Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches OVG (Urteil vom 23.03.2011; Aktenzeichen 14 LB 4/10) |
Tenor
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 23. März 2011 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
Rz. 1
Die Beschwerde des Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO, § 69 BDG, § 41 Abs. 1 LDG unter Aufhebung des Berufungsurteils an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist. Das Berufungsurteil beruht auf einem Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, weil das Oberverwaltungsgericht den Anspruch des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) verletzt hat. Es ist unschädlich, dass der Beklagte den Gehörsverstoß nicht als solchen bezeichnet, sondern im Rahmen einer Divergenzrüge dargelegt hat (vgl. Beschlüsse vom 22. Dezember 2005 – BVerwG 2 B 50.05 – und vom 4. September 2008 – BVerwG 2 B 61.07 – Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 4 Rn. 4).
Rz. 2
Das Oberverwaltungsgericht hat die vom Verwaltungsgericht ausgesprochene Entfernung des Beklagten aus dem Beamtenverhältnis bestätigt, indem es “zwecks Vermeidung von Wiederholungen” gemäß § 130b Satz 2 VwGO, § 4 LDG auf die zutreffenden Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung verwiesen hat. Zu dieser Vorgehensweise hat der Senat bereits in dem Beschluss vom 4. August 2005 – BVerwG 2 B 5.05 – (Buchholz 235.1 § 66 BDG Nr. 1), der zu einer Berufungsentscheidung des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts in einer Disziplinarsache ergangen ist, ausgeführt:
Rz. 3
“Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen vor, weil die Berufungsentscheidung den Begründungsanforderungen gemäß § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO, § 3 BDG nicht genügt. Nach dieser Vorschrift, die gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO auch für das Berufungsverfahren gilt, sind in dem Urteil die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Dies bedeutet, dass die Entscheidungsgründe eine tatsächliche und rechtliche Würdigung des Streitstoffes enthalten müssen. Das Gericht muss – unter Berücksichtigung des darauf bezogenen Vortrags der Verfahrensbeteiligten – nachvollziehbar darlegen, auf welche tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte es seine Entscheidung stützt (Urteil vom 5. Juli 1994 – BVerwG 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 ≪209≫; Beschluss vom 18. Juli 2001 – BVerwG 1 B 118.01 – Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 18 (Urteil vom 31. Juli 2002 – BVerwG 8 C 37.01 – Buchholz 428 § 1 Abs. 3 VermG Nr. 35 S. 110).
Rz. 4
Will das Berufungsgericht den Erwägungen der Vorinstanz vollständig oder in bestimmten Punkten folgen, so kann es seiner Begründungspflicht dadurch nachkommen, dass es die Berufung gemäß § 130 b Satz 2 VwGO, § 3 BDG aus den Gründen der erstinstanzlichen Entscheidung zurückweist. Dabei sind die in Bezug genommenen Gründe genau zu bezeichnen. Unter dieser Voraussetzung werden sie Bestandteil der Begründung des Berufungsurteils (Beschlüsse vom 25. Februar 1992 – BVerwG 1 B 29.92 – Buchholz 310 § 130 b VwGO Nr. 2 und vom 17. Dezember 1997 – BVerwG 2 B 103.97 – juris).
Rz. 5
Die Erfüllung der Begründungspflicht gemäß § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO durch Bezugnahme gemäß § 130 b Satz 2 VwGO kommt naturgemäß hinsichtlich desjenigen Vortrags nicht in Betracht, den ein Verfahrensbeteiligter neu in das Berufungsverfahren einführt. Stellt ein Beteiligter die entscheidungserhebliche tatsächliche oder rechtliche Würdigung des erstinstanzlichen Gerichts substantiiert in Frage, so fordert das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO, dass das Berufungsgericht darauf inhaltlich eingeht (Beschlüsse vom 20. Juli 1979 – BVerwG 7 CB 21.79 – NJW 1980, 953 ≪954≫ und vom 9. Dezember 1980 – BVerwG 7 B 238.80 – Buchholz 312 EntlG Nr. 17; BFH, Urteile vom 29. Juli 1992 – II R 14/92 – BFHE 169, 1 ≪3≫ und vom 23. April 1998 – IV R 30/97 – NVwZ-RR 151 ≪152≫).”
