Entscheidungsstichwort (Thema)
Befugnis der Überwachungsbehörde zur Einsicht in Unterlagen über den Betäubungsmittelverkehr
Leitsatz (amtlich)
Die für die Überwachung des Betäubungsmittelverkehrs bei Ärzten zuständigen Behörden sind nach § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG nicht befugt, Einsicht in ärztliche Patientenakten zu nehmen. Patientenakten sind keine Unterlagen über den Betäubungsmittelverkehr im Sinne der Vorschrift.
Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Urteil vom 04.07.2019; Aktenzeichen 20 BV 18.68) |
VG München (Urteil vom 27.09.2017; Aktenzeichen M 18 K 16.5287) |
Tenor
Die Urteile des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 4. Juli 2019 und des Verwaltungsgerichts München vom 27. September 2017 werden geändert.
Der Bescheid der Beklagten vom 20. Oktober 2016 wird in den Ziffern I.2, II., soweit sie sich auf Ziffer I.2 bezieht, und IV., soweit der Gesamtbetrag über 102,19 € hinausgeht, aufgehoben.
Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Der Kläger und die Beklagte tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger ist Diplom-Psychologe und Arzt mit einer allgemeinmedizinischen Praxis in München. Er wendet sich gegen einen Bescheid der Beklagten, mit dem ihm aufgegeben wurde, für bestimmte Patienten und Zeiträume Betäubungsmittelrezepte und Patientenunterlagen vorzulegen.
Rz. 2
Im Rahmen einer routinemäßigen betäubungsmittelrechtlichen Kontrolle in einer Apotheke im August 2013 fiel der Beklagten eine vom Kläger ausgestellte Betäubungsmittel-Verschreibung für seinen Sohn (geb. 1986) über den Wirkstoff Methylphenidat auf. Sie teilte dem Kläger schriftlich mit, sie habe Anlass zur Überprüfung, ob die Verschreibung medizinisch begründet gewesen sei, und forderte ihn auf, die Begründetheit durch entsprechende Patientenunterlagen zu belegen. Das Gesundheitsamt der Beklagten kam nach Prüfung der vom Kläger übermittelten Unterlagen zu der Bewertung, dass die Begründetheit der Verschreibung nicht ausreichend nachvollziehbar sei, weil im Verschreibungszeitpunkt keine gesicherte fachärztliche Diagnose vorgelegen habe. Bei zwei weiteren routinemäßigen Kontrollen in Apotheken im November 2013 und August 2014 fielen der Beklagten Betäubungsmittelverschreibungen des Klägers für drei Patienten über die Wirkstoffe Methylphenidat bzw. Fentanyl auf. Der Aufforderung, die medizinische Begründetheit der Verschreibungen durch Vorlage von Patientenunterlagen nachzuweisen sowie alle seit Januar 2013 für diese Patienten ausgestellten Betäubungsmittelrezepte einzureichen, kam der Kläger unter Verweis auf seine ärztliche Schweigepflicht nicht nach. Im Oktober 2015 führte die Beklagte eine unangekündigte Kontrolle in seiner Arztpraxis durch. Bei Durchsicht der Betäubungsmittelrezeptdurchschläge der letzten drei Jahre stufte sie Verschreibungen für zwölf Patienten (insgesamt 54 Rezepte) als auffällig ein. Die ärztliche Begründetheit der Verschreibungen habe im Rahmen des Praxisbesuchs nicht geklärt werden können, da der Kläger die Herausgabe von Patientenunterlagen abgelehnt habe.
Rz. 3
Nach Anhörung des Klägers gab ihm die Beklagte durch Bescheid vom 20. Oktober 2016 auf, für vierzehn namentlich benannte Patienten und jeweils bestimmte Zeiträume alle von ihm ausgestellten Betäubungsmittel-Rezepte (Teil III) sowie alle fehlerhaft ausgestellten Betäubungsmittel-Rezepte (Teil I bis III) sortiert nach Ausstellungsdatum vorzulegen (Ziffer I.1). Des Weiteren verpflichtete sie den Kläger, die entsprechenden Unterlagen (z. B. Patientendokumentation, Arztbriefe, Befunde etc.) vorzulegen, die die Verschreibungen für die unter Ziffer I.1 genannten Patienten medizinisch begründen könnten (Ziffer I.2). Für den Fall der Zuwiderhandlung gegen die Anordnungen wurde jeweils ein Zwangsgeld in Höhe von 1 000 € pro Patient angedroht (Ziffer II.). Außerdem erhob die Beklagte Verwaltungskosten in Höhe von 202,19 € (Ziffer IV.). Zur Begründung führte sie aus: Gemäß § 22 Abs. 1 Nr. 1 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) sei sie befugt, Unterlagen über den Betäubungsmittelverkehr einzusehen, soweit sie für die Sicherheit und Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs von Bedeutung sein könnten. Gemäß § 22 Abs. 2 BtMG könne sie die Maßnahme auch schriftlich anordnen. Der Kläger sei nach § 24 Abs. 1 BtMG verpflichtet, Einsicht in die Unterlagen zu ermöglichen. Unterlagen im Sinne des § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG seien nicht nur die nach den betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften zu führenden Aufzeichnungen und aufzubewahrenden Belege, sondern Unterlagen jeglicher Art, die Auskunft über den Betäubungsmittelverkehr geben könnten. Gemäß § 13 Abs. 1 BtMG dürften Ärzte Betäubungsmittel nur verschreiben, wenn ihre Anwendung begründet sei. Ohne Einsicht in Patientenunterlagen könne sie nicht überprüfen, ob diese Vorgabe eingehalten sei. Die ärztliche Schweigepflicht werde durch § 22, § 24 BtMG eingeschränkt. Die Verpflichtung zur Vorlage der Betäubungsmittelrezepte ergebe sich aus § 8 Abs. 5 der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV).
Rz. 4
Das Verwaltungsgericht hat durch Urteil vom 27. September 2017 den Bescheid in den Ziffern I.2, II. und IV. aufgehoben und die Klage im Übrigen abgewiesen. Die Anordnung in Ziffer I.1 sei rechtmäßig. Die Betäubungsmittelrezepte seien Unterlagen über den Betäubungsmittelverkehr im Sinne von § 22 Abs. 1 Nr. 1, § 24 Abs. 1 BtMG. Die Anordnung in Ziffer I.2 des Bescheides sei rechtswidrig und verletze den Kläger in seinem Grundrecht auf freie Berufsausübung. Die Einsicht in die ärztlichen Patientendokumentationen sei zwar zur Kontrolle der medizinischen Begründetheit der Verschreibungen geeignet und erforderlich. Patientenakten enthielten aber sehr sensible persönliche Daten. Der Eingriff in die Privatsphäre der Patienten sei daher nur angemessen, wenn konkrete Tatsachen vorlägen, die auf einen Verstoß gegen die Verschreibungsanforderungen des § 13 Abs. 1 BtMG hinwiesen. Solche Tatsachen habe die Beklagte nicht dargelegt. Wegen der Rechtswidrigkeit der Grundanordnung sei auch die auf Ziffer I.2 bezogene Zwangsgeldandrohung rechtswidrig. Die auf die Anordnung in Ziffer I.1 bezogene Androhung sei aufgrund des überhöhten Zwangsgeldbetrages ebenfalls rechtswidrig. Die Kostenentscheidung sei vollständig aufzuheben, weil ein Großteil der Bescheidanordnung rechtswidrig sei.
