Entscheidungsstichwort (Thema)
Beihilfebetrug. Beweisangebot. Erschwerungsgründe. Milderungsgründe. rechtliches Gehör. verminderte Schuldfähigkeit
Leitsatz (amtlich)
In gerichtlichen Disziplinarverfahren nach dem Bundesdisziplinargesetz hat das erst- und zweitinstanzliche Verwaltungsgericht selbst diejenigen Tatsachen aufzuklären und festzustellen, die für den Nachweis des Dienstvergehens und die Bemessung der Disziplinarmaßnahme von Bedeutung sind (§ 58 Abs. 2, § 65 Abs. 1 BDG).
Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG fordert, dass das Verwaltungsgericht ein Beweisangebot zu einer Tatsache, die bei der Bemessung der Disziplinarmaßnahme berücksichtigt werden kann, nicht schon deshalb übergeht, weil es die Möglichkeit, neue Erkenntnisse zu gewinnen, gering einschätzt.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; BDG § 13 Abs. 1-2, §§ 58, 65 Abs. 1, 3, § 69
Verfahrensgang
Hamburgisches OVG (Urteil vom 18.08.2004; Aktenzeichen 11 Bf 38/04.F) |
VG Hamburg (Entscheidung vom 23.01.2004; Aktenzeichen 31 B 4586/03) |
Tenor
Das Urteil des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 18. August 2004 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Hamburgische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
Die Beschwerde des Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO i.V.m. § 69 BDG an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist. Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen vor, weil das Berufungsurteil auf einer Verletzung des Anspruchs des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG beruht.
Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei der Entscheidungsfindung in Erwägung zu ziehen. Demnach muss das Gericht einem Beweisangebot nachgehen, wenn die unter Beweis gestellte Tatsachenbehauptung nach seinem Rechtsstandpunkt erheblich ist und die Nichtberücksichtigung des Beweisangebots im Prozessrecht keine Stütze findet (BVerfGE 50, 32 ≪36≫; 60, 250 ≪252≫; 65, 305 ≪307≫; 69, 141 ≪144≫; BVerfG, Kammerbeschluss vom 22. Januar 2001 – 1 BvR 2075/98 – NJW-RR 2001, 1006).
Nach diesen Maßstäben hat das Oberverwaltungsgericht das Beweisangebot des Beklagten zu der Frage nicht übergehen dürfen, ob das von ihm im Zeitraum der Betrugshandlungen (Juli und Oktober 2002, Januar 2003) eingenommene Mittel bewusstseins- und persönlichkeitsverändernde Wirkungen hat.
Der Beklagte hat geltend gemacht, er habe von Ende 2001 bis Anfang 2003 den sog. Fatburner „Stacker 3” des Herstellers „NVE Pharmaceuticals, 33 Newton-Sparta Road, Newton NJ 07860” eingenommen, um abzunehmen. Er habe dieses Mittel über ein Fitness-Studio bezogen. Es enthalte u.a. den Wirkstoff „Ephidrin”. Die chemische Untersuchung des Mittels durch einen Sachverständigen werde erweisen, dass es Wirkstoffe enthalte, die zu Persönlichkeitsveränderungen führten. Er sei noch im Besitz einer Kapsel, die er für die Untersuchung zur Verfügung stellen könne.
Auf der Grundlage des Rechtsstandpunktes des Oberverwaltungsgerichts kommt diesem Beweisangebot entscheidungserhebliche Bedeutung zu:
Das Oberverwaltungsgericht nimmt an, dass bei der Bemessung der Disziplinarmaßnahme für Betrugshandlungen zum Nachteil des Dienstherrn als mildernder Umstand berücksichtigt werden kann, dass der Beamte die Taten im Zustand verminderter Schuldfähigkeit gemäß §§ 20, 21 StGB begangen hat. Es hält aber für ausgeschlossen, dass sich der Beklagte bei Tatbegehung in einem solchen Zustand befand, in dem seine Fähigkeit, sein Verhalten zu steuern, wegen herabgesetzten Hemmungsvermögens erheblich vermindert war (vgl. Tröndle/Fischer, StGB, 52. Auflage, § 21 Rn. 5 m.N. zur Rspr des Bundesgerichtshofs). Diese Würdigung hat das Oberverwaltungsgericht auf die Erwägungen gestützt, dass der Beklagte die Taten in planmäßiger Art begangen habe und den Kollegen und Vorgesetzten keine Veränderungen des Verhaltens aufgefallen seien. Auch habe der Beklagte in der mündlichen Verhandlung keinen Beweisantrag gestellt. Den entscheidungserheblichen Vortrag des Beklagten zur Einnahme des Mittels „Stacker 3” und zu den darin enthaltenen Wirkstoffen hat das Oberverwaltungsgericht als wahr unterstellt, ihm aber kein Gewicht beigemessen.
