Verfahrensgang
VG Berlin (Urteil vom 07.07.2020; Aktenzeichen 38 K 7.19 V) |
Tenor
Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 7. Juli 2020 wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Revisionsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
Tatbestand
Rz. 1
Die Kläger sind syrische Staatsangehörige und begehren die Erteilung von Visa zum Familiennachzug zu ihrem im Bundesgebiet lebenden und als subsidiär schutzberechtigt anerkannten Sohn beziehungsweise Bruder (Stammberechtigter).
Rz. 2
Die Kläger zu 1 und 2 sind die Eltern, die Kläger zu 3 - 6 die Geschwister des am 1. Januar 2001 in Syrien geborenen Stammberechtigten. Dieser reiste Mitte 2015 in das Bundesgebiet ein und stellte im April 2016 einen Asylantrag. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) erkannte ihm mit Bescheid vom 31. Januar 2018 den subsidiären Schutzstatus zu und lehnte den Antrag im Übrigen ab. Am 17. Dezember 2018 wurde ihm eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG erteilt.
Rz. 3
Am 26. November 2018 beantragten die Kläger die Erteilung von Visa zum Familiennachzug beim Generalkonsulat in Istanbul. Die Anträge wurden mit Bescheiden der Auslandsvertretung vom 28. Dezember 2018 abgelehnt.
Rz. 4
Die dagegen erhobenen Klagen hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 7. Juli 2020 abgewiesen. Die Kläger hätten keinen Anspruch auf Neubescheidung ihrer Visumanträge nach § 6 Abs. 3 i. V. m. § 36 Abs. 1 AufenthG a. F. oder i. V. m. § 36a Abs. 1 Satz 2 oder § 22 Satz 1 AufenthG. Der Stammberechtigte sei zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mehr minderjährig gewesen. Dieser nach allgemeinem Prozessrecht maßgebliche Zeitpunkt führe auch nicht dazu, dass die Behörde ein auf § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG gestütztes Nachzugsbegehren durch Verfahrensverzögerung oder rechtswidrige Versagung des Visums vereiteln könnte, weil den Betroffenen dagegen hinreichende Rechtsschutzmöglichkeiten rechtzeitig vor Erreichen der Volljährigkeit des Kindes zur Verfügung stünden. Die Beschränkung des Elternnachzuges auf eine Einreise bis zum Zeitpunkt der Volljährigkeit des subsidiär Schutzberechtigten stehe auch im Einklang mit Unionsrecht. Mit der Volljährigkeit unterfalle der Schutzberechtigte nicht mehr der UN-Kinderrechtskonvention und Art. 24 GRC. Aus Art. 8 EMRK ergebe sich kein Recht auf Einreise und Aufenthalt und Art. 6 Abs. 1 und 2 GG begründeten keinen grundrechtlichen Anspruch von ausländischen Ehegatten oder Familienangehörigen auf Nachzug zu ihrem berechtigterweise in Deutschland lebenden Ehegatten oder Familienangehörigen. Die Ungleichbehandlung des Elternnachzuges zu ihren subsidiär schutzberechtigten Kindern vor und nach deren Volljährigkeit sei wegen der Unterschiede im Hinblick auf den Schutz des Kindes und der Familie gerechtfertigt und verstoße nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die tatbestandlichen Voraussetzungen einer besonderen Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG lägen weder im Falle der Kläger noch des Stammberechtigten vor. Ebenso lägen keine dringenden humanitären Gründe im Sinne von § 22 AufenthG vor. Ein Anspruch der Geschwister des Stammberechtigten sei weder durch § 36a AufenthG noch durch einen Kindernachzugsanspruch nach § 32 Abs. 1 AufenthG eröffnet, weil es für Letzteren an einem Aufenthaltstitel der Eltern fehle.
Rz. 5
Zur Begründung ihrer Sprungrevision machen die Kläger sinngemäß eine Verletzung von § 36a AufenthG geltend, weil das Verwaltungsgericht einen Familiennachzugsanspruch wegen Erreichens der Volljährigkeit des Stammberechtigten ablehne. Es könne auch kein effektiver Rechtsschutz über § 123 VwGO erreicht werden. Das Erreichen der Volljährigkeit des Stammberechtigten sei durch einen Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz verursacht und könne den Klägern nicht zugerechnet werden.