Rz. 5
Auf die Berufungen des Klägers und der Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof durch Urteil vom 4. Juli 2019 die erstinstanzliche Entscheidung geändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt: Rechtsgrundlage der Ziffern I.1 und I.2 des angefochtenen Bescheides seien § 22 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 und § 24 Abs. 1 BtMG. Der Kläger verschreibe als Arzt Betäubungsmittel im Rahmen einer ärztlichen Behandlung. Damit nehme er am Betäubungsmittelverkehr teil. Sowohl die Betäubungsmittelrezepte als auch die Patientenakten bzw. -unterlagen seien Unterlagen im Sinne des § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG, da sie der Durchführung und Dokumentation der Behandlung im Sinne des § 13 Abs. 1 Satz 1 BtMG unmittelbar dienten. Darüber hinaus gehende Anforderungen stelle § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG nicht. Der Wortlaut, Sinn und Zweck sowie die Entstehungsgeschichte der Regelung sprächen gegen das Erfordernis einer konkreten Gefahr. Die Überwachungsbehörden seien auch zu anlasslosen Stichproben- und Routinekontrollen befugt. Gegen diese Auslegung bestünden keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Wegen der Gefahren des Betäubungsmittelverkehrs komme einer wirksamen behördlichen Überwachung eine besondere Bedeutung zu. Der Schutz des herausragend wichtigen Gemeinwohlbelangs der Gesundheit der Bevölkerung rechtfertige die - auch anlasslose - Überwachung. Die in § 13 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BtMG geregelte ärztliche Pflicht, Betäubungsmittel nur zu verschreiben, wenn ihre Anwendung medizinisch begründet sei, könne ohne Einsicht in die Patientenakte nicht überwacht werden. Der besonderen Schutzwürdigkeit des Arzt-Patienten-Verhältnisses sei im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung Rechnung zu tragen. Danach sei die Anordnung der Beklagten nicht zu beanstanden. Sie sei geeignet und erforderlich, um die medizinische Begründetheit der Verschreibungen kontrollieren zu können. Der Eingriff in das durch Art. 12 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Arzt-Patienten-Verhältnis sei auch angemessen. Es handele sich um eine anlassbezogene Kontrolle. Es gebe tatsächliche Anhaltspunkte, die auf einen möglichen Verstoß gegen § 13 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BtMG hindeuteten. Der Bescheid sei auch im Übrigen rechtmäßig. Die angedrohten Zwangsgelder bewegten sich im unteren Bereich des gesetzlich vorgegebenen Rahmens. Der Ansatz je Patient sei gerechtfertigt, weil es sich bei jeder Patientenakte um einen Streitgegenstand handele.
Rz. 6
Zur Begründung seiner Revision macht der Kläger geltend: § 22 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 24 Abs. 1 BtMG stellten keine Rechtsgrundlage für die Anordnung der Herausgabe von Patientenakten und die Verpflichtung des Arztes dar, seine ärztliche Schweigepflicht zu verletzen. Die Offenlegung der Krankengeschichte eines Patienten gegenüber der Beklagten greife in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Patienten ein. Auf der Grundlage von § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG sei der Eingriff nicht gerechtfertigt. Es liege ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Zitiergebot vor. Das Verschreiben von Betäubungsmitteln sei kein Betäubungsmittelverkehr, Patientenakten seien keine Unterlagen über den Betäubungsmittelverkehr. Selbst wenn die §§ 22, 24 BtMG den Überwachungsbehörden die Befugnis zur Einsicht in Patientenakten einräumten, könne eine solche Maßnahme nicht ohne konkreten Verdacht eines Verstoßes gegen § 13 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BtMG zulässig sein. Dürfte die Beklagte die Herausgabe von ärztlichen Patientenakten bereits verlangen, wenn Verschreibungen lediglich "aufgefallen" seien, würde das gesetzlich geschützte Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ausgehöhlt. Die vom Verwaltungsgerichtshof getroffenen tatsächlichen Feststellungen ließen nicht den Schluss zu, es lägen Anhaltspunkte vor, die auf einen Verstoß gegen § 13 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BtMG hindeuteten. Nach alledem verletze ihn die streitige Anordnung in seinem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG.
Rz. 7
Die Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil.
Rz. 8
Die Vertreterin des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht trägt in Übereinstimmung mit dem Bundesministerium für Gesundheit vor, die Überwachung nach § 19 und § 22 BtMG umfasse im Rahmen der Verhältnismäßigkeit auch die Prüfung der einer Betäubungsmittelverschreibung zugrundeliegenden Unterlagen. Dies könne die Einsicht in die Patientendokumentation, Arztbriefe und Befunde einschließen. Betäubungsmittelrezepte und die Unterlagen, die die Verschreibung des Betäubungsmittels begründen könnten, seien Unterlagen im Sinne des § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG. Ohne die Befugnis, auch Patientenunterlagen zu sichten, liefe die behördliche Kontrolle der Begründetheit der Verschreibung ins Leere.
Entscheidungsgründe
Rz. 9
Die zulässige Revision des Klägers ist zum Teil begründet. Das angegriffene Urteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), soweit der Verwaltungsgerichtshof angenommen hat, die von der Beklagten in Ziffer I.2 des angefochtenen Bescheides angeordnete Vorlage von Patientenunterlagen finde ihre Rechtsgrundlage in § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG. Aus der Vorschrift ergibt sich keine Befugnis der Beklagten zur Einsicht in ärztliche Patientenakten (1.). Im Einklang mit Bundesrecht hat der Verwaltungsgerichtshof entschieden, dass die in Ziffer I.1 des Bescheides getroffene Anordnung rechtmäßig ist. Die Beklagte ist gemäß § 22 Abs. 1 Nr. 1, § 24 Abs. 1 BtMG, § 8 Abs. 5 BtMVV befugt, vom Kläger die Vorlage der Betäubungsmittelrezeptdurchschläge (Teil III) und der fehlerhaft ausgefertigten Betäubungsmittelrezepte für die benannten Patienten und die bestimmten Zeiträume zu verlangen (2.). Die Zwangsgeldandrohung und die Verwaltungskostenentscheidung sind danach rechtswidrig, soweit sie sich auf Ziffer I.2 des Bescheides beziehen (3.). Das führt unter Änderung der vorinstanzlichen Urteile zur Bescheidaufhebung in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang und im Übrigen zur Zurückweisung der Revision (§ 144 Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Rz. 10
1. Ziffer I.2 des angefochtenen Bescheides der Beklagten ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seiner durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Freiheit der Berufsausübung. Die für die Überwachung des Betäubungsmittelverkehrs bei Ärzten zuständigen Behörden sind nach § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG nicht befugt, Einsicht in ärztliche Patientenakten zu nehmen.
