Verfahrensgang
LG München II (Urteil vom 11.11.1993; Aktenzeichen 8 S 1295/93) |
Tenor
Das Urteil des Landgerichts München II vom 11. November 1993 – 8 S 1295/93 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes, soweit seine Berufung bezüglich des von ihm eingeklagten Schadensersatzes wegen unterlassener Schönheitsreparaturen und Nutzungsausfalls zurückgewiesen und der Widerklage stattgegeben wurde. Es wird insoweit und im Kostenausspruch aufgehoben. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung an das Landgericht München II zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
I.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein zivilgerichtliches Berufungsurteil in einem Mietrechtsstreit.
Der Beschwerdeführer hatte den Beklagten des Ausgangsverfahrens ab Januar 1991 eine unstreitig frisch renovierte Wohnung zu einem monatlichen Netto-Mietzins von 1.400,- DM vermietet. Nach Beendigung des Mietverhältnisses durch Kündigung des Beschwerdeführers zum 31. Dezember 1991 verlangte dieser von den Beklagten die Vornahme von Schönheitsreparaturen und die Beseitigung von Schäden der Mietwohnung. Die Beklagten lehnten dies ab. In einem daraufhin auf Antrag des Beschwerdeführers beim Amtsgericht Dachau durchgeführten selbständigen Beweisverfahren stellte ein Sachverständiger Mängel des Mietobjekts fest, für deren Beseitigung er 4.985,- DM veranschlagte, darunter 2.800,- DM für die Vornahme unterlassener Schönheitsreparaturen. Mit seiner beim Amtsgericht Dachau erhobenen Klage machte der Beschwerdeführer dann u.a. Schadensersatzansprüche wegen der festgestellten Mängel in Höhe von 4.985,- DM und wegen des ihm bis zum Abschluß des selbständigen Beweisverfahrens entstandenen Nutzungsausfalls in Höhe von 7.000,- DM geltend. Dabei stützte er sich auf eine dem Formularmietvertrag maschinenschriftlich angefügte Klausel (§ 17 Abs. 5 dieses Mietvertrags), die folgenden Wortlaut hat:
“Der Mieter verpflichtet sich zur Durchführung sämtlicher Schönheitsreparaturen zum Zeitpunkt der Übergabe. Die Arbeiten sind spätestens mit dem Auszug fällig. Bei nicht rechtzeitiger Ausführung der Arbeiten hat der Vermieter das Recht, diese im Wege der Ersatzvornahme auf Kosten des Mieters vornehmen zu lassen.”
Die Beklagten beriefen sich demgegenüber auf den formularmäßigen § 9 Abs. 2 des Mietvertrags. Diese Regelung legt in Satz 1 für die einzelnen Räume der Mietwohnung Fristen von drei, fünf oder sieben Jahren fest, innerhalb derer der Mieter Schönheitsreparaturen auszuführen hat, und bestimmt in Satz 2, daß bei Beendigung des Mietverhältnisses vor Ablauf dieser Fristen der Mieter einen verhältnismäßigen Anteil der Renovierungskosten zu tragen hat. Im Wege der Widerklage machten die Beklagten einen Betrag von 3.830,- DM (Kaution nebst Zinsen) geltend.
Mit Teilurteil vom 26. Januar 1993 – bezüglich einiger Klagepositionen wurde das Verfahren mit einem Beweisbeschluß fortgesetzt – wies das Amtsgericht die Klage im wesentlichen ab. Zu den vom Beschwerdeführer geltend gemachten Schadensersatzansprüchen wegen unterlassener Schönheitsreparaturen und wegen Nutzungsausfalls führte es u.a. aus, die Beklagten seien nicht zur Durchführung von Schönheitsreparaturen verpflichtet gewesen. Für den in Frage stehenden Fall eines Auszugs der Mietpartei vor Ablauf der in § 9 Abs. 2 Satz 1 des Mietvertrags festgelegten Fristen treffe § 9 Abs. 2 Satz 2 des Mietvertrags eine eindeutige und klare Regelung, die durch die hinzugefügte Klausel des § 17 Abs. 5 des Mietvertrags nicht aufgehoben werde. Die vom Beschwerdeführer aus der letztgenannten Klausel hergeleitete Rechtsfolge, die Mieter seien bei Beendigung des Mietverhältnisses zu Schönheitsreparaturen unabhängig von der Dauer der Mietzeit und dem Zeitpunkt der letzten Renovierungsarbeiten verpflichtet, sei in höchstem Maße unbillig. Ein Vermieter, der sich auf eine derartige Klausel berufe, handle rechtsmißbräuchlich. Dem Beschwerdeführer könne auch kein anteiliger Ersatz der Renovierungskosten zugesprochen werden, weil er keine nach einzelnen Räumen differenzierte Kostenberechnung vorgelegt habe. Der Widerklage wurde in Höhe von 3.730,- DM stattgegeben.
