Entscheidungsstichwort (Thema)
Ablehnung der Wiedereinsetzung: von höchstrichterlicher Rechtsprechung abweichende Sorgfaltsanforderungen (Vertrauensschutz)
Leitsatz (amtlich)
Es widerspricht rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung, dem rechtsuchenden Bürger die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auf Grund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten seines Anwalts zu versagen, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und mit denen er nicht zu rechnen brauchte.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3; ZPO § 519 Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
LG Aachen (Beschluss vom 07.03.1988; Aktenzeichen 3 S 325/87) |
Tenor
Der Beschluß des Landgerichts Aachen vom 7. März 1988 – 3 S 325/87 – verletzt die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, soweit ihr Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und ihre Berufung als unzulässig verworfen worden ist. In diesem Umfang wird der Beschluß aufgehoben und die Sache an das Landgericht zurückverwiesen.
Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde verworfen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung eines Antrages auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist in einem zivilrechtlichen Verfahren und die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung dieser Frist.
I.
1. Den Beschwerdeführern war im Wege einer einstweiligen Verfügung aufgegeben worden, die Räumung eines Firmengrundstücks zu dulden. Auf ihren Widerspruch hin stellte das Amtsgericht, nachdem das Grundstück zwischenzeitlich geräumt worden war, durch Urteil fest, daß der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt sei, und legte ihnen die Kosten des Verfahrens auf, weil der Antrag ursprünglich zulässig und begründet gewesen sei. Eine gegen die Kostenentscheidung eingelegte Beschwerde verwarf das Landgericht als unzulässig. Die Beschwerdeführer legten daneben auch Berufung ein. Die Frist zur Begründung dieses Rechtsmittels lief am 28. Dezember 1987 ab. Mit einem an diesem Tage beim Landgericht eingegangenen Antrag begehrten sie die Verlängerung dieser Frist um einen Monat. Ihr Prozeßbevollmächtigter legte dar, daß ihm wegen Arbeitsüberlastung, insbesondere wegen umfangreicher Strafsachen, und wegen der Feiertage eine fristgerechte ordnungsgemäße Berufungsbegründung nicht möglich gewesen sei. Diesen Antrag lehnte der Kammervorsitzende mit Beschluß vom 5. Januar 1988 ab, weil sich die Berufungskläger ebenso wie mit der Begründung der nicht statthaften Beschwerde auch mit der Begründung des zutreffenden Rechtsmittels hätten befassen können.
Am selben Tage ging die Berufungsbegründung der Beschwerdeführer bei Gericht ein. Gegen die Ablehnung der Fristverlängerung legten sie Beschwerde ein und beantragten hilfsweise Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist, weil sie damit hätten rechnen dürfen, daß ihrem Verlängerungsbegehren stattgegeben werden würde.
2. Mit dem angegriffenen Beschluß erklärte das Landgericht die Beschwerde gegen den Beschluß des Vorsitzenden vom 5. Januar 1988 für unstatthaft, wies den Antrag der Beschwerdeführer auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist sowie ihren Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung dieser Frist zurück und verwarf ihre Berufung als unzulässig. Zur Begründung führte es aus: Die Beschwerde gegen den Beschluß des Kammervorsitzenden sei unstatthaft, weil die Ablehnung des Antrages auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist nach § 225 Abs. 3 ZPO unanfechtbar sei. Der Antrag auf Entscheidung der Kammer über das Verlängerungsbegehren sei zurückzuweisen, weil § 519 Abs. 2 Satz 3 ZPO die Entscheidung über den Verlängerungsantrag ausdrücklich dem Vorsitzenden vorbehalte. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei abzulehnen, weil die Beschwerdeführer nicht ohne ihr Verschulden an der Fristeinhaltung verhindert gewesen seien. Ihr Verschulden liege darin, daß sie sich nicht rechtzeitig vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist vergewissert hätten, ob ihrem Verlängerungsantrag entsprochen worden sei. Spätestens am letzten Tag dieser Frist hätte sich ihr Prozeßbevollmächtigter erkundigen müssen, ob die Verlängerung erfolgt sei. Eine rechtzeitige Erkundigung sei nicht etwa deshalb entbehrlich gewesen, weil dieser die Bewilligung der Fristverlängerung mit großer Wahrscheinlichkeit habe erwarten dürfen. Zu einer solchen Erwartung habe er schon deswegen keine Veranlassung gehabt, weil er nach seinem eigenen Vorbringen erstmalig in seiner Praxis einen solchen Antrag gestellt habe. Im übrigen würden Fristverlängerungen bei der Kammer nicht regelmäßig, sondern nur in begründeten Ausnahmefällen gewährt, wenn die Voraussetzungen des § 519 Abs. 2 Satz 3 ZPO erfüllt seien. Da den Prozeßbevollmächtigten der Ablauf der Berufungsbegründungsfrist am 28. Dezember 1987 bekannt gewesen sei, werde er auch nicht durch eine nur geringfügige Überschreitung der Frist wegen Arbeitsüberlastung entschuldigt. Er habe nicht dargetan, warum die am 29. Dezember 1987 diktierte und geschriebene Berufungsbegründung nicht bereits tags zuvor habe fertiggestellt werden und bei Gericht eingehen können. Er habe lediglich bekundet, warum er vor Weihnachten und während der Feiertage die Schrift nicht habe fertigen können. Da die Berufungsbegründung nicht binnen eines Monats nach Einlegung der Berufung eingegangen sei, habe diese als unzulässig verworfen werden müssen.