Rz. 11
a) Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der auf § 22 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. Abs. 2 BtMG, § 8 Abs. 5 BtMVV gestützten Überwachungsmaßnahme ist die (Sach- und) Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung. Danach ist hier auf die Rechtslage im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 20. Oktober 2016 abzustellen. Zugrunde zu legen sind daher das Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz - BtMG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. März 1994 (BGBl. I S. 358) und die Verordnung über das Verschreiben, die Abgabe und den Nachweis des Verbleibs von Betäubungsmitteln (Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung - BtMVV) vom 20. Januar 1998 (BGBl. I S. 74, 80), beide in der Fassung der Verordnung vom 31. Mai 2016 (BGBl. I S. 1282).
Rz. 12
Gemäß § 19 Abs. 1 Satz 3 BtMG unterliegt der Betäubungsmittelverkehr (u. a.) bei Ärzten und in Apotheken der Überwachung durch die zuständigen Behörden der Länder. Dass die Beklagte nach Landesrecht die zuständige Überwachungsbehörde ist, ist unstreitig und für den Senat verbindlich von den Vorinstanzen zugrunde gelegt worden (§ 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 560 ZPO). Gemäß § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG sind die mit der Überwachung beauftragten Personen befugt, Unterlagen über den Betäubungsmittelverkehr einzusehen und hieraus Abschriften oder Ablichtungen anzufertigen, soweit sie für die Sicherheit oder Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs von Bedeutung sein können. Nach § 22 Abs. 2 BtMG kann die zuständige Behörde Maßnahmen gemäß Absatz 1 Nr. 1 auch auf schriftlichem Wege anordnen. Gemäß § 24 Abs. 1 BtMG ist jeder Teilnehmer am Betäubungsmittelverkehr verpflichtet, die Maßnahmen nach § 22 BtMG zu dulden und die mit der Überwachung beauftragten Personen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu unterstützen, insbesondere ihnen auf Verlangen Einsicht in Unterlagen zu ermöglichen.
Rz. 13
Daraus ergibt sich keine Befugnis der Beklagten, von dem Kläger die Vorlage der ärztlichen Patientenakten zu verlangen. Zwar hat der Verwaltungsgerichtshof zutreffend angenommen, dass der Kläger am Betäubungsmittelverkehr teilnimmt (b). Ärztliche Patientenakten sind aber keine Unterlagen über den Betäubungsmittelverkehr im Sinne von § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG (c).
Rz. 14
b) Das ärztliche Verschreiben von Betäubungsmitteln ist eine Teilnahme am Betäubungsmittelverkehr im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes und unterliegt der Überwachung nach § 19 Abs. 1 Satz 3 BtMG. Das ergeben Wortlaut und Systematik des Gesetzes und wird durch die Gesetzesmaterialien bestätigt.
Rz. 15
aa) Der Dritte Abschnitt des Gesetzes (§ 11 bis § 18 BtMG) trägt die Überschrift "Pflichten im Betäubungsmittelverkehr". § 13 BtMG regelt (u. a.) das ärztliche Verschreiben von Betäubungsmitteln. Nach dessen Absatz 1 dürfen die in Anlage III bezeichneten Betäubungsmittel (vgl. § 1 Abs. 1 BtMG) von Ärzten nur dann verschrieben werden, wenn ihre Anwendung am oder im menschlichen Körper begründet ist (Satz 1). Die Anwendung ist insbesondere dann nicht begründet, wenn der beabsichtigte Zweck auf andere Weise erreicht werden kann (Satz 2). Die in Anlagen I und II bezeichneten Betäubungsmittel dürfen nicht verschrieben werden (Satz 3). Weitere Pflichten ergeben sich aus der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung, die auf der Grundlage von § 13 Abs. 3 BtMG erlassen worden ist. Nach § 13 Abs. 3 Satz 1 BtMG wird die Bundesregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnung das Verschreiben von den in Anlage III bezeichneten Betäubungsmitteln zu regeln, soweit es zur Sicherheit oder Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs erforderlich ist. § 13 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 BtMG i. V. m. § 2 BtMVV legt für das Verschreiben durch den Arzt Beschränkungen hinsichtlich Zahl und Menge der Betäubungsmittel fest. § 13 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 BtMG i. V. m. § 8 und § 9 BtMVV bestimmt Form und Inhalt der Verschreibung. Betäubungsmittel für Patienten und den Praxisbedarf dürfen nur auf einem dreiteiligen amtlichen Formblatt (Betäubungsmittelrezept) verschrieben werden (§ 8 Abs. 1 Satz 1 BtMVV), auf dem die in § 9 Abs. 1 BtMVV bezeichneten Angaben zu vermerken sind. Daraus ist zu entnehmen, dass das ärztliche Verschreiben von Betäubungsmitteln von dem Begriff des Betäubungsmittelverkehrs (vgl. § 1 Abs. 2 BtMG) umfasst ist.
Rz. 16
bb) Diese Auslegung wird durch § 19 Abs. 1 Satz 3 BtMG bestätigt. Die Formulierung "Der Betäubungsmittelverkehr bei Ärzten, Zahnärzten und Tierärzten,..." bringt zum Ausdruck, dass Ärzte, die Betäubungsmittel verschreiben, am Betäubungsmittelverkehr teilnehmen. Dies lässt sich des Weiteren den in § 4 BtMG geregelten Ausnahmen von der Erlaubnispflicht nach § 3 BtMG entnehmen. Gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 BtMG bedarf einer Erlaubnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, wer Betäubungsmittel anbauen, herstellen, mit ihnen Handel treiben, sie, ohne mit ihnen Handel zu treiben, einführen, ausführen, abgeben, veräußern, sonst in den Verkehr bringen oder erwerben will. Nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c BtMG bedarf einer Erlaubnis nach § 3 BtMG nicht, wer im Rahmen des Betriebs einer öffentlichen Apotheke oder einer Krankenhausapotheke in Anlage III bezeichnete Betäubungsmittel auf Grund ärztlicher Verschreibung abgibt. Ebenfalls keiner Erlaubnis bedarf, wer in Anlage III bezeichnete Betäubungsmittel auf Grund ärztlicher Verschreibung erwirbt (§ 4 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a BtMG). Entsprechend sieht § 12 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a BtMG vor, dass die Anforderungen des § 12 Abs. 1 und 2 BtMG an Abgabe und Erwerb eines Betäubungsmittels nicht gelten bei Abgabe von in Anlage III bezeichneten Betäubungsmitteln auf Grund ärztlicher Verschreibung im Rahmen des Betriebs einer Apotheke. Diese Regelungen zeigen, dass die ärztliche Verschreibung die sonst für die Abgabe und den Erwerb von Betäubungsmitteln erforderliche Erlaubnis ersetzt (BVerwG, Urteil vom 2. März 2017 - 3 C 19.15 - BVerwGE 158, 142 Rn. 20) und den Verkehr des verschriebenen Betäubungsmittels ermöglicht.