Rz. 6
Die Beklagte und die Beigeladene verteidigen das Urteil des Verwaltungsgerichts.
Entscheidungsgründe
Rz. 7
Die zulässige Revision der Kläger ist nicht begründet. Im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) hat das Verwaltungsgericht erkannt, dass die Kläger keinen Anspruch auf Erteilung eines nationalen Visums (§ 6 Abs. 3 AufenthG) zum Familiennachzug zu dem als subsidiär schutzberechtigt anerkannten Stammberechtigten haben. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (1.) hatten sie keinen Nachzugsanspruch nach § 36a AufenthG, weil der Stammberechtigte nicht mehr minderjährig war (2.). Nach den bindenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts liegt weder eine durch die familiäre Situation begründete außergewöhnliche Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 AufenthG vor (3.), noch haben die Kläger einen Anspruch auf Familiennachzug aus dringenden humanitären Gründen nach § 22 Satz 1 AufenthG (4.).
Rz. 8
1. Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels - wie der vorliegenden - grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz. Rechtsänderungen, die danach eintreten, sind vom Revisionsgericht zu berücksichtigen, wenn sie das Tatsachengericht, wenn es jetzt entschiede, zu beachten hätte (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 17. Dezember 2015 - 1 C 31.14 - BVerwGE 153, 353 Rn. 9 und vom 21. August 2018 - 1 C 22.17 - NVwZ 2019, 417 Rn. 11 m. w. N.). Der Entscheidung sind daher zum einen das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes vom 9. Juli 2021 zur Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters (BGBl. I S. 2467 ≪2502≫), sowie das Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch das Gesetz vom 23. Mai 2022, zugrunde zu legen. Unionsrechtlich maßgeblich sind die Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251 S. 12 - RL 2003/86/EG) und die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 S. 9 - RL 2011/95/EU).
Rz. 9
2. Im Einklang mit Bundesrecht hat das Verwaltungsgericht einen Anspruch der Kläger auf Familiennachzug verneint.
Rz. 10
a) Ein solcher Anspruch der Kläger zu 1 und 2 auf Elternnachzug folgt nicht aus § 36 Abs. 1 AufenthG in der bis zum 31. Juli 2018 gültigen Fassung. Die Vorschrift findet nach § 104 Abs. 13 Satz 1 AufenthG Anwendung auf den Familiennachzug zu Ausländern, denen bis zum 17. März 2016 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG erteilt worden ist, wenn der Antrag auf erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zwecke des Familiennachzuges zu dem Ausländer bis zum 31. Juli 2018 gestellt worden ist. Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Dem Stammberechtigten wurde eine Aufenthaltserlaubnis am 17. Dezember 2018 erteilt. Die Kläger stellten ihren Visumantrag am 26. November 2018. Die Kläger zu 3 bis 6 haben keinen Anspruch auf Kindernachzug nach § 32 Abs. 1 AufenthG, weil ihre Eltern nicht im Besitz des erforderlichen Aufenthaltstitels sind.
Rz. 11
b) Einen Anspruch der Kläger zu 1 und 2 nach § 36a AufenthG hat das Verwaltungsgericht zutreffend verneint, weil der Stammberechtigte zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts am 7. Juli 2020 bereits volljährig war.
Rz. 12
aa) Nach § 6 Abs. 3 i. V. m. § 36a Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Satz 1 AufenthG kann den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG (als subsidiär Schutzberechtigter) besitzt, aus humanitären Gründen ein nationales Visum für die Einreise und den Aufenthalt zum Familiennachzug erteilt werden, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält. Die beispielhafte Aufzählung ("insbesondere") der zwingenden humanitären Gründe für die Zusammenführung in § 36a Abs. 2 Satz 1 AufenthG nennt unter Nr. 1 die Unmöglichkeit der Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft seit langer Zeit und in Nr. 2 die Betroffenheit eines minderjährigen Kindes.
Rz. 13
bb) Die sich daraus ergebende Ungleichbehandlung des Familiennachzuges zum anerkannten Flüchtling nach § 36 Abs. 1 AufenthG einerseits und zum subsidiär Schutzberechtigten nach § 36a AufenthG andererseits verstößt nicht gegen höherrangiges Recht.