Rz. 6
Dem Erfordernis, auf substantiierte Einwendungen gegen die tatsächliche oder rechtliche Würdigung des Verwaltungsgerichts im Berufungsurteil inhaltlich einzugehen, kommt in Disziplinarklageverfahren besondere Bedeutung zu:
Rz. 7
In diesen Verfahren ist der Zugang zum Oberverwaltungsgericht eröffnet, ohne dass es einer Zulassung der Berufung bedarf (§ 41 Abs. 1 LDG, 64 Abs. 1 Satz 1 BDG). Macht ein Verfahrensbeteiligter von der Möglichkeit, Berufung einzulegen, in zulässiger Weise Gebrauch, hat das Oberverwaltungsgericht als zweite Tatsacheninstanz die den Verwaltungsgerichten nach § 41 Abs. 1 LDG, § 60 Abs. 2 Satz 2 BDG übertragene Disziplinarbefugnis letztverantwortlich auszuüben. Das Oberverwaltungsgericht hat die erforderliche Disziplinarmaßnahme aufgrund einer eigenen Bemessungsentscheidung nach § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG (§ 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 LDG) zu bestimmen, ohne an die Wertungen des Dienstherrn gebunden zu sein. Dabei hat es die im Einzelfall bemessungsrelevanten Tatsachen vollständig zu ermitteln und mit dem ihnen zukommenden Gewicht in die Gesamtwürdigung einzubeziehen (vgl. Urteile vom 3. Mai 2007 – BVerwG 2 C 9.06 – Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 3 Rn. 11 f., vom 29. Mai 2008 – BVerwG 2 C 59.07 – Buchholz 235.1 § 70 BDG Nr. 3 Rn. 11 f. und vom 27. Januar 2011 – BVerwG 2 A 5.09 – Rn. 29 f. ≪zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung Buchholz vorgesehen≫). Die Gründe des Berufungsurteils müssen erkennen lassen, dass das Oberverwaltungsgericht eine eigene Bemessungsentscheidung getroffen hat. Dazu gehört jedenfalls, dass es zu substantiierten tatsächlichen und rechtlichen Einwendungen gegen die erstinstanzliche Bemessungsentscheidung Stellung nimmt.
Rz. 8
Der Beklagte hat in der Beschwerdebegründung dargelegt, dass er sich mit seiner Berufung gegen tatsächliche und rechtliche Würdigungen des Verwaltungsgerichts gewandt hat, auf denen die Bemessungsentscheidung beruht. Der Beklagte hat vor dem Oberverwaltungsgericht erneut vorgetragen, er habe sich im Tatzeitraum in einer existentiellen wirtschaftlichen Notlage befunden, die zu einer schweren persönlichen Krise geführt habe. Er habe sich beim Bau eines Eigenheims hoffnungslos übernommen. Seine Frau habe aufgrund eines Unfalls nicht mehr arbeiten und daher das Familieneinkommen nicht mehr aufbessern können. Seit 2003 leide er an Diabetes des Typs II, danach sei er an einer schweren depressiven Episode erkrankt und alkoholabhängig geworden. Das Verwaltungsgericht habe seine wirtschaftliche Lage und deren gesundheitliche Auswirkungen bei der Bemessung der Disziplinarmaßnahme nicht berücksichtigt. Vielmehr habe es sich darauf beschränkt, die sog. anerkannten Milderungsgründe zu prüfen.
Rz. 9
Angesichts dieser Einwendungen des Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil durfte sich das Oberverwaltungsgericht nicht darauf beschränken, dessen Vorbringen im Tatbestand des Berufungsurteils kursorisch zu erwähnen und in den Entscheidungsgründen auf die Gründe des erstinstanzlichen Urteils Bezug zu nehmen. Damit hat es in der Sache die Erwägungen des Verwaltungsgerichts wiederholt, die der Beklagte gerade angegriffen hat. Die Gründe des Berufungsurteils lassen nicht erkennen, dass das Oberverwaltungsgericht unter Berücksichtigung des Berufungsvorbringens des Beklagten eine eigene Bemessungsentscheidung nach § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 LDG getroffen hat.
Rz. 10
Die Revisionszulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung und der Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO, § 69 BDG, § 41 Abs. 1 LDG) hat der Beklagte nicht dargelegt:
Rz. 11
Die aufgeworfene Frage nach den inhaltlichen Anforderungen an die Bemessungsentscheidung nach § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 LDG ist durch die Rechtsprechung des Senats zu den wortgleichen Bestimmungen des § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG geklärt. Danach ist die Prüfung entlastender Gesichtspunkte auch bei sog. Zugriffsdelikten nicht darauf beschränkt, ob die Voraussetzungen eines sog. anerkannten Milderungsgrundes vorliegen. Diese in der Rechtsprechung des Disziplinarsenats des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Milderungsgründe dürfen nicht als abschließender Kanon der allein beachtlichen Entlastungsgründe angesehen werden. Vielmehr ist das Gewicht aller entlastenden Gesichtspunkte, etwa einer außergewöhnlich schwierigen Lebenssituation während des Tatzeitraums, der Schwere des Dienstvergehens gegenüberzustellen (Urteile vom 20. Oktober 2005 – BVerwG 2 C 12.04 – BVerwGE 124, 252 ≪260 f.≫ = Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 1 S. 7 f. und vom 3. Mai 2007 – BVerwG 2 C 9.06 – Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 3 Rn. 23).
Rz. 12
Eine Divergenz ist nicht gegeben, weil die Annahme nahe liegt, dass das Verwaltungsgericht den vom Senat entwickelten Maßstäben für die Bemessungsentscheidung nicht prinzipiell widersprechen wollte, sondern sie im vorliegenden Fall rechtsfehlerhaft angewandt hat (vgl. Beschlüsse vom 3. Juli 2007 – BVerwG 2 B 18.07 – juris Rn. 4 und vom 5. Dezember 2007 – BVerwG 2 B 87.07 – juris Rn. 4). Das Oberverwaltungsgericht hat auf die fallbezogenen fehlerhafte Anwendung Bezug genommen.
Unterschriften
Herbert, Dr. Heitz, Dr. Maidowski
Fundstellen