Rz. 17
cc) Die Auslegung wird auch durch die Gesetzesmaterialien bestätigt. Danach ist unter dem Begriff "Sicherheit oder Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs" die Gesamtheit der Maßnahmen und Vorkehrungen zu verstehen, die der Sicherheit und Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs dienen. Damit sollte zum einen der Aspekt der Sicherung des legalen Betäubungsmittelverkehrs "von der Herstellung bzw. der Einfuhr über den Handel bis zur Abgabe an den Verbraucher" abgedeckt werden und zum anderen der Aspekt der Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs durch die Überwachungsbehörden (vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Betäubungsmittelrechts, BT-Drs. 8/3551 S. 26 f.). In der Begründung zum Zweiten Abschnitt des Gesetzes (§§ 3 ff. BtMG) heißt es, dass die Erlaubnis nach § 3 BtMG nur den Betäubungsmittelverkehr im engeren Sinn abdecken solle, das heißt die Handlungen, die erlaubnisfähig seien. Davon abzugrenzen sei der Betäubungsmittelverkehr im weiteren Sinn, der auch Tätigkeiten des Arztes wie Verschreiben, Verabreichen und Überlassen zum unmittelbaren Verbrauch umfasse. Diese Handlungen seien nicht erlaubnisfähig und die sie betreffenden Regelungen würden deshalb aus gesetzessystematischen Gründen nicht im Zweiten Abschnitt getroffen, sondern im § 13 (vgl. BT-Drs. 8/3551 S. 27; Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drs. 8/3551, Anlage 3, S. 50). Daraus ergibt sich das klare Regelungsziel des Gesetzgebers, das ärztliche Verschreiben von Betäubungsmitteln in den Begriff des Betäubungsmittelverkehrs einzubeziehen.
Rz. 18
dd) Danach umfasst die Überwachung nach § 19 Abs. 1 Satz 3 BtMG das ärztliche Verschreiben von Betäubungsmitteln. Der Einwand des Klägers, das Verschreiben sei kein Betäubungsmittelverkehr, weil es in § 3 Abs. 1 Nr. 1 BtMG nicht genannt werde, greift nicht durch. Die Vorschrift bezeichnet allein die erlaubnisfähigen Arten des Betäubungsmittelverkehrs. Dazu zählen die in § 13 BtMG geregelten ärztlichen Tätigkeiten nicht, die der Normgeber - wie gezeigt - als nicht erlaubnisfähige Handlungen klassifiziert hat.
Rz. 19
c) Die Auslegung von § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG ergibt, dass die Vorschrift auf ärztliche Patientenakten (aa) keine Anwendung findet. Weder ihr Wortlaut (bb) und ihre Entstehungsgeschichte (cc) noch die gesetzliche Systematik (dd) bieten Anknüpfungspunkte dafür, dass Patientenakten nach dem Willen des Gesetzgebers von dem Begriff "Unterlagen über den Betäubungsmittelverkehr" umfasst sein sollen. Die teleologische Betrachtung führt zu keinem anderen Auslegungsergebnis (ee). Für das Ergebnis sprechen zudem verfassungsrechtliche Gründe (ff).
Rz. 20
aa) Der Begriff der Patientenakte meint die ärztlichen Aufzeichnungen über die Behandlung des Patienten, also insbesondere die Anamnese, Diagnosen, Untersuchungen, Untersuchungsergebnisse, Befunde, Therapien sowie Arztbriefe (vgl. § 630f BGB; § 10 Abs. 1 der Musterberufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte ≪MBO-Ä 1997≫ i. d. F. vom 14. Mai 2015, DÄ 2015, A 1348).
Rz. 21
bb) § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG enthält den Begriff der Patientenakte oder Ähnliches nicht. Nach dem Wortlaut bezieht sich die Befugnis zur Einsicht auf "Unterlagen über den Betäubungsmittelverkehr". Der Verkehr mit Betäubungsmitteln umfasst - wie ausgeführt - neben den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 BtMG bezeichneten erlaubnisfähigen Tätigkeiten auch den nicht erlaubnisfähigen ärztlichen Umgang mit Betäubungsmitteln nach § 13 BtMG wie Verschreiben, Verabreichen und Überlassen zum unmittelbaren Verbrauch. "Unterlagen über den Betäubungsmittelverkehr" sind demgemäß Unterlagen über diese Tätigkeiten.
Rz. 22
(1) Es ist nicht zweifelhaft, dass Betäubungsmittelrezepte zu diesen Unterlagen zählen. Das ausgefertigte Betäubungsmittelrezept erlaubt dem Apotheker, das vom Arzt verschriebene Betäubungsmittel an den Patienten abzugeben, und dem Patienten, es zu erwerben (vgl. § 4 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c, Nr. 3 Buchst. a, § 13 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1, Satz 2 Nr. 4 BtMG, § 1 Abs. 2 BtMVV). Verschreiben, Abgabe und Erwerb von Betäubungsmitteln sind der Betäubungsmittelverkehr, das Rezept ist eine Unterlage über diesen Verkehr. Das Gleiche gilt für Verschreibungen für den Praxisbedarf eines Arztes (vgl. § 1 Abs. 2, § 2 Abs. 3, § 8 Abs. 1 Satz 1 BtMVV).
Rz. 23
Entsprechend sind die ärztlichen Aufzeichnungen zum Nachweis von Verbleib und Bestand der Betäubungsmittel für den Praxisbedarf Unterlagen über den Betäubungsmittelverkehr. Aus dem Praxisbedarf dürfen Ärzte Betäubungsmittel verabreichen oder zum unmittelbaren Verbrauch überlassen. Gemäß § 13 Abs. 3 Satz 1, Satz 2 Nr. 4 BtMG i. V. m. § 1 Abs. 3 Nr. 2 BtMVV sind der Verbleib und der Bestand der Betäubungsmittel lückenlos nachzuweisen. Der Nachweis ist nach amtlichem Formblatt zu führen. Dazu können Karteikarten, Betäubungsmittelbücher oder EDV-Ausdrucke verwendet werden (vgl. § 13 BtMVV). Verabreichen und Überlassen zum unmittelbaren Verbrauch sind in diesem Zusammenhang der Betäubungsmittelverkehr; die Karteikarten, Betäubungsmittelbücher oder EDV-Ausdrucke sind Unterlagen über diesen Verkehr.
Rz. 24
Das Herstellen und das Inverkehrbringen von Betäubungsmitteln gehören zu den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 BtMG bezeichneten Tätigkeiten. Die betrieblichen und geschäftlichen Aufzeichnungen über diesen Betäubungsmittelverkehr sind daher ebenfalls Unterlagen im Sinne von § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG. Das Gleiche gilt für Betriebs- und Geschäftsunterlagen über andere in § 3 Abs. 1 Nr. 1 BtMG benannte Betäubungsmittelverkehre (vgl. Cremer-Schaeffer, in: Hügel/Junge/Lander/Winkler, Deutsches Betäubungsmittelrecht - Kommentar, 8. Aufl., 19. Akt.-Lief., § 22 BtMG Rn. 2; Hochstein, in: Bohnen/Schmidt, BtMG, 2020, § 22 Rn. 4; Weber, in: Weber/Kornprobst/Maier, BtMG, 6. Aufl. 2021, § 22 Rn. 8).