Rz. 14
Sie ist insbesondere mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Soweit dieser dem Normgeber gebietet, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln, und dies sowohl für ungleiche Belastungen als auch ungleiche Begünstigungen gilt (BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 1988 - 1 BvR 777/85 u. a. - BVerfGE 79, 1 ≪17≫), kann offenbleiben, ob anerkannte Flüchtlinge einerseits und subsidiär Schutzberechtigte andererseits im Hinblick auf die nach dem sekundären Unionsrecht bestehenden Unterschiede im Schutzstatus überhaupt vergleichbar sind. Denn eine Ungleichbehandlung wäre jedenfalls sachlich gerechtfertigt. Sowohl nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 3 GG (BVerfG, Beschlüsse vom 15. Dezember 1959 - 1 BvL 10/55 - BVerfGE 10, 234 ≪246≫ und vom 3. Oktober 1989 - 1 BvL 78/86 u. a. - BVerfGE 81, 1 ≪8≫; vgl. auch Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, 9. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 14 ff.) als auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 14 EMRK (EGMR ≪GK≫, Urteil vom 24. Mai 2016 - Nr. 38590/10, Biao v. Denmark - Rn. 90) kommt es nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit maßgeblich auf die Gewichtung der durch die Ungleichbehandlung beeinträchtigten Freiheitsrechte an. Im Hinblick auf den Familiennachzug von und zu Minderjährigen sind dabei der Familienschutz nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK sowie das Kindeswohl und Kinderrechte zu berücksichtigen.
Rz. 15
Weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK vermitteln einen unmittelbaren Anspruch auf Familienzusammenführung (BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 1979 - 1 BvR 650/77 - BVerfGE 51, 386 ≪395≫; EGMR ≪GK≫, Urteil vom 3. Oktober 2014 - Nr. 12738/10, Jeunesse v. the Netherlands - Rn. 107). Bei Entscheidungen über Aufenthaltsrechte sind die familiären Bindungen angemessen zu berücksichtigen. Erforderlich ist eine Einzelfallbetrachtung, bei der die familiären Bindungen, aber auch sonstige Umstände wie die Trennungsdauer oder die Möglichkeit der Herstellung der Familieneinheit nur im Bundesgebiet, abzuwägen sind (vgl. EGMR ≪GK≫, Urteil vom 3. Oktober 2014 - Nr. 12738/10 - Rn. 106; BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 10. Mai 2008 - 2 BvR 588/08 - InfAuslR 2008, 347 ≪348≫, vom 5. Juni 2013 - 2 BvR 586/13 - NVwZ 2013, 1207 ≪1208≫ und vom 9. Dezember 2021 - 2 BvR 1333/21 - NVwZ 2022, 406 Rn. 45). Berühren aufenthaltsrechtliche Entscheidungen den Umgang mit einem Kind, ist im Rahmen der Abwägung maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Sind Minderjährige betroffen, sind im Rahmen des dann einschlägigen Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) das Alter der betroffenen Kinder, die Situation in ihrem Herkunftsland und die Abhängigkeit von ihren Eltern bei der Entscheidung in die Abwägung einzustellen. Auch aus einer Zusammenschau des Art. 3 KRK mit Art. 9 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 1 KRK folgt allerdings kein Anspruch auf einen voraussetzungslosen Kinder- oder Elternnachzug und auch das Kindeswohl hat keinen unbedingten Vorrang (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - 10 C 16.12 - NVwZ 2013, 1493 Rn. 24).
