Entscheidungsstichwort (Thema)
Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde; überlange Dauer der Durchsicht der von der Steuerfahndung mitgenommenen Gegenstände
Leitsatz (redaktionell)
1. Nach dem Grundsatz der Subsidiarität soll der gerügte Grundrechtsverstoß nach Möglichkeit schon im fachgerichtlichen Verfahren beseitigt werden. Danach hat ein Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinn hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen.
2. Einen nicht unerheblichen Verfahrensverstoß dürfte es darstellen, wenn die Steuerfahndung bereits Beweismittel ausgewertet hat, bevor ihr dies durch richterliche Anordnung der Beschlagnahme gestattet wurde.
3. Dauert die Mitnahme von Gegenständen durch die Steuerfahndung zur Durchsicht ohne einen erkennbaren sachlichen Grund mehr als fünf Jahre lang an, dürfte diese Verfahrensweise mit dem Schutzzweck des § 110 StPO, eine übermäßige und auf Dauer angelegte Datenerhebung zu verhindern, kaum zu vereinbaren sein.
Normenkette
BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 1; StPO § 94 Abs. 2, § 98 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2, §§ 102, 110; AO §§ 208, 404
Verfahrensgang
LG Neubrandenburg (Beschluss vom 06.04.2021; Aktenzeichen 23 Qs 30/21) |
AG Neubrandenburg (Beschluss vom 31.01.2020; Aktenzeichen 321 Gs 173/20) |
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Anordnung der Beschlagnahme zahlreicher Unterlagen und Ordner im Rahmen eines Strafverfahrens wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung. Dem sind im April 2013, Juni 2014 und Dezember 2014 richterlich angeordnete Durchsuchungen vorausgegangen. In Vollzug dieser Durchsuchungsbeschlüsse wurden die später beschlagnahmten Gegenstände zur Durchsicht mitgenommen. Die Steuerfahndungsstelle ersuchte erst am 27. Januar 2020 die zuständige Staatsanwaltschaft, einen Antrag auf Beschlagnahme der Gegenstände zu stellen. Das Amtsgericht ordnete daraufhin die Beschlagnahme mit Beschluss vom 31. Januar 2020 an, das Landgericht wies die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beschwerdeführers mit Beschluss vom 6. April 2021 zurück.
II.
Rz. 2
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Die Verfassungsbeschwerde ist bereits unzulässig. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht der in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommende allgemeine Grundsatz der Subsidiarität entgegen.
Rz. 3
1. Nach dem Grundsatz der Subsidiarität soll der gerügte Grundrechtsverstoß nach Möglichkeit schon im fachgerichtlichen Verfahren beseitigt werden (vgl. BVerfGE 63, 77 ≪78≫). Danach hat ein Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinn hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. BVerfGE 81, 22 ≪27 m.w.N.≫). Die Verweisung auf die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde steht unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit einer anderweitigen prozessualen Möglichkeit zur Abhilfe (vgl. BVerfGE 134, 106 ≪115 f. Rn. 28 m.w.N.≫).
Rz. 4
2. Soweit der Beschwerdeführer seinen Einwand, dass die Sicherstellung (§ 110 StPO) unzumutbar lang angedauert habe, erstmals gegen die Beschlagnahmebeschlüsse vorgebracht hat, hat er nicht alle nach Lage des Verfahrens zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten genutzt, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken und die Grundrechtsverletzung zu verhindern. Denn ihm wäre es möglich und zumutbar gewesen, die Dauer der Sicherstellung im Wege eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung entsprechend § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO einer fachgerichtlichen Prüfung zu unterziehen (vgl. BVerfGK 1, 126 ≪133 f.≫; 15, 225 ≪236 f.≫).
Rz. 5
Ein derartiger Antrag auf gerichtliche Entscheidung erschiene nicht offenkundig aussichtslos. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die Durchsicht zügig durchgeführt wird, um abhängig von der Menge des vorläufig sichergestellten Materials und der Schwierigkeit seiner Auswertung in angemessener Zeit zu einer Entscheidung darüber zu gelangen, was als potentiell beweiserheblich dem Gericht zur Beschlagnahme angetragen und was an den Beschuldigten herausgegeben werden soll (BGH, Beschluss vom 5. August 2003 - StB 7/03 -, juris, Rn. 16; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Januar 2002 - 2 BvR 2248/00 -, Rn. 11).
Rz. 6
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Verfahrensweise der Ermittlungsbehörden erheblichen Bedenken ausgesetzt. Die Mitnahme der Gegenstände zur Durchsicht dauerte ohne einen erkennbaren sachlichen Grund mehr als fünf Jahre lang an. Das Fehlen eines sachlichen Grundes offenbart sich darin, dass die Staatsanwaltschaft und das Landgericht die Verfahrensweise offen als "bedauerliches Versehen" bezeichnet haben. Eine solche Verfahrensweise dürfte mit dem Schutzzweck des § 110 StPO, eine übermäßige und auf Dauer angelegte Datenerhebung zu verhindern (vgl. BVerfGE 113, 29 ≪58≫), kaum zu vereinbaren sein. Einen ebenso nicht unerheblichen Verfahrensverstoß dürfte es darstellen, dass die Steuerfahndung allem Anschein nach bereits Beweismittel ausgewertet hat. Dies ist ihr erst nach richterlicher Anordnung der Beschlagnahme gemäß § 94 Abs. 2 in Verbindung mit § 98 Abs. 1 Satz 1 StPO gestattet (vgl. Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 110 Rn. 2 m.w.N.). Dieser Umstand deutet darauf hin, dass grundlegende Verfahrensvorschriften verkannt wurden. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht fernliegend, dass ein mit der Prüfung befasstes Gericht die Dauer der Sicherstellung für unverhältnismäßig gehalten und diese aufgehoben hätte.
Rz. 7
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Rz. 8
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen
Haufe-Index 15467121 |
BFH/NV 2023, 365 |