Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: behördeninterne Postlaufzeit
Leitsatz (redaktionell)
Wird die Einspruchsschrift vom Verteidiger in ein für die Stadtverwaltung bestimmtes, mit dem Hinweis „keine Fristsachen” gekennzeichnetes Verteilfach beim Amtsgericht eingelegt, nachdem er sich zuvor bei dem Personal der Poststelle darüber vergewissert hat, daß dieses Fach täglich geleert wird, so braucht er auch bei der Größe der Stadtverwaltung von Frankfurt nicht mit einer erheblich verzögerten Verteilung der eingeworfenen Schriftstücke innerhalb der Verwaltung zu rechnen; vielmehr darf er darauf vertrauen, daß die Einspruchsschrift innerhalb von sechs Tagen, davon vier Arbeitstage, bei dem zuständigen Amt eingehen wird. Die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verletzt denAnspruch auf rechtliches Gehör.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; StPO § 44 S. 1; OWiG § 67 Abs. 1 S. 1, § 46
Verfahrensgang
AG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 15.03.1990; Aktenzeichen 933 OWi 245/89 - 2004) |
Tatbestand
A.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Versagung von Wiedereinsetzung in einem Bußgeldverfahren.
I.
1. Gegen den Beschwerdeführer erging ein Bußgeldbescheid des Staatlichen Veterinäramtes Frankfurt a.M., der am Donnerstag, dem 18. Mai 1989, zugestellt wurde. Der vom Verteidiger eingelegte Einspruch erhielt den Eingangsstempel „2. Juni 1989”. Die Verwaltungsbehörde verwarf mit Bescheid vom 13. Juni 1989 den Einspruch als unzulässig, weil die zweiwöchige Einspruchsfrist nicht gewahrt sei. Zur Begründung seines Wiedereinsetzungsantrages führte der Beschwerdeführer aus, sein Verteidiger habe die Einspruchsschrift am Freitag, dem 26. Mai 1989, in das Abholfach mit der Aufschrift „Stadtverwaltung – Keine Fristsachen” bei dem Amtsgericht Frankfurt a.M. eingeworfen, nachdem er sich zuvor bei dem Personal der Poststelle darüber vergewissert habe, daß dieses Fach täglich geleert werde. Daher habe er davon ausgehen können, daß die am Donnerstag, dem 1. Juni 1989, ablaufende Einspruchsfrist habe gewahrt werden können. Diese Darstellung wurde zum Zwecke der Glaubhaftmachung von dem Verteidiger anwaltlich versichert.
Das Amtsgericht Frankfurt a.M. versagte durch Beschluß vom 9. August 1989 die Wiedereinsetzung und sah die Sachdarstellung als nicht hinreichend glaubhaft gemacht an. Eine anwaltliche Versicherung reiche hierzu nicht aus. Im übrigen sei der Wiedereinsetzungsantrag auch unbegründet; denn der Beschwerdeführer habe nicht alles getan, um seinen Verteidiger von dem Fristenlauf zu informieren. Er habe nicht darauf vertrauen dürfen, daß der Verteidiger – durch formlose Übersendung – den Bußgeldbescheid am selben Tage erhalten werde wie er und dann für die Einhaltung der Einspruchsfrist Sorge tragen werde. Vielmehr hätte er seinem Verteidiger Tatsache und Datum der Zustellung mitteilen müssen.
2. In dem Nachholungs- und Überprüfungsverfahren gemäß § 46 OWiG, § 33a StPO wies der Beschwerdeführer u.a. darauf hin, die Auffassung des Amtsrichters, eine anwaltliche Versicherung reiche zur Glaubhaftmachung nicht aus, widerspreche der herrschenden Meinung. Wenn das Amtsgericht diese nicht für richtig halte, so habe es ihm Gelegenheit zu anderweitiger Glaubhaftmachung geben müssen. Der Verteidiger versicherte eidesstattlich, die Einspruchsschrift am Freitag, dem 26. Mai 1989, in den Briefkasten der Stadtverwaltung eingeworfen zu haben, nachdem er sich darüber vergewissert habe, daß das Fach am darauffolgenden Montag geleert werde. Unter dem 15. März 199O hielt der Amtsrichter seine Entscheidung vom 9. August 1989 aufrecht und führte aus, es verbleibe bei dem Beschluß vom 9. August 1989, „zumal schon die Ausführungen im Beschluß zur Begründetheit den Beschluß tragen”.
II.
Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Er macht geltend, die Entscheidung vom 15. März 1989 lasse nicht erkennen, daß sich das Gericht mit seinen Ausführungen überhaupt auseinandergesetzt habe.
III.
