht der komplizierten Aufnahmevorschriften und des Streits in der Rechtsprechung darüber, wie die Übergangsvorschrift des § 100 BVFG anzuwenden sei, habe der Zugang zur Gerichtsbarkeit durch Ablehnung der Prozesskostenhilfe nicht abgeschnitten werden dürfen. Mit den Beschlüssen würden die Anforderungen an die hinreichenden Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung überspannt. Es drängten sich hier, wie dargelegt, besondere rechtliche und tatsächliche Schwierigkeiten auf, die der Klärung im Hauptsacheverfahren bedürften.
4. Zu der Verfassungsbeschwerde hat der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts Stellung genommen.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93 b Satz 1, § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor.
1. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Insbesondere sind die Voraussetzungen für einen Verstoß gegen die in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgte Rechtsschutzgleichheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪356 ff.≫).
2. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist auch offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪356≫). Es ist zwar verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Erfolgsaussicht soll jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nicht selbst bieten, sondern zugänglich machen (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪357≫).
Die Auslegung und Anwendung des § 114 Satz 1 ZPO obliegt in erster Linie den zuständigen Fachgerichten. Verfassungsrecht wird jedoch verletzt, wenn die angegriffene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit beruhen. Die Fachgerichte überschreiten den Entscheidungsspielraum, der ihnen bei der Auslegung des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals der hinreichenden Erfolgsaussicht verfassungsrechtlich zukommt, wenn sie einen Auslegungsmaßstab verwenden, durch den einer unbemittelten Partei im Vergleich zur bemittelten die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung unverhältnismäßig erschwert wird. Das ist namentlich dann der Fall, wenn das Fachgericht die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung überspannt und dadurch den Zweck der Prozesskostenhilfe, dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, deutlich verfehlt (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪358≫; stRspr). So verkennt ein Fachgericht die Bedeutung der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit, wenn es § 114 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass auch schwierige, noch nicht geklärte Rechtsfragen im Prozesskostenhilfeverfahren “durchentschieden” werden können (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪359≫). Sieht es eine solche Rechtsfrage hingegen fehlerhaft als geklärt an, hängt es vornehmlich von der Eigenart der jeweiligen Rechtsmaterie und der Ausgestaltung des zugehörigen Verfahrens ab, wann hierbei der Zweck der Prozesskostenhilfe deutlich verfehlt wird (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪359 f.≫).
Diesen Grundsätzen werden die angegriffenen Beschlüsse nicht gerecht. Verwaltungsgericht und Verwaltungsgerichtshof haben verkannt, dass der Rechtsstreit maßgeblich von einer schwierigen, nicht geklärten Rechtsfrage mit verfassungsrechtlichem Gehalt abhängt, und haben damit der Beschwerdeführerin die Rechtsverfolgung im Vergleich zu einer bemittelten Partei unverhältnismäßig erschwert.
a) Verwaltungsgericht und Verwaltungsgerichtshof haben die Erfolgsaussichten des Hilfsantrags der Beschwerdeführerin auf Anerkennung als Vertriebene nach § 7 BVFG alte Fassung unter Berufung auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. April 1995 – BVerwG 9 C 400.94 – (a.a.O.) mit der Begründung verneint, sie könne sich nicht auf § 7 BVFG in der vor 1993 geltenden Fassung berufen, weil diese Vorschrift nur auf einen Vertriebenenstatus Anwendung finde, der in einer Person eines bis zum 1. Januar 1993 Übergesiedelten entstanden sei. Die Vorschrift des § 7 BVFG alte Fassung, die eine Überleitung des Vertriebenenstatus des sorgeberechtigten Elternteils auf seine Kinder vorsah, wurde durch das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz zum 1. Januar 1993 aufgehoben. Das Bundesverwaltungsgericht hat in der vom Verwaltungsgericht in Bezug genommenen Entscheidung festgestellt, dass der Aufhebung des § 7 BVFG keine Rückwirkung in dem Sinne zukomme, dass ein Vertriebenenstatus, der in der Person eines bis zum 1. Januar 1993 Übergesiedelten nach der bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Rechtslage kraft Gesetzes entstanden sei, nachträglich beseitigt worden wäre, weil auf diese Personen die vor dem 1. Januar 1993 geltenden Vorschriften des Bundesvertriebenengesetzes Anwendung fänden. Bedeutung habe die Aufhebung der Vorschrift allerdings für Kinder von Personen, die das Vertreibungsgebiet nach dem 31. Dezember 1992 verlassen hätten.
Letzteres berücksichtigt die Vielzahl der Fälle, in denen der Vertriebenenstatus, wie bei den Aussiedlern (§ 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG), nur beim Verlassen der Aussiedlungsgebiete bis 1992 erworben werden konnte. Nicht hingegen lässt sich diesem Satz in dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts die vom Verwaltungsgericht beigemessene Bedeutung entnehmen, dass einem Kind ein durch Geburt erworbener Vertriebenenstatus nicht zusteht, wenn es die Aussiedlungsgebiete erst nach 1992 verlassen hat. Keine Aussage trifft die Entscheidung zu der Frage, wann der Vertriebenstatus eines Umsiedlers im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 2 BVFG entsteht und ob das Kind sich auf die von einem Elternteil abgeleitete Rechtsstellung als Vertriebener berufen kann, wenn es erst nach Auslaufen des § 7 BVFG alte Fassung am 31. Dezember 1992 eingereist ist.
Verwaltungsgericht und Verwaltungsgerichtshof haben damit eine höchstrichterlich noch nicht entschiedene Rechtsfrage, bei deren Beantwortung das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot zu beachten ist, im Prozesskostenhilfeverfahren “durchentschieden”. In Anbetracht der normgeprägten und durch viele Gesetzesänderungen gekennzeichneten Rechtsmaterie und des verfassungsrechtlichen Gehalts der entscheidungserheblichen Rechtsfrage haben sie damit die Anforderungen an die Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung überspannt und den Zweck der Prozesskostenhilfe, dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, verfehlt.
b) Danach kommt es nicht mehr darauf an, ob es zudem gegen das Gebot der Rechtsschutzgleichheit verstößt, dass Verwaltungsgericht und Verwaltungsgerichtshof auch die Erfolgsaussichten eines von ihnen mit dem Hauptantrag verfolgten Anspruchs auf Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung gemäß § 15 Abs. 1 BVFG verneint haben.
3. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem dargelegten Grundrechtsverstoß. Unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichtshofs ist die Sache an diesen zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG).
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Bryde, Eichberger, Schluckebier
Fundstellen
Haufe-Index 1705490 |
NVwZ-RR 2007, 361 |