3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 2 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 1 GG.
Dazu tragen sie vor: Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs könne die Rechtsmittelbegründungsfrist auch nach ihrem Ablauf verlängert werden, wenn der Antrag noch während der laufenden Frist gestellt worden sei. Ebenso sei entschieden worden, daß es grundsätzlich keine Verpflichtung des Prozeßbevollmächtigten gebe, sich vor Ablauf der Frist nach der Verlängerung zu erkundigen; denn beim ersten Verlängerungsantrag könne dieser regelmäßig mit großer Wahrscheinlichkeit erwarten, daß sein Begehren Erfolg habe. Deshalb würde eine Erkundigungspflicht auf die Kontrolle hinauslaufen, daß keine Verzögerung bei der Briefbeförderung eingetreten sei. Eine solche Kontrollpflicht gebe es jedoch hier ebensowenig wie bei der Einlegung eines Rechtsmittels. Die hierzu ergangene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mißachte der angegriffene Beschluß.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sie sich dagegen richtet, daß die Beschwerde gegen die Zurückweisung des Verlängerungsantrags durch den Kammervorsitzenden als unstatthaft erachtet worden ist. Warum es verfassungswidrig sein soll, daß das Landgericht in Anwendung des § 225 Abs. 3 ZPO die Beschwerde in dieser Weise beurteilt hat, legen die Beschwerdeführer nicht dar. Insoweit genügt die Verfassungsbeschwerde nicht den formalen Anforderungen von § 23 Abs. 1 und § 92 BVerfGG.
Ebenfalls unzulässig ist sie, soweit sie die Zurückweisung des Antrags auf Entscheidung der Kammer über das Verlängerungsbegehren zum Gegenstand hat. Auch hier verdeutlicht die Beschwerdeschrift nicht, inwieweit diese auf die Zuständigkeitsregelung des § 519 Abs. 2 Satz 3 ZPO gestützte Entscheidung der Verfassung widerspricht.
III.
Die Verfassungsbeschwerde ist jedoch zulässig und begründet, soweit sich die Beschwerdeführer gegen die Versagung der Wiedereinsetzung und die daraus folgende Verwerfung der Berufung als unzulässig wenden. In diesem Umfang verletzt der angegriffene Beschluß die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip.
1. Der gegenüber den Beschwerdeführern erhobene Vorwurf, ihr Prozeßbevollmächtigter habe spätestens am letzten Tage der Berufungsbegründungsfrist nachfragen müssen, ob diese Frist verlängert werde, ist verfassungsrechtlich nicht haltbar. Das ergibt sich allerdings nicht schon – wie die Beschwerdeführer meinen – aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Postlaufzeiten (BVerfGE 53, 25 (28 f.)); denn die Forderung des Landgerichts gegenüber ihrem Prozeßbevollmächtigten, sich nach dem Schicksal des Verlängerungsbegehrens zu erkundigen, zielte keineswegs vorrangig oder gar ausschließlich darauf, daß dieser den fristgerechten Eingang des Schriftstücks habe kontrollieren müssen. Bestimmend für die Annahme der Erkundigungspflicht war vielmehr die Erwägung, der Prozeßbevollmächtigte habe nicht mit großer Wahrscheinlichkeit erwarten dürfen, daß seinem Antrag entsprochen werde. Er habe daher hinreichende Vorkehrungen für den Fall seiner Ablehnung treffen müssen.
2. Jedoch widerspricht die Begründung des Landgerichts, der Prozeßbevollmächtigte habe wegen der restriktiven Kammerpraxis nicht mit einem Erfolg seines Verlängerungsantrags rechnen dürfen und das gereiche ihm zum Verschulden, rechtsstaatlichen Anforderungen an die Verfahrensgestaltung. Welche Erwartungen der rechtsuchende Bürger insoweit hegen darf, richtet sich im Rechtsstaat grundsätzlich nach der Rechtslage, also danach, wie das Gericht bei zutreffender Anwendung der maßgeblichen Normen verfahren müßte. Dabei ist eine bekannte Entscheidungspraxis des angerufenen Spruchkörpers in die Vorausschau einzubeziehen, jedoch nur insoweit, als sie den rechtlichen Anforderungen genügt; denn auf eine rechtswidrige Spruchpraxis braucht sich der Staatsbürger nicht einzustellen. Ob eine Spruchpraxis rechtens ist, ist allerdings vorrangig eine Frage einfachen Rechts, dessen Auslegung und Anwendung Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und solange der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen sind, als nicht Fehler erkennbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 (92 f.)). Die unteren Instanzen der Fachgerichte sind auch bei der Auslegung und Anwendung von Verfahrensvorschriften grundsätzlich nicht gehindert, abweichende Auffassungen zu der Rechtsprechung übergeordneter, insbesondere der obersten Bundesgerichte zu vertreten. Gehindert sind sie jedoch aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit, solche Meinungsverschiedenheiten zu Lasten des Bürgers auszutragen und es ihm zum Verschulden gereichen zu lassen, wenn er auf eine eindeutige Rechtsprechung eines obersten Bundesgerichts vertraut. Eine solche Verfahrensgestaltung beschränkt den Anspruch des Bürgers auf berechenbaren und gleichmäßigen Zugang zu den Gerichten unzumutbar. Nur wenn dem rechtsuchenden Bürger bekannt sein muß, daß eine strengere Handhabung von Verfahrensvorschriften zu erwarten ist, kann eine andere Beurteilung gerechtfertigt sein.