Rz. 16
Die in § 36a AufenthG vorgesehene Beschränkung des Familiennachzuges auf einen Ermessensanspruch im Rahmen einer Kontingentierung (§ 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG) genügt den dargestellten verfassungs-, konventions- und völkerrechtlichen Anforderungen. Den aufgeführten, in die Einzelfallbetrachtung einzustellenden familiären Belangen kann im Rahmen der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 22 Satz 1 AufenthG, der gemäß § 36a Abs. 1 Satz 4 AufenthG unberührt bleibt, ausreichend Rechnung getragen werden. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 22 Satz 1 AufenthG ist grundsätzlich auch in Fällen möglich, in denen die Voraussetzungen für einen Familiennachzug nicht vorliegen. Denn bei der Frage der Vereinbarkeit einschränkender Familiennachzugsregelungen mit Art. 6 GG ist zu berücksichtigen, inwieweit Härtefällen durch die Erteilung von humanitären Aufenthaltserlaubnissen gemäß § 22 Satz 1 AufenthG Rechnung getragen werden kann, insbesondere auch dann, wenn die besondere Härte durch Umstände in der Person des subsidiär Schutzberechtigten begründet wird. Damit lassen sich mit dem besonderen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK sowie Art. 7 und 24 GRC nicht zu vereinbarende Familientrennungen in besonderen Einzelfällen über die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus dringenden humanitären Gründen gemäß § 22 AufenthG vermeiden (BVerwG, Beschluss vom 4. Juli 2019 - 1 B 26.19 - Buchholz 402.242 § 36 AufenthG Nr. 6 Rn. 13 unter Hinweis u. a. auf BVerfG, Beschluss vom 20. März 2018 - 2 BvR 1266/17 - Asylmagazin 2018, 179 und BT-Drs. 19/2438 S. 22).
Rz. 17
Unionsrecht steht der Anwendung von § 36a AufenthG nicht entgegen. Die Richtlinie 2003/86/EG regelt den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten nicht. Sie findet nach ihrem Art. 3 Abs. 2 Buchst. c unter anderem dann keine Anwendung, wenn dem Zusammenführenden der Aufenthalt in einem Mitgliedstaat aufgrund subsidiärer Schutzformen gemäß internationalen Verpflichtungen genehmigt wurde. Dies erfasst auch Personen, denen der vom Unionsrecht vorgesehene subsidiäre Schutzstatus zukommt (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2018 - C-380/17 [ECLI:EU:C:2018:877] - Rn. 27 ff.).
Rz. 18
Art. 23 RL 2011/95/EU trifft ebenfalls keine Regelung des Familiennachzuges aus dem Ausland zu subsidiär Schutzberechtigten, die sich in Deutschland befinden. Der persönliche Anwendungsbereich der Vorschrift ist in diesen Fällen nicht eröffnet. Sie ist nur auf Familienangehörige anzuwenden, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat (Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU). Der Richtlinie 2011/95/EU lässt sich auch kein Gebot der Gleichbehandlung der Angehörigen von anerkannten Flüchtlingen einerseits und von subsidiär Schutzberechtigten andererseits im Hinblick auf den Nachzug aus dem Ausland entnehmen.
Rz. 19
c) Ein Anspruch der Kläger zu 3 bis 6 nach § 36a AufenthG besteht bereits deshalb nicht, weil die Vorschrift lediglich den Familiennachzug für Ehegatten oder minderjährige Kinder eines Ausländers, der im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG ist, oder für Eltern eines minderjährigen und im Besitz einer entsprechenden Aufenthaltserlaubnis befindlichen Ausländers, nicht aber für dessen Geschwister, eröffnet.
Rz. 20
3. Ohne Bundesrechtsverstoß hat das Verwaltungsgericht die Voraussetzungen für die Erteilung von Visa zum Familiennachzug an die Kläger nach § 36 Abs. 2 AufenthG verneint.
Rz. 21
Die danach erforderliche außergewöhnliche Härte liegt nicht vor. Der Nachzug nach § 36 Abs. 2 AufenthG ist auf seltene Ausnahmefälle beschränkt, in denen die Verweigerung des Aufenthaltsrechts und damit der Familieneinheit im Lichte des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 EMRK grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen widerspräche, also schlechthin unvertretbar wäre. Eine außergewöhnliche Härte in diesem Sinne setzt grundsätzlich voraus, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann. Ob dies der Fall ist, kann nur unter Berücksichtigung aller im Einzelfall relevanten, auf die Notwendigkeit der Herstellung oder Erhaltung der Familiengemeinschaft bezogenen konkreten Umstände beantwortet werden (BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 15.12 - BVerwGE 147, 278 Rn. 11 f.).
Rz. 22
Das Vorliegen der genannten Voraussetzungen hat das Verwaltungsgericht revisionsrechtlich fehlerfrei verneint. Hinsichtlich der Kläger zu 3 bis 6 hat das Verwaltungsgericht insbesondere zutreffend darauf abgestellt, dass sie gemeinsam mit ihren Eltern in der Türkei leben, dort regulär die Schule besuchen und auch ansonsten nicht vorgetragen wurde, dass sie dort kein eigenständiges Leben führen könnten, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe durch oder für ihren in Deutschland lebenden Bruder angewiesen wären.