Für den Hessischen Minister der Justiz, der Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten hatte, hat sich die Hessische Staatskanzlei geäußert. Sie sieht durch die angegriffene Entscheidung Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Das Amtsgericht habe die an eine Wiedereinsetzung zu stellenden Anforderungen überspannt, weil es die anwaltliche Versicherung als zur Glaubhaftmachung nicht ausreichend angesehen habe. Der Einwurf in das nicht für Fristsachen bestimmte Postfach sei dem Beschwerdeführer aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht als Verschulden anzurechnen und hier ausnahmsweise gerechtfertigt, weil bei normalem Lauf eine Fristüberschreitung nicht zu befürchten gewesen sei. Das Postfach sei nämlich unbestritten täglich geleert worden, und bis zum Fristablauf hätten noch sechs Kalendertage, davon vier Arbeitstage, zur Verfügung gestanden. In entsprechender Anwendung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu verzögerten Postlaufzeiten seien etwaige Verzögerungen in der behördeninternen Weiterleitung von Posteingängen dem Beschwerdeführer nicht zuzurechnen.
Entscheidungsgründe
B.
I.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet; der Beschluß vom 15. März 1990 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör.
Wenngleich aus Art. 103 Abs. 1 GG keine Verpflichtung herzuleiten ist, jedes Vorbringen zu bescheiden (vgl. BVerfGE 22, 267 ≪274≫), müssen die wesentlichen der Rechtsverfolgung dienenden Tatsachenbehauptungen jedenfalls in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden (vgl. BVerfGE 47, 182 ≪189≫). Der angegriffene Beschluß läßt nicht erkennen, ob der Amtsrichter das Vorbringen betreffend den Einwurf in den Briefkasten am Freitag, dem 26. Mai 1989, überhaupt zur Kenntnis genommen und erwogen (vgl. BVerfGE 72, 119 ≪121≫) hat; denn zur Begründung stützt er sich ausschließlich auf den Beschluß vom 9. August 1989. Darin wurde die Frage, ob der Einwurf in den Postkasten der Stadtverwaltung dem Beschwerdeführer als Verschulden angelastet werden durfte, aber überhaupt nicht angesprochen. Jene Entscheidung stellte vielmehr ausschließlich darauf ab, der Beschwerdeführer selbst habe nicht alles zur Einhaltung der Einspruchsfrist Erforderliche getan; dabei wird allerdings in keiner Weise nachvollziehbar dargelegt, daß das dem Beschwerdeführer angelastete Unterlassen sich auf den verspäteten Eingang der – sechs Tage vor dem Fristablauf in das Behördenfach eingelegten – Einspruchsschrift ausgewirkt hat.
2. Selbst wenn die angegriffene Entscheidung aber den Einwurf in das Abholfach der Stadtverwaltung berücksichtigt, verstößt sie gegen Art. 103 Abs. 1 GG, weil sie dann die Anforderungen an das, was zur Erlangung einer Wiedereinsetzung zu veranlassen ist, überspannt hat (vgl. BVerfGE 31, 388 ≪390≫). Zwar war der Briefkasten ausdrücklich mit dem Hinweis „keine Fristsachen” gekennzeichnet. Hierdurch wurde kenntlich gemacht, daß keine Trennung zwischen normalen Sendungen und Fristsachen erfolgte, letztere mithin nicht beschleunigt befördert wurden. Gleichwohl ist hier das durch den Einwurf in dieses Verteilfach geschaffene Risiko einer Fristüberschreitung dem Anwalt des Beschwerdeführers nicht als Verschulden vorzuwerfen. Der Verteidiger des Beschwerdeführers hatte sich ausdrücklich danach erkundigt, ob das betreffende Verteilfach täglich geleert werde, was unstreitig bejaht wurde. Mit der offenbar erheblich verzögerten Verteilung der eingeworfenen Schriftstücke innerhalb der Frankfurter Stadtverwaltung mußte nicht gerechnet werden. Selbst angesichts der Größe der Stadtverwaltung Frankfurt durfte der Anwalt darauf vertrauen, daß die Einspruchsschrift innerhalb der noch verbleibenden sechs Tage, davon vier Arbeitstage, noch fristgerecht bei dem zuständigen Amt eingehen würde.
Im übrigen wäre ein Verschulden des Verteidigers dem Beschwerdeführer im Rahmen von § 46 OWiG, § 44 StPO nicht anzulasten, es sei denn, ein Mitverschulden des Beschwerdeführers hätte zur Fristversäumung mit beigetragen; dafür ist hier nichts ersichtlich.
3. Die angegriffene Entscheidung beruht auf der Verletzung der grundrechtsgleichen Gewährleistung des Art. 103 Abs. 1 GG; es ist nicht auszuschließen, daß der Amtsrichter unter Berücksichtigung der Wirkkraft dieser Norm anders entschieden hätte.
II.
Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen folgt aus § 34a BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen
Haufe-Index 1535775 |
NJW 1991, 1167 |