Gegen dieses Urteil legte der Beschwerdeführer Berufung ein, soweit seine Klage in Höhe eines Teilbetrags von 7.575,58 DM abgewiesen und der Widerklage stattgegeben worden war. Dabei verfolgte er u.a. die Durchsetzung seiner Schadensersatzansprüche wegen unterlassener Schönheitsreparaturen und wegen Nutzungsausfalls weiter und berechnete seine verbliebene Klageforderung unter Berücksichtigung des den Beklagten in erster Instanz auf ihre Widerklage zugesprochenen Restbetrags der Kaution in Höhe von 3.730,- DM neu, rechnete also im Berufungsverfahren insoweit mit seinen restlichen Forderungen auf. In der Berufungsbegründung trug er unter ausdrücklichem Verweis auf in erstinstanzlichen Schriftsätzen unter Beweis gestelltes Vorbringen vor, die Beklagten hätten sich bei Abschluß des Mietvertrags ausdrücklich und ohne Einschränkungen verpflichtet, nach ihrem Auszug Schönheitsreparaturen vorzunehmen. Diese Individualabrede, die in § 17 Abs. 5 des Mietvertrags ihren Niederschlag gefunden habe, gehe (entgegen der Auffassung des Amtsgerichts) den Regelungen des § 9 Abs. 2 des Mietvertrags vor. Er weise noch darauf hin, daß nach den tatsächlichen Verhältnissen mit dem Begriff “Übergabe” in § 17 Abs. 5 des Mietvertrags nicht der Besitzübergang zu Beginn des Mietverhältnisses gemeint gewesen sei, sondern zu dessen Ende und “Übergabe” lediglich ein anderes Wort für “Rückgabe” sei.
Das Landgericht wies die Berufung mit dem angegriffenen Urteil vom 11. November 1993 bezüglich der Schadensersatzansprüche wegen unterlassener Schönheitsreparaturen und wegen Nutzungsausfalls zurück. Zur Begründung führte es u.a. aus, die Beklagten seien nicht verpflichtet gewesen, die Wohnung bei Mietende zu renovieren. Die vom Beschwerdeführer zur Anspruchsbegründung herangezogene Regelung des § 17 Abs. 5 des Mietvertrags besage, daß die Mieter die Schönheitsreparaturen “zum Zeitpunkt der Übergabe” schuldeten, wobei die Renovierung, sofern sie nicht zu Beginn der Mietzeit vorgenommen werde, spätestens mit dem Auszug fällig sein solle. Mit der Klausel könne damit nur die Anfangsrenovierung gemeint gewesen sein. Die Auffassung des Beschwerdeführers, das Wort “Übergabe” müsse in “Rückgabe” umgedeutet werden, finde im Vertragstext keine Stütze. Da die Beklagten die Wohnung unstreitig in renoviertem Zustand übernommen hätten, sei die Regelung des § 17 Abs. 5 des Mietvertrags von Anfang an gegenstandslos gewesen.
Der Beschwerdeführer möge bei den Vertragsverhandlungen zwar den Wunsch geäußert haben, daß die Beklagten die Wohnung bei Beendigung der Mietzeit wieder so herrichten sollten, wie sie diese übernommen hatten, und die Beklagten mögen sich damit auch einverstanden erklärt haben. In den Vertragstext sei eine entsprechende Vereinbarung jedoch nicht aufgenommen worden.
II.
Gegen diese Entscheidung wendet sich der Beschwerdeführer mit der Rüge, seine Rechte aus Art. 3 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG seien verletzt. Dadurch, daß das Landgericht seinen Sachvortrag und seine Beweisangebote zu der entscheidungserheblichen Individualabrede über die Durchführung von Schönheitsreparaturen unberücksichtigt gelassen habe, habe es gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen. In dem prozeßrechtswidrigen Unterlassen der gebotenen Beweisaufnahme liege zugleich ein Verstoß gegen das Willkürverbot.
III.
Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und die Beklagten des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Dabei sah das Bayerische Staatsministerium der Justiz Art. 103 Abs. 1 GG durch die Entscheidung des Landgerichts nicht verletzt. Bei der Auslegung des § 17 Abs. 5 des Mietvertrags habe das Gericht den Vortrag des Beschwerdeführers, der Begriff “Übergabe” sei versehentlich anstatt “Rückgabe” verwendet worden, allerdings nicht allein mit Hinweis auf den Wortlaut der Klausel als unbeachtlich bewerten dürfen. Ob in dieser Klausel eine Anfangsrenovierung oder eine Renovierung nach Beendigung des Mietverhältnisses gemeint gewesen sei, hätte das Landgericht vielmehr unter Berücksichtigung auch außerhalb der Vertragsurkunde liegender Umstände ermitteln müssen. Insoweit sei das Urteil einfachrechtlich bedenklich. Die Grenze zu einer willkürlichen Rechtsanwendung dürfte indes noch nicht überschritten sein.