Rz. 23
4. Die Kläger haben auch keinen Aufnahmeanspruch nach § 22 Satz 1 AufenthG.
Rz. 24
a) Gemäß dieser Norm soll nach der Intention des Gesetzgebers insbesondere aus dringenden humanitären Gründen über § 36a AufenthG hinaus im Einzelfall auch Angehörigen der Kernfamilie subsidiär Schutzberechtigter eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden können. Solche Gründe sind anzunehmen, wenn die Aufnahme des Familienangehörigen sich aufgrund des Gebots der Menschlichkeit aufdrängt und eine Situation vorliegt, die ein Eingreifen zwingend erforderlich macht. Dies gilt zum Beispiel beim Bestehen einer erheblichen und unausweichlichen Gefahr für Leib und Leben des Familienangehörigen im Ausland. Die dringenden humanitären Gründe im Sinne des § 22 AufenthG können sowohl beim bereits im Bundesgebiet befindlichen Schutzberechtigten als auch beim im Ausland befindlichen Familienangehörigen vorliegen (BT-Drs. 19/2438 S. 22).
Rz. 25
Dringende humanitäre Gründe im Sinne des § 22 Satz 1 Alt. 2 AufenthG liegen zum einen dann vor, wenn sich der Ausländer aufgrund besonderer Umstände in einer auf seine Person bezogenen Sondersituation befindet, sich diese Sondersituation deutlich von der Lage vergleichbarer Ausländer unterscheidet, der Ausländer spezifisch auf die Hilfe der Bundesrepublik Deutschland angewiesen ist oder eine besondere Beziehung des Ausländers zur Bundesrepublik Deutschland besteht und die Umstände so gestaltet sind, dass eine baldige Ausreise und Aufnahme unerlässlich sind. Sie sind aber zum anderen auch dann gegeben, wenn besondere Umstände des Einzelfalles eine Fortdauer der räumlichen Trennung der Angehörigen der Kernfamilie des subsidiär Schutzberechtigten mit Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG nicht länger vereinbar erscheinen lassen. Der Zeitpunkt, ab dem den Ehegatten und ihren minderjährigen ledigen Kindern eine weitere Trennung nicht länger zuzumuten ist, ist wiederum maßgeblich davon abhängig, ob diesen eine (Wieder-)Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat der Nachzugswilligen möglich und zumutbar ist. Die Schwelle, bei deren Erreichen die Versagung einer Familienzusammenführung im Bundesgebiet mit Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG schlechthin unvereinbar ist, aus humanitären Gründen mithin ein - vom Kontingent des § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG unabhängiger - Aufenthaltstitel nach § 22 Satz 1 AufenthG zu gewähren ist, liegt indes höher als jene, die durch Annahme eines Ausnahmefalles in den Fällen des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG den Zugang zu einer (kontingentgebundenen) Auswahlentscheidung (§ 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG) eröffnet (BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2020 - 1 C 30.19 - BVerwGE 171, 103 Rn. 49). Soweit die Berücksichtigung einer familiären Notsituation im Rahmen des § 22 Satz 1 AufenthG im Hinblick auf eine verfassungskonforme Anwendung von § 36a AufenthG geboten ist, erfordert dies keine von den genannten Maßstäben abweichende, insbesondere erweiternde Auslegung. Vielmehr können besondere, aus der Berücksichtigung des Kindeswohls und der familiären Situation im Einzelfall resultierende Umstände als dringende humanitäre Gründe für einen Familiennachzug berücksichtigt werden.
Rz. 26
b) Hiervon ausgehend hat das Verwaltungsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise das Vorliegen eines dringenden humanitären Grundes im Falle der Kläger verneint, weil eine von den Verhältnissen anderer syrischer Staatsangehöriger, deren Kinder und Geschwister das Herkunftsland verlassen haben, abweichende Notlage nicht ersichtlich sei.
Rz. 27
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Da sich die Beigeladene nicht mit einem Antrag am Kostenrisiko beteiligt hat, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt.
Fundstellen
Haufe-Index 15671150 |
InfAuslR 2023, 218 |
Asylmagazin 2023, 324 |
Asylmagazin 2023, 449 |
DVBl. 2023, 3 |