Diese Vorgehensweise findet im Prozessrecht keine Stütze, weil sie eine vorweggenommene Beweiswürdigung darstellt:
Gemäß § 58 Abs. 1 BDG erhebt das Gericht die erforderlichen Beweise. Demnach hat es grundsätzlich selbst diejenigen Tatsachen festzustellen, die für den Nachweis des Dienstvergehens und die Bemessung der Disziplinarmaßnahme von Bedeutung sind (vgl. auch BTDrucks 14/4659, S. 49, zu § 58 BDG). Entsprechend § 86 Abs. 1 VwGO folgt daraus die Verpflichtung, diejenigen Maßnahmen der Sachaufklärung zu ergreifen, die sich nach Lage der Dinge aufdrängen. Dies gilt gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 BDG auch für die Berufungsinstanz. Diese Aufklärungspflicht wird durch § 58 Abs. 2, § 65 Abs. 3 BDG begrenzt, die die Ablehnung verspätet gestellter Beweisanträge ermöglichen.
Danach darf das Gericht Beweisangebote zu Tatsachen, die nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblich sind und nicht gemäß § 58 Abs. 2, § 65 Abs. 3 BDG abgelehnt werden dürfen, nur unberücksichtigt lassen, wenn sich ausschließen lässt, dass die Beweiserhebung zu neuen Erkenntnissen führen kann, die geeignet sind, die bisherige Überzeugung des Gerichts zu erschüttern. Dies ist der Fall, wenn die unter Beweis gestellte Tatsachenbehauptung ohne jeden greifbaren Anhaltspunkt „ins Blaue hinein” aufgestellt oder das Beweismittel offensichtlich untauglich ist. Das Gericht darf ein Beweisangebot nicht schon deshalb übergehen, weil es die Wahrscheinlichkeit als gering einschätzt, dass durch die Beweiserhebung neue Erkenntnisse gewonnen werden (BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 18. Juli 1994 – 1 BvR 1177/93 – NJW-RR 1995, 441 und vom 22. Januar 2001, a.a.O.; BVerwG, Beschlüsse vom 14. Januar 1998 – BVerwG 3 B 214.97 – Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 286 und vom 31. Januar 2002 – BVerwG 7 B 92.01 – Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 318).
Das Oberverwaltungsgericht hat das Beweisangebot des Beklagten nicht gemäß § 65 Abs. 3 BDG abgelehnt. Daher kann dahingestellt bleiben, ob eine Ablehnung nach dieser Vorschrift in Betracht kommt, wenn der Beamte ohne die Beweiserhebung aus dem Dienst zu entfernen ist.
Ausgehend davon, dass das Oberverwaltungsgericht die Angaben des Beklagten zur Einnahme des Mittels als wahr unterstellt hat, ohne Feststellungen zu der Häufigkeit der Einnahme und den Dosierungen zu treffen, ist das Beweisangebot zu den Wirkungen des Mittels „Stacker 3” hinreichend substanziiert. Der Benennung eines Sachverständigen hat es nicht bedurft (§ 98 VwGO, §§ 403, 404 ZPO i.V.m. § 3 BDG). Die Erwägungen, auf die das Oberverwaltungsgericht seine Beweiswürdigung gestützt hat, sind nicht geeignet, das Beweisangebot unberücksichtigt zu lassen:
Die Art der Tatbegehung lässt für sich genommen keine hinreichend sicheren Rückschlüsse auf den psychischen Zustand des Beklagten zur Tatzeit zu, weil die Betrugshandlungen und deren Vorbereitung weder einen besonderen Aufwand noch ein besonderes Geschick erforderten. Hinsichtlich der Annahme, das dienstliche Verhalten des Beklagten im Tatzeitraum sei unauffällig gewesen, lässt das Berufungsurteil nicht erkennen, welche tatsächlichen Feststellungen ihr zugrunde liegen (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Der entsprechende Hinweis der Klägerin im Schriftsatz vom 12. August 2004 kann nicht verwertet werden, weil er völlig pauschal gehalten ist. Die Klägerin hat weder die befragten Kollegen und Vorgesetzten benannt noch den Inhalt der Angaben in Grundzügen wiedergegeben. Dem Umstand, dass der Beklagte in der mündlichen Verhandlung keinen seinem Beweisangebot entsprechenden Beweisantrag gestellt hat, kommt nach den konkreten Umständen kein Beweiswert zu. Jedenfalls in Anbetracht des drohenden Ausspruchs der disziplinarischen Höchstmaßnahme hätte es gemäß § 86 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 3 BDG eines Hinweises bedurft, dass das Oberverwaltungsgericht dem schriftlichen Beweisangebot keine Bedeutung beizumessen gedachte.
Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
Nach der Rechtsprechung des Disziplinarsenats des Bundesverwaltungsgerichts richtet sich die Disziplinarmaßnahme in Fällen des innerdienstlichen Betrugs zum Nachteil des Dienstherrn nach den besonderen Merkmalen des Einzelfalles und der Persönlichkeit des Beamten (vgl. § 13 Abs. 1 BDG). Der Beamte ist in der Regel aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen, wenn Erschwerungsgründe vorliegen, denen keine Milderungsgründe von solchem Gewicht gegenüberstehen, dass eine Gesamtbetrachtung den Schluss rechtfertigt, der Beamte habe das Vertrauen noch nicht endgültig verloren (vgl. § 13 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 1 BDG). Je gravierender die Erschwerungsgründe in ihrer Gesamtheit zu Buche schlagen, desto gewichtiger müssen die Milderungsgründe sein, um davon ausgehen zu können, dass noch ein Rest an Vertrauen zum Beamten vorhanden ist. Erschwerungsgründe können sich z.B. aus Anzahl und Häufigkeit der Betrugshandlungen, der Höhe des Gesamtschadens, der missbräuchlichen Ausnutzung der dienstlichen Stellung oder dienstlich erworbener Kenntnisse sowie daraus ergeben, dass die Betrugshandlungen im Zusammenhang mit weiteren Verfehlungen von erheblichem disziplinarischen Eigengewicht, z.B. mit Urkundenfälschungen, stehen (BVerwG, Urteile vom 9. September 1997 – BVerwG 1 D 1.97 –; vom 11. November 1998 – BVerwG 1 D 29.97 –; vom 28. November 2000 – BVerwG 1 D 56.99 – Buchholz 232 § 54 Satz 2 BBG Nr. 23; vom 26. September 2001 – BVerwG 1 D 32.00 – Buchholz 232 § 77 BBG Nr. 18).
Durch diese Rechtsprechung ist der vorliegende Fall selbst dann nicht präjudiziert, wenn Milderungsgründe nur geringeren Gewichts vorliegen sollten (vgl. auch Urteil vom 23. Oktober 1990 – BVerwG 1 D 64.89 – DokBer B 1991, 91 ff.). Über einen mit dem vorliegenden Fall (Gesamtschaden 648,50 EUR, drei Betrugsfälle, davon zwei Fälle mit einer Datumsfälschung einhergehend) vergleichbaren Fall ohne nennenswerte Milderungsgründe hatte der Senat bisher nicht zu entscheiden.
Bei der Prüfung, ob dem Beklagten mildernde Umstände zur Seite stehen, können seine Angaben zu seiner Lebenssituation im Jahr 2002 Anlass geben aufzuklären, ob es sich bei den Pflichtverletzungen um „Entgleisungen während einer negativen Lebensphase” handelte, die er inzwischen überwunden hat (vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 18. April 1979 – BVerwG 1 D 39.78 – BVerwGE 63, 219 ≪220≫; vom 10. November 1987 – BVerwG 1 D 24.87 –; vom 23. August 1988 – BVerwG 1 D 136.87 – NJW 1989, 851; vom 23. November 1999 – BVerwG 1 D 5.99 –).
Unterschriften
Albers, Dr. Müller, Dr. Heitz
Fundstellen
Haufe-Index 1394826 |
DÖD 2006, 134 |
PersV 2006, 66 |
VR 2005, 360 |
ZfSH/SGB 2007, 38 |
BayVBl. 2006, 53 |
DVBl. 2005, 1148 |