Verfahrensgang
OLG Stuttgart (Beschluss vom 19.07.2011; Aktenzeichen 8 W 206/11) |
Tenor
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 19. Juli 2011 – 8 W 206/11 – und die Anrede und Adressierung im Schreiben des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 20. Juli 2011 verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 19. Juli 2011 – 8 W 206/11 – wird aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht Stuttgart zurückverwiesen.
2. Das Land Baden-Württemberg hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Aussetzung ihres Verfahrens auf Änderung des Personenstandes nach dem Transsexuellengesetz (TSG).
1. Die Beschwerdeführerin wurde gemäß ihren äußeren Geschlechtsmerkmalen bei ihrer Geburt dem männlichen Geschlecht zugeordnet. Mit inzwischen rechtskräftigem Beschluss wurde ihr Vorname gemäß § 1 TSG in „Rosi” geändert. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Januar 2011 – 1 BvR 3295/07 – beantragte die Beschwerdeführerin beim Amtsgericht Stuttgart die Änderung ihres Personenstandes in „weiblich”. Einer geschlechtsangleichenden Operation hat sich die Beschwerdeführerin nicht unterzogen. Sie lebt seit eineinhalb Jahren im Familien- und Freundeskreis vollständig als Frau und unterzieht sich seit etwa einem Jahr einer gegengeschlechtlichen Hormontherapie.
a) Das Amtsgericht Stuttgart hat das Verfahren mit Beschluss vom 23. Mai 2011 – F 4 UR III 571/2011 TSG – gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 FamFG ausgesetzt bis der Gesetzgeber geregelt habe, ob und welche über § 1 TSG hinausgehenden Voraussetzungen zur Änderung des Personenstandes erforderlich sein sollen. § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4 TSG seien durch das Bundesverfassungsgericht für mit dem Grundgesetz unvereinbar und für nicht anwendbar erklärt worden. Anhängige Verfahren, bei denen die Entscheidung von dem verfassungswidrigen Normteil abhänge, seien bis zum Erlass des neuen Rechts auszusetzen. Gegenteiliges sei allenfalls dann anzunehmen, wenn das Bundesverfassungsgericht eine konkrete Übergangsregelung getroffen hätte, was jedoch nicht der Fall sei.
b) Mit Schreiben vom 30. Mai 2011 erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde, der das Amtsgericht nicht abhalf.
Das Oberlandesgericht Stuttgart hat mit Beschluss vom 19. Juli 2011 – 8 W 206/11 – die Beschwerde unter Verweis auf die „ausführliche und in jeder Hinsicht zutreffende” Entscheidung des Amtsgerichts und unter Bezeichnung der Beschwerdeführerin als „Antragsteller/Beschwerdeführer” zurückgewiesen. Die Verwendung der männlichen Anrede und die Verwendung des Begriffs „Antragsteller” seien richtig, so lange „der Beschwerdeführer” „seinen” Personenstand nicht geändert habe. Das Schreiben des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 20 Juli 2011, mit dem der Beschluss übermittelt wurde, war an „Herrn Rosi H.” adressiert.
2. In ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Eine Gesetzesänderung sei in absehbarer Zeit nicht zu erwarten, so dass die Entscheidung auf eine Verweigerung der Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinauslaufe. Es werde den Betroffenen auf absehbare Zeit verweigert, Anerkennung im empfundenen Geschlecht zu finden und so bewusst die Integration von Transsexuellen in die Gesellschaft verhindert.
Überdies verletzten die briefliche Anrede als „Sehr geehrter Herr H.”, die Bezeichnung als „Antragsteller”, „Beschwerdeführer” und die Adressierung von Briefen an „Herrn Rosi H.” die Beschwerdeführerin in ihrer Integrität und Würde. Das Verfahren zur Änderung des Vornamens sei abgeschlossen. Die Verwendung der männlichen Anrede trotz ihres weiblichen Vornamens und ihres Auftretens als Frau komme einem unfreiwilligen Outing, beispielsweise gegenüber dem Postboten, gleich.
3. Dem Land Baden-Württemberg wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, die jedoch nicht wahrgenommen wurde.
Entscheidungsgründe
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung anzunehmen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin geboten ist. Die Kammer ist für diese Entscheidung zuständig, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die zulässige Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Die Aussetzung des Verfahrens der Beschwerdeführerin zur Änderung des Personenstandes verletzt sie in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, weil dies die rechtliche Anerkennung ihres empfundenen Geschlechts rechtswidrig verzögert.
Transsexuelle haben einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf die rechtliche Anerkennung ihres empfundenen Geschlechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4 TSG für mit diesem Grundrecht unvereinbar und lediglich diese Voraussetzungen bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber für unanwendbar erklärt (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Januar 2011 – 1 BvR 3295/07 –, juris). Eine Aussetzung laufender Verfahren zur Änderung des Personenstandes war danach nicht angezeigt. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ist darauf gerichtet, Betroffenen, die die Voraussetzungen von § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4 TSG nicht erfüllen, die Änderung des Personenstandes unabhängig von diesen mit dem Grundgesetz unvereinbaren Voraussetzungen auch vor einer nicht absehbaren Neuregelung durch den Gesetzgeber zu ermöglichen. Dass infolge der Nichtanwendbarkeit von § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4 TSG jedenfalls bis zu einer neuen gesetzlichen Regelung Vornamens- und Personenstandsänderung unter den gleichen Voraussetzungen möglich sind (vgl. § 8 Abs. 1 Nr. 1 TSG), ist hinzunehmen.
2. Die Beschwerdeführerin wurde auch durch die in dem angegriffenen Schreiben des Oberlandesgerichts verwendete Anrede und Adressierung „Herr Rosi H.” und die Bezeichnung als „Antragsteller” und „Beschwerdeführer” in ihren Grundrechten verletzt.
Aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG folgt, dass Transsexuelle nach vollzogener Vornamensänderung entsprechend ihrem neuen Rollenverständnis anzureden und anzuschreiben sind. Die Achtung vor der in § 1 TSG vorgesehenen Rollenentscheidung verlangt, eine Person ihrem in der rechtswirksamen Änderung des Vornamens zum Ausdruck gebrachten Selbstverständnis entsprechend anzureden und anzuschreiben (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. August 1996 – 2 BvR 1833/95 –, NJW 1997, S. 1632 ≪1633≫). Hiergegen hat das Oberlandesgericht verstoßen.
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen.
3. Die Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung beruht auf § 95 Abs. 2 BVerfGG.
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Gaier, Paulus, Britz
Fundstellen
NJW 2012, 600 |
FamRZ 2012, 188 |
FamRB 2012, 9 |