Rz. 25
(2) Danach spricht der Begriff "Unterlagen über den Betäubungsmittelverkehr" nicht für eine Einbeziehung ärztlicher Patientenakten. Die Patientenakte dient der Dokumentation der ärztlichen Behandlung des Patienten. Sie soll sämtliche aus fachlicher Sicht für die derzeitige und künftige Behandlung wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse aufzeichnen (vgl. § 630f Abs. 2 BGB). Da dazu insbesondere Diagnosen und therapeutische Maßnahmen zählen, ist in der Patientenakte die Indikation für das Verschreiben eines der in Anlage III bezeichneten Betäubungsmittel zu dokumentieren. Die Indikationsstellung ist eine ärztliche Aussage über den Patienten, die der Verschreibung vorausgeht. Aus diesem Zusammenhang zu folgern, dass nicht nur das Betäubungsmittelrezept, sondern auch die Patientenakte eine "Unterlage über den Betäubungsmittelverkehr" darstellt, überschreitet zwar nicht die Wortlautgrenze. Der Wortlaut legt diese Auslegung aber nicht nahe. Sie setzt voraus, dass bereits die Indikationsstellung als Betäubungsmittelverkehr einzustufen wäre. Dafür bietet der Begriff "Verkehr mit Betäubungsmitteln" allerdings keine Stütze. Aus dem zweiten Halbsatz des § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG ergibt sich nichts Abweichendes. Überwachungspersonen sind hiernach nicht befugt, Unterlagen einzusehen, die für die Sicherheit oder Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs von Bedeutung sein können, sondern "befugt, Unterlagen über den Betäubungsmittelverkehr einzusehen, soweit sie für die Sicherheit oder Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs von Bedeutung sein können". Danach ist der zweite Halbsatz keine inhaltliche Bestimmung des Begriffs "Unterlagen über den Betäubungsmittelverkehr". Er beschränkt die Befugnis zur Einsicht auf solche Unterlagen über den Betäubungsmittelverkehr, die für die Sicherheit oder Kontrolle des Verkehrs von Bedeutung sein können (vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Betäubungsmittelrechts, BT-Drs. 8/3551, Anlage 2 ≪Stellungnahme des Bundesrates≫, S. 42 f. ≪zu Nr. 31≫ und Anlage 3 ≪Gegenäußerung der Bundesregierung≫, S. 51 ≪zu Nr. 31≫).
Rz. 26
cc) Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift spricht gegen die Einbeziehung von ärztlichen Patientenakten.
Rz. 27
(1) Auf der Grundlage des Opiumgesetzes vom 10. Dezember 1929 (RGBl. I S. 215), das zuletzt durch Gesetz vom 22. Dezember 1971 geändert worden war (BGBl. I S. 2092), sowie der Verordnung über das Verschreiben Betäubungsmittel enthaltender Arzneien und ihre Abgabe in den Apotheken i. d. F. der Bekanntmachung vom 24. April 1963 (BGBl. I S. 216), zuletzt geändert durch Gesetz vom 6. April 1971 (BGBl. I S. 317), mussten Ärzte, wenn sie an einem Tag für einen Kranken mehr als 2 g Opium oder mehr als o,2 g Morphin verschrieben, hierüber Aufzeichnungen in einem besonderen Buch (Morphinbuch) machen. Aus den Aufzeichnungen über den Krankheitsfall musste auch die vom Arzt festgestellte Erkrankung zu ersehen sein, die das Überschreiten der Menge von 2 g Opium bzw. 0,2 g Morphin notwendig machte. War die Arznei für einen Betäubungsmittelsüchtigen bestimmt, hatte der Arzt in dem Morphinbuch zusätzliche Angaben zu vermerken. Auf Verlangen hatte der Arzt das Buch dem zuständigen beamteten Arzt vorzulegen (vgl. § 9 Abs. 2, § 11 der Verordnung). Über jede Verschreibung einer Kokain enthaltenden Arznei hatten Ärzte ein Kokainbuch zu führen. Bei Verschreibungen für einen Kranken zu dessen eigenem Gebrauch mussten die Aufzeichnungen die vom Arzt festgestellte Erkrankung, die das Verschreiben der Arznei notwendig machte, enthalten. Das Kokainbuch war ebenfalls auf Verlangen vorzulegen (§ 15, § 18 der Verordnung). Über die Verschreibung von Arzneien, die andere Betäubungsmittel enthalten, mussten die Ärzte nicht Buch führen.
Rz. 28
Die Verordnung über das Verschreiben Betäubungsmittel enthaltender Arzneien und ihre Abgabe in den Apotheken wurde durch die Verordnung über das Verschreiben, die Abgabe und den Nachweis des Verbleibs von Betäubungsmitteln (Betäubungsmittel-Verschreibungs-Verordnung - BtMVV) vom 24. Januar 1974 (BGBl. I S. 110) ersetzt (vgl. § 20 BtMVV 1974), die auf der Grundlage des Gesetzes über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz) i. d. F. der Bekanntmachung vom 10. Januar 1972 (BGBl. I S. 1) erlassen wurde. Die ärztlichen Dokumentationspflichten beschränkten sich auf die in die Verschreibung aufzunehmenden Angaben (§ 6 Abs. 2 Satz 2, § 10 Abs. 1 BtMVV 1974). Die Morphin- und Kokainbücher wurden abgeschafft.
Rz. 29
(2) Aufzeichnungs- und Vorlagepflichten wie bei den Morphin- und Kokainbüchern ergaben sich auch nicht aus den Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes in der Neufassung vom 10. Januar 1972, die das Opiumgesetz ersetzte (vgl. Art. 3 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Verkehr mit Betäubungsmitteln ≪Opiumgesetz≫ vom 22. Dezember 1971 ≪BGBl. I S. 2092≫). Gemäß § 2 Abs. 2 BtMG 1972 waren das Bundesgesundheitsamt oder die sonst zuständige Stelle berechtigt, die Örtlichkeiten, in denen die Betäubungsmittel gewonnen, hergestellt, verarbeitet, aufbewahrt, feilgehalten oder abgegeben wurden, sowie Beförderungsmittel zu besichtigen (Satz 1). Auf Verlangen war über Ort, Zeit und Menge der Ein- und Ausfuhr, über Lieferer und Empfänger sowie über alle die Gewinnung, die Herstellung, die Verarbeitung der Betäubungsmittel, den Verkehr mit ihnen und den Bestand betreffenden Fragen Auskunft zu erteilen (Satz 3) und Einsicht in die geschäftlichen Aufzeichnungen und Bücher zu gewähren (Satz 4). Danach sah das Betäubungsmittelgesetz von 1972 keine Befugnis der Überwachungsbehörden zur Einsicht in ärztliche Patientenakten oder -unterlagen vor. Dass sie von dem Begriff der geschäftlichen Aufzeichnung und Bücher erfasst sein sollten, liegt fern. Geregelt war allerdings, dass bestraft wird, wer als Arzt ein Betäubungsmittel verschreibt oder abgibt, wenn die Anwendung nicht ärztlich begründet ist (§ 11 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a BtMG 1972). § 4 BtMVV 1974 bestimmte, dass Ärzte Betäubungsmittel nur verschreiben durften, wenn ihre Anwendung am oder im menschlichen Körper begründet war (ebenso die Vorgängerregelung des § 6 der Verordnung von 1963).
