Verfahrensgang
AG Gelsenkirchen (Beschluss vom 15.07.2009; Aktenzeichen 14 UR II 1124/09) |
Tenor
Der Beschluss des Amtsgerichts Gelsenkirchen vom 15. Juli 2009 – 14 UR II 1124/09 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 und Absatz 3 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Gelsenkirchen zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert wird auf 8.000 EUR festgesetzt.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten. Mit dieser Anordnung erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung von Beratungshilfe nach dem Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen (Beratungshilfegesetz – BerHG).
I.
1. Der Beschwerdeführer hatte von dem zuständigen Integrationscenter Arbeitslosengeld II unter Anrechnung von Kindergeld als Einkommen erhalten. Nachdem die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung rückwirkend aufgehoben und die überzahlten Beträge zurückgefordert hatte, beantragte der Beschwerdeführer selbst beim Integrationscenter, diesen Sachverhalt rückwirkend auch für die ALG-II-Leistungen zu berücksichtigen und Leistungen direkt an die Familienkasse zu zahlen. Das Integrationscenter wertete das Schreiben als Überprüfungsantrag nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) und lehnte diesen mit der Begründung ab, dass die Anrechnung zu Recht erfolgt sei.
Der daraufhin beim Amtsgericht gestellte Antrag auf Beratungshilfe für das Widerspruchsverfahren wurde von der Rechtspflegerin zurückgewiesen. Die Befriedigung der rechtlichen Bedürfnisse des Rechtsuchenden trete durch die Entscheidung über den Widerspruch ein. Wenn sich ein Rechtsuchender direkt an einen Anwalt und nicht erst selbst an die Behörde wende, liege Mutwilligkeit vor.
Die Erinnerung wurde mit richterlichem Beschluss als unbegründet zurückgewiesen. Die Begründung der Rechtspflegerin wurde als zutreffend bewertet. Es bestehe kein Erfahrungssatz, dass die Widerspruchsstelle keine objektive Beratung durchführe. Der Antragsteller habe durch seinen Antrag bei der Behörde bewiesen, dass er selbst in der Lage sei, einen Widerspruch mit Begründung zu formulieren.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung der Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG).
Die aktive Beteiligung am Verfahren werde hier nur durch eine rechtskundige Vertretung ermöglicht.
3. Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hat von einer Stellungnahme abgesehen.
Entscheidungsgründe
II.
1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt (vgl. BVerfGE 122, 39 ≪48 ff.≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 – 1 BvR 1517/08 –, juris, Rn. 21 ff.; NJW 2009, S. 3417 ff.).
2. Die Verfassungsbeschwerde erweist sich danach als begründet. Die angegriffene richterliche Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG).
Es wird insoweit auf den Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Mai 2009 – 1 BvR 1517/08 – (juris, Rn. 27 ff., 38 ff.) verwiesen, wonach die vom Amtsgericht befürwortete Auslegung des Beratungshilfegesetzes, dass es einem Rechtsuchenden zumutbar sei, selbst kostenlos Widerspruch einzulegen und dabei die Beratung derjenigen Behörde in Anspruch zu nehmen, die zuvor den Ausgangsverwaltungsakt erlassen hat, den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht wird.
Das Amtsgericht hat keine ausreichenden Umstände angeführt, die die Notwendigkeit fremder Hilfe bei der Rechtsberatung hier in Frage stellen könnten.
Die erfolglose Antragstellung durch den Beschwerdeführer belegt nicht, dass der Beschwerdeführer zur rechtlichen Auseinandersetzung mit den Ablehnungsgründen in der Lage ist. Ein Verweis auf die erneute Befassung der Behörde mit dem bereits selbst vorgetragenen Anliegen wird dem berechtigten Anliegen des Rechtsuchenden nach aktiver Beteiligung am Verfahren (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 – 1 BvR 1517/08 –, juris, Rn. 28) nicht gerecht und überschreitet die Grenzen der Zumutbarkeit.
III.
Die angegriffene Entscheidung wird gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen, das erneut über die Erinnerung zu entscheiden hat.
IV.
Der Gegenstandswert wird auf 8.000 EUR festgesetzt. Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG ist der Gegenstandswert unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der subjektiven und objektiven Bedeutung der Angelegenheit, des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit sowie der Vermögens- und Einkommensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen zu bestimmen (vgl. BVerfGE 79, 357 ≪361 f.≫ und BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫), jedoch nicht unter 4.000 EUR. Liegen keine Besonderheiten vor, ist bei stattgebenden Kammerentscheidungen in der Regel ein Gegenstandswert von 8.000 EUR angemessen (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 4. April 2007 – 1 BvR 66/07 –; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. September 2007 – 2 BvR 2151/06 –; stRspr).
V.
Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Mit dieser Anordnung erledigt sich der Antrag der Beschwerdeführerin auf Gewährung von Prozesskostenhilfe (vgl. BVerfGE 71, 122 ≪136 f.≫; 105, 239 ≪252≫).
Unterschriften
Kirchhof, Bryde, Schluckebier
Fundstellen