IV.
1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung (§ 93c BVerfGG) liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen bereits entschieden.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Das Urteil des Landgerichts verletzt, soweit in ihm die Berufung des Beschwerdeführers gegen das seine Schadensersatzforderung wegen unterlassener Schönheitsreparaturen und Nutzungsausfalls abweisende und der Widerklage der Beklagten stattgebende Urteil des Amtsgerichts zurückgewiesen wurde, Art. 3 Abs. 1 GG.
In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, daß bei gerichtlichen Entscheidungen ein Verstoß gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG nicht schon dann vorliegt, wenn die Rechtsanwendung oder das eingeschlagene Verfahren Fehler enthalten. Hinzukommen muß vielmehr, daß diese bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich sind und sich deshalb der Schluß aufdrängt, daß sie auf sachfremden Erwägungen beruhen (vgl. BVerfGE 4, 1 ≪7≫; 81, 132 ≪137≫; 87, 273 ≪278 f.≫). Ist eine Entscheidung derart unverständlich, daß sie sachlich schlechthin unhaltbar ist, so ist sie objektiv willkürlich. Ohne daß es auf subjektive Umstände oder ein Verschulden des Gerichts ankäme, stellt eine derartige Entscheidung einen Verstoß gegen das aus Art. 3 Abs. 1 GG abzuleitende Verbot dar, offensichtlich unsachliche Erwägungen zur Grundlage einer staatlichen Entscheidung zu machen (vgl. BVerfGE 58, 163 ≪167 f.≫; 71, 202 ≪205≫). So liegt es hier.
3. Das Landgericht hat § 17 Abs. 5 des Mietvertrags dahin ausgelegt, die Beklagten hätten sich hierdurch verpflichtet, an der Wohnung, die sie unstreitig in renoviertem Zustand übernahmen, zu Beginn des Mietverhältnisses Schönheitsreparaturen durchzuführen. Dabei stellt es selbst fest, die Parteien hätten somit das vorgefertigte Vertragsformular um eine von Anfang an gegenstandslose Vereinbarung ergänzt. Diese Auslegung leitet das Gericht allein aus dem Wort “Übergabe” ab. Dieses Wort ist jedoch nicht eindeutig und kann jedenfalls im allgemeinen Sprachverständnis unter Nichtjuristen nicht nur die Übergabe der Mietsache durch den Vermieter an den Mieter, sondern auch deren Übergabe durch den Mieter an den Vermieter im Sinne von Rückgabe der Mietsache gemäß § 556 Abs. 1 BGB bei Beendigung des Mietverhältnisses bedeuten. Nach einem in der fachgerichtlichen Rechtsprechung allgemein anerkannten Grundsatz ist darüber hinaus eine unabsichtliche Falschbezeichnung, auf die sich der Beschwerdeführer vorliegend berufen hat, auch bei einer formbedürftigen Erklärung unschädlich (vgl. Heinrichs in: Palandt, BGB, 57. Aufl., § 133 Rn. 19). In einem solchen Fall ist der Inhalt der abgegebenen Erklärung durch Ermittlung eines vom Üblichen abweichenden Sprachgebrauchs, durch Eliminierung von Falschbezeichnungen und Beseitigung von Widersprüchen auszulegen (vgl. Heinrichs, a.a.O.), also auch unter Berücksichtigung von Umständen außerhalb der Urkunde. Das Landgericht durfte angesichts dessen den unter Beweis gestellten Vortrag des Beschwerdeführers, der Begriff “Übergabe” sei versehentlich anstatt des Begriffs “Rückgabe” verwendet worden, die Mietvertragsparteien seien sich einig gewesen, daß es bei der Klausel des § 17 Abs. 5 um die Renovierung der Mietsache bei Beendigung des Mietverhältnisses gehe, nicht allein unter Hinweis auf den Wortlaut der Klausel als unbeachtlich bewerten. Die Auslegung der Klausel läßt anerkannte Auslegungsgrundsätze in einem Maße außer acht, daß die Entscheidung des Landgerichts nicht mehr verständlich ist.
Das Urteil des Landgerichts vom 11. November 1993 ist deshalb, soweit in ihm die Berufung des Beschwerdeführers gegen das seine Schadensersatzforderung wegen unterlassener Schönheitsreparaturen und wegen Nutzungsausfalls abweisende und der Widerklage der Beklagten stattgebende Urteil des Amtsgerichts zurückgewiesen wurde, – auch im Kostenausspruch – aufzuheben. Die Sache ist insoweit an das Landgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG).
V.
Dem Beschwerdeführer sind seine notwendigen Auslagen gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG zu erstatten.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Limbach, Kruis, Winter
Fundstellen
Haufe-Index 1276500 |
NJW 1998, 2810 |
NZM 1998, 757 |
ZMR 1998, 549 |
WuM 1998, 399 |