Rz. 30
(3) Durch das Gesetz zur Neuordnung des Betäubungsmittelrechts vom 28. Juli 1981 (BGBl. I S. 681) erhielt § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG seine bis heute unveränderte Fassung. In den Gesetzesmaterialien (Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Betäubungsmittelrechts, BT-Drs. 8/3551, Begründung, S. 34 ≪zu §§ 21 bis 23≫) wird darauf verwiesen, da Betäubungsmittel zum großen Teil auch Arzneimittel seien, liege es nahe, die Überwachungsvorschriften an die Vorschriften im elften Abschnitt des Arzneimittelgesetzes von 1976 - insbesondere § 64 Abs. 4 und 5, § 65, § 66 und § 68 - anzulehnen. Weiter heißt es, dass damit zugleich der sachliche Inhalt der Regelungen in § 2 Abs. 2 und 3 BtMG 1972 ersetzt werde. Die Begründung befasst sich außerdem mit dem Wohnungsbegriff in Art. 13 GG, bei dem nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zwischen Wohnzwecken dienenden Räumlichkeiten und Wohnräumen im weiteren Sinne sowie zwischen Geschäfts- und Nichtgeschäftszeiten unterschieden werden müsse. Schließlich wird angemerkt, dass eine regelmäßige Überwachung des Betäubungsmittelverkehrs mit vertretbarem Aufwand nur bei Herstellern und Großhändlern erfolgen könne. Auf ärztliche Patientenakten oder -unterlagen geht die Begründung nicht ein.
Rz. 31
Danach ergeben sich keine Anhaltspunkte, dass der Gesetzgeber den Überwachungsbehörden mit der in § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG getroffenen Regelung auch die Einsicht in ärztliche Patientenakten ermöglichen wollte. Die Begründung befasst sich aus Anlass der in § 22 Abs. 1 Nr. 3 BtMG geregelten Befugnis, Räumlichkeiten zu betreten und zu besichtigen, mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Wohnungsbegriff in Art. 13 GG. Es hätte nahegelegen, dass die Begründung bei einer Einbeziehung von Patientenakten in die Regelung des § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum verfassungsrechtlichen Schutz von ärztlichen Patientenunterlagen eingeht (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 8. März 1972 - 2 BvR 28/71 - BVerfGE 32, 373 ≪Beschlagnahme der ärztlichen Patientenkarteikarte beim Praxisnachfolger≫ und vom 24. Mai 1977 - 2 BvR 988/75 - BVerfGE 44, 353 ≪Beschlagnahme von Klientenakten einer Suchtberatungsstelle≫). Jedenfalls wäre ein Hinweis in den Gesetzesmaterialien zu erwarten gewesen, dass die Einsichtsbefugnis sich auch auf ärztliche Patientenunterlagen erstrecken soll. Denn damit wäre die Neuregelung über die Befugnis des § 2 Abs. 2 Satz 4 BtMG 1972 ("Einsicht in die geschäftlichen Aufzeichnungen und Bücher") erheblich hinausgegangen. Tatsächlich beschränkt sich die Begründung - wie gezeigt - auf den bloßen Hinweis, dass mit der neuen Bestimmung der sachliche Inhalt von § 2 Abs. 2 BtMG 1972 ersetzt wird. Das weist auf eine vom Normgeber bezweckte Fortführung des bisherigen Regelungskonzepts hin.
Rz. 32
Aus der Anlehnung an die Überwachungsvorschriften im Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz - AMG) vom 24. August 1976 (BGBl. I S. 2445, 2448) ergibt sich nichts Abweichendes. Gemäß § 64 Abs. 4 Nr. 2 AMG 1976 waren die mit der Überwachung beauftragten Personen befugt, Unterlagen über Herstellung, Prüfung, Erwerb, Lagerung, Verpackung, Inverkehrbringen und sonstigen Verbleib der Arzneimittel sowie über das im Verkehr befindliche Werbematerial und über die nach § 94 erforderliche Deckungsvorsorge einzusehen und hieraus Abschriften oder Ablichtungen anzufertigen. Patientenakten oder -unterlagen waren in § 64 Abs. 4 Nr. 2 AMG 1976 nicht benannt.
Rz. 33
Auch sonst ergeben sich aus den Gesetzesmaterialien keine Anhaltspunkte, dass von der Einsichtsbefugnis nach § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG ärztliche Patientenakten umfasst sein sollen. Im allgemeinen Teil der Begründung wird dargelegt, Zweck des Gesetzes sei, den Verkehr mit Betäubungsmitteln so zu regeln, dass dessen Sicherheit und Kontrolle gewährleistet seien (BT-Drs. 8/3551 S. 23). Dass den Überwachungsbehörden zu diesem Zweck die Befugnis zur Einsicht in ärztliche Patientenunterlagen eingeräumt werden soll, lässt sich der Begründung nicht entnehmen (vgl. BT-Drs. 8/3551 S. 23 f., S. 26 f. ≪zu § 1 Absätze 2 und 3≫, S. 31 f. ≪zu § 13≫ und S. 33 ≪zu § 19≫).
Rz. 34
dd) Die gesetzliche Systematik legt gleichfalls nahe, dass ärztliche Patientenakten nicht in den Unterlagenbegriff des § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG einbezogen sind.
Rz. 35
(1) Nach § 13 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BtMG können in der Rechtsverordnung nach Satz 1 insbesondere Meldungen der verschreibenden Ärzte an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte über das Verschreiben eines Substitutionsmittels für einen Patienten in anonymisierter Form (Buchst. a) und Mitteilungen des Bundesinstituts an die zuständigen Überwachungsbehörden und an die verschreibenden Ärzte über die Patienten, denen bereits ein anderer Arzt ein Substitutionsmittel verschrieben hat, in anonymisierter Form (Buchst. c) sowie Art der Anonymisierung, Form und Inhalt der Meldungen und Mitteilungen vorgeschrieben werden. Gemäß § 13 Abs. 3 Satz 5 BtMG dürfen die Empfänger nach Satz 2 Nr. 3 die übermittelten Daten nicht für einen anderen als den in Satz 1 genannten Zweck verwenden. In Bezug auf Daten von Patienten, denen Betäubungsmittel verschrieben wurden, enthält das Betäubungsmittelgesetz keine Regelungen zum Datenschutz. Auch § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG sieht solche Schutzbestimmungen nicht vor. Dass die Vorschrift die Befugnis zur Einsicht in ärztliche Patientenakten mit ihren sehr sensiblen persönlichen Daten umfassen soll, liegt deshalb nicht nahe.