3. Ob der Prozeßbevollmächtigte der Beschwerdeführer darauf vertrauen durfte, daß dem Verlängerungsantrag stattgegeben werden würde, richtet sich somit zunächst nach § 519 Abs. 2 Satz 3 ZPO in der Auslegung und Anwendung, welche diese Norm durch die Rechtsprechung, insbesondere des Bundesgerichtshofs, erfährt. Dieser hat entschieden, daß der Anwalt beim ersten Verlängerungsgesuch regelmäßig mit großer Wahrscheinlichkeit erwarten kann, daß dem Antrag entsprochen wird, wenn einer der Gründe des § 519 Abs. 2 Satz 3 ZPO vorgebracht wird (BGH, VersR 1985, S. 972; NJW 1983, S. 1741). Zu den Gründen, die im Schrifttum und in der Gerichtspraxis im allgemeinen als „erheblich” im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden, zählt er auch die – hier ebenfalls geltend gemachte – berufliche Überlastung. Weiter weist er darauf hin, daß eine strengere Gerichtspraxis, die solche Gründe generell nicht für ausreichend hält, sich nicht im Rahmen zulässiger, am Einzelfall orientierter Ermessensausübung bewege; auf eine solche Praxis brauche sich der Anwalt nicht einzustellen (BGH, VersR, a.a.O., S. 973).
Es kann hier dahingestellt bleiben, ob die Begründung des Kammervorsitzenden in seinem Ablehnungsbeschluß vom 5. Januar 1988 vor dieser Rechtsprechung Bestand haben könnte. Zu entscheiden war nur über den angegriffenen Beschluß der Kammer, mit dem die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Verschuldens des Prozeßbevollmächtigten versagt worden ist. Der Beschluß verweist auf die restriktive Kammerpraxis, wonach eine Fristverlängerung bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen nur in begründeten Ausnahmefällen gewährt wird. Damit verlangt das Landgericht von dem Anwalt gerade das, worauf dieser sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht einzustellen brauchte (BGH, a.a.O.). Das ist nicht etwa deswegen unerheblich, weil das Gericht seine Annahme, der Prozeßbevollmächtigte habe nicht mit großer Wahrscheinlichkeit einen positiven Bescheid erwarten dürfen, auch darauf stützt, daß er einen solchen Antrag erstmalig gestellt habe. Abgesehen davon, daß fehlende eigene Antragspraxis grundsätzlich nichts über die objektive Berechtigung solcher Erwartungen aussagt, spricht die Tatsache, daß der Rechtsanwalt erstmalig von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, eher für als gegen die Bewilligung einer Verlängerung. Es ist auch nichts für eine Kenntnis des Prozeßbevollmächtigten von der der Beschwerdeführerin angelasteten Praxis der 3. Zivilkammer hervorgetreten. Angesichts der Tatsache, daß dieser erstmalig einen Verlängerungsantrag gestellt hatte, liegt das auch fern.
Die Zurückweisung des Wiedereinsetzungsantrages führt dazu, daß den Beschwerdeführern der Zugang zur Berufungsinstanz in unvorhersehbarer und damit in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird (BVerfGE 69, 381 (385 f.)). Dieser Verfassungsverstoß setzt sich in der Verwerfung der Berufung als unzulässig fort, weil sie sich auf die Verfristung der Berufungsbegründung stützt.
4. Der Beschluß des Landgerichts muß deshalb nach § 95 Abs. 2 BVerfGG in dem bezeichneten Umfang aufgehoben und die Sache insoweit an das Landgericht zurückverwiesen werden.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen ergibt sich aus § 34 a Abs. 2 BVerfGG. Es entspricht der Billigkeit, die Auslagenerstattung in vollem Umfange anzuordnen, weil die Beschwerdeführer ihr wesentliches Verfahrensziel, die erneute Prüfung ihres Wiedereinsetzungsgesuchs unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, erreicht haben.
Fundstellen
BVerfGE, 372 |
NJW 1989, 1147 |