Rz. 36
(2) Gemäß § 5 Abs. 10 BtMVV hat der Arzt, der Substitutionsmittel verschreibt, die Erfüllung seiner Verpflichtungen nach den vorstehenden Absätzen sowie nach § 5a Abs. 2 und 4 BtMVV im erforderlichen Umfang und nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft zu dokumentieren (Satz 1). Die Dokumentation ist auf Verlangen der zuständigen Landesbehörde zur Einsicht und Auswertung vorzulegen oder einzusenden (Satz 2). Eine im Wesentlichen gleichlautende Regelung trifft § 5 Abs. 11 BtMVV i. d. F. vom 18. Mai 2021 (BGBl. I S. 1096).
Rz. 37
Für Ärzte, die Betäubungsmittel verschreiben, besteht eine solche Regelung nicht. Bei ihnen beschränken sich die Dokumentationspflichten darauf, Abweichungen von den Vorschriften zur Zahl der verschriebenen Betäubungsmittel und zu den festgesetzten Höchstmengen auf der Verschreibung durch Angabe des Buchstaben "A" zu kennzeichnen (§ 2 Abs. 2 BtMVV) sowie in das Betäubungsmittelrezept die in § 9 Abs. 1 BtMVV bezeichneten Angaben aufzunehmen. Des Weiteren hat der Arzt gemäß § 8 Abs. 5 BtMVV Teil III der Verschreibung und die Teile I bis III der fehlerhaft ausgefertigten Betäubungsmittelrezepte drei Jahre aufzubewahren und auf Verlangen der nach § 19 Abs. 1 Satz 3 BtMG zuständigen Landesbehörde einzusenden oder Beauftragten dieser Behörde vorzulegen. Eine Verpflichtung des verschreibenden Arztes, der zuständigen Landesbehörde Patientenakten oder -unterlagen zur Einsicht vorzulegen oder einzusenden, regelt die Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung nicht.
Rz. 38
(3) Gemäß § 64 Abs. 4 AMG sind die mit der Überwachung beauftragten Personen befugt, Unterlagen u. a. über Inverkehrbringen und sonstigen Verbleib der Arzneimittel einzusehen (Nr. 2) und Abschriften oder Ablichtungen von Unterlagen nach Nummer 2 anzufertigen oder zu verlangen, soweit es sich nicht um personenbezogene Daten von Patienten handelt (Nr. 2a). Der Zusatz "soweit es sich nicht um personenbezogene Daten von Patienten handelt" ist durch Gesetz vom 7. September 1998 (BGBl. I S. 2649) eingefügt worden. Damit sollte Erfordernissen des Datenschutzes Rechnung getragen werden (Entwurf eines Achten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes, BT-Drs. 13/9996 S. 16). Für im Rahmen einer klinischen Prüfung erhobene personenbezogene Patientendaten gilt zudem, dass die betroffene Person über Zweck und Umfang der Erhebung und Verwendung personenbezogener Daten, insbesondere von Gesundheitsdaten zu informieren ist. Sie ist insbesondere darüber zu informieren, dass die erhobenen Daten soweit erforderlich zur Einsichtnahme durch die Überwachungsbehörde zur Überprüfung der ordnungsgemäßen Durchführung der klinischen Prüfung bereitgehalten werden (§ 40 Abs. 2a Satz 1, Satz 2 Nr. 1 Buchst. a AMG i. d. F. des Gesetzes vom 30. Juli 2004 ≪BGBl. I S. 2031≫; mit Wirkung vom 27. Januar 2022: § 40b Abs. 6 Satz 2, Satz 3 Nr. 1 Buchst. a AMG i. d. F. des Gesetzes vom 20. Dezember 2016 ≪BGBl. I S. 3048≫ und des Gesetzes vom 27. September 2021 ≪BGBl. I S. 4530≫). Mit der Einfügung von § 40 Abs. 2a AMG sollte ebenfalls datenschutzrechtlichen Anforderungen Rechnung getragen werden (Entwurf eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes, Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung, BT-Drs. 15/2849 S. 60).
Rz. 39
Demgegenüber ist die Vorschrift des § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG, die - wie gezeigt - an § 64 Abs. 4 AMG angelehnt ist, seit ihrem Inkrafttreten (1. Januar 1982) unverändert geblieben. Anpassungen im Hinblick auf Erfordernisse des Datenschutzes hat der Gesetzgeber nicht vorgenommen. Das spricht gegen die Auslegung, § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG räume den Überwachungsbehörden die Befugnis zur Einsicht in ärztliche Patientenakten ein. Dass der Gesetzgeber die mit einer solchen Einsichtsbefugnis verbundenen datenschutzrechtlichen Anforderungen übersehen haben könnte, liegt nicht nahe.
Rz. 40
ee) Die teleologische Betrachtung führt zu keinem anderen Auslegungsergebnis.
Rz. 41
(1) Die Ziele des Betäubungsmittelgesetzes, den Verkehr mit Betäubungsmitteln so zu regeln, dass dessen Sicherheit und Kontrolle gewährleistet sind, und dem Schutz der menschlichen Gesundheit zu dienen (BT-Drs. 8/3551 S. 23), können zwar dafürsprechen, den Überwachungsbehörden die Befugnis einzuräumen, Einsicht in Patientenakten zu nehmen, soweit sie für die Sicherheit oder Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs von Bedeutung sind. Die Sicherheit des Betäubungsmittelverkehrs ist gefährdet, wenn Ärzte Betäubungsmittel verschreiben, ohne dass ihre Anwendung gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 und 2 BtMG begründet ist. Durch Einsicht in Betäubungsmittelrezepte kann die zuständige Überwachungsbehörde überprüfen, ob bei den Verschreibungen die Vorschriften über Zahl und Mengen der Betäubungsmittel (§ 2 BtMVV) sowie über Form und Inhalt (§ 8 und § 9 BtMVV) eingehalten sind und ob die Rezepte ordnungsgemäß aufbewahrt werden (§ 8 Abs. 4 und 5 BtMVV). Ob die Verschreibung im Sinne von § 13 Abs. 1 BtMG begründet ist, lässt sich anhand des Betäubungsmittelrezepts nicht klären. Die Anwendung eines Betäubungsmittels am oder im menschlichen Körper ist begründet, wenn nach anerkannten Regeln der ärztlichen Wissenschaft eine Indikation für die Anwendung besteht, also das verschriebene Betäubungsmittel im Rahmen einer medizinischen Behandlung zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werden soll (BVerwG, Urteil vom 2. März 2017 - 3 C 19.15 - BVerwGE 158, 142 Rn. 16 m. w. N.). Auf dem Betäubungsmittelrezept sind gemäß § 9 Abs. 1 BtMVV Name, Vorname und Anschrift des Patienten anzugeben, für den das Betäubungsmittel bestimmt ist (Nr. 1), das Ausstellungsdatum (Nr. 2), Bezeichnung (Nr. 3) und Menge des verschriebenen Mittels (Nr. 4), eine Gebrauchsanweisung mit Einzel- und Tagesangabe (Nr. 5), Name, Berufsbezeichnung und Anschrift einschließlich Telefonnummer des verschreibenden Arztes (Nr. 7) sowie dessen Unterschrift, im Vertretungsfall darüber hinaus der Vermerk "i.V." (Nr. 9). Im Fall des § 2 Abs. 2 Satz 2 BtMVV ist der Buchstabe "A" anzugeben (§ 9 Abs. 1 Nr. 6 BtMVV), im Fall des § 2 Abs. 3 BtMVV der Vermerk "Praxisbedarf" anstelle der Angaben in den Nummern 1 und 5 (§ 9 Abs. 1 Nr. 8 BtMVV). Danach ergeben sich aus dem Rezept nicht die Gründe für die Verschreibung. Dass die Anwendung des verschriebenen Betäubungsmittels begründet ist, wird sich daher ohne Einsicht in die entsprechenden Unterlagen aus der Patientenakte nicht feststellen lassen.
Rz. 42
(2) Das rechtfertigt jedoch kein anderes Auslegungsergebnis.
Rz. 43
Auch ohne Befugnis der Überwachungsbehörden zur Einsicht in Patientenakten bleibt das Verbot, Betäubungsmittel ohne medizinische Begründung zu verschreiben, nicht ohne Kontrolle. Das Verschreiben von Betäubungsmitteln entgegen § 13 Abs. 1 BtMG ist gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 6 Buchst. a BtMG strafbewehrt. Bei hinreichendem Tatverdacht gegen den Arzt kann die Staatsanwaltschaft auf richterliche Anordnung die Arztpraxis durchsuchen (§§ 102, 105 Abs. 1 StPO) und nach Maßgabe von §§ 94 ff. StPO unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgebots Patientenakten beschlagnahmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. April 2005 - 2 BvR 1027/02 - BVerfGE 113, 29; Kammerbeschluss vom 29. Juli 2002 - 2 BvR 708/02 - juris). Ob jenseits der Kontrolle durch die Strafverfolgungsbehörden auch die Überwachungsbehörden nach § 19 Abs. 1 Satz 3 BtMG befugt sein sollen, ärztliche Patientenunterlagen einzusehen, ist eine vom Gesetzgeber zu entscheidende Frage. Wie gezeigt, ergeben die drei übrigen Auslegungsmethoden keine Anhaltspunkte, dass Patientenakten nach dem Willen des Gesetzgebers von dem Unterlagenbegriff des § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG umfasst sein sollen. Dieser Befund kann durch die teleologische Betrachtung nicht überwunden werden.
Rz. 44
ff) Das Auslegungsergebnis wird darüber hinaus durch eine verfassungsrechtliche Betrachtung gestützt. Eingriffe in das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Grundrechtsbeschränkung klar und für die Grundrechtsträger erkennbar ergeben. § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG würde diese Anforderungen in Bezug auf eine Befugnis zur Einsicht in Patientenakten nicht erfüllen.
Rz. 45
(1) Ärztliche Patientenakten betreffen mit ihren Angaben über Anamnese, Untersuchungsergebnisse, Diagnose und therapeutischen Maßnahmen sensible Daten aus dem privaten Bereich des Patienten. Damit nehmen sie teil an dem Schutz, den das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG dem Einzelnen vor dem Zugriff der öffentlichen Gewalt gewährt (BVerfG, Beschlüsse vom 8. März 1972 - 2 BvR 28/71 - BVerfGE 32, 373 ≪379≫ und vom 24. Mai 1977 - 2 BvR 988/75 - BVerfGE 44, 353 ≪372 f.≫). Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatsphäre des Einzelnen umfasst auch die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden. Insoweit gewährleistet das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung von persönlichen Gesundheitsdaten zu bestimmen (BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1983 - 1 BvR 209/83 u. a. - BVerfGE 65, 1 ≪43≫; Beschluss vom 24. Juni 1993 - 1 BvR 689/92 - BVerfGE 89, 69 ≪82 f.≫; Kammerbeschluss vom 6. Juni 2006 - 2 BvR 1349/05 - GesR 2007, 41 ≪42≫). Wer sich in ärztliche Behandlung begibt, muss und darf erwarten, dass alles, was der Arzt im Rahmen seiner Berufsausübung über seine gesundheitliche Verfassung erfährt, geheim bleibt und nicht zur Kenntnis Unberufener gelangt. Nur so kann zwischen Patient und Arzt jenes Vertrauen entstehen, das zu den Grundvoraussetzungen ärztlichen Wirkens zählt, weil es die Chancen der Heilung vergrößert und damit - im Ganzen gesehen - der Aufrechterhaltung einer leistungsfähigen Gesundheitsversorgung dient (BVerfG, Beschluss vom 8. März 1972 - 2 BvR 28/71 - BVerfGE 32, 373 ≪379 f.≫; Kammerbeschlüsse vom 6. Juni 2006 - 2 BvR 1349/05 - GesR 2007, 41 ≪42≫, vom 22. Januar 2015 - 2 BvR 2049/13 u. a. - juris Rn. 40 und vom 8. September 2017 - 1 BvR 1657/17 - GesR 2017, 739 ≪740≫).
Rz. 46
Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient nimmt zudem an dem Schutz teil, den das Grundrecht auf freie Berufsausübung dem Arzt vor Eingriffen in seine berufliche Tätigkeit gewährt. Aus Art. 12 Abs. 1 GG ergibt sich das Recht des Arztes, grundsätzlich nicht an der Erfüllung seiner ärztlichen Schweigepflicht gehindert zu werden (BVerwG, Urteil vom 11. Mai 1989 - 3 C 68.85 - BVerwGE 82, 56 ≪59≫; BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 1977 - 2 BvR 988/75 - BVerfGE 44, 353 ≪372≫; Kammerbeschluss vom 29. Juli 2002 - 2 BvR 708/02 - juris Rn. 5; ebenso für das Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant: BVerfG, Urteil vom 30. März 2004 - 2 BvR 1520/01 u. a. - BVerfGE 110, 226 ≪252≫; Beschluss vom 12. April 2005 - 2 BvR 1027/02 - BVerfGE 113, 29 ≪48 f.≫; Kammerbeschluss vom 27. Juni 2018 - 2 BvR 1405/17 u. a. - NJW 2018, 2385 Rn. 68). Auch einfachrechtlich sind das Recht und die Pflicht des Arztes zur Verschwiegenheit geschützt (vgl. z. B. § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 53 Abs. 1 Nr. 3, § 97 Abs. 1 bis 3 StPO; siehe auch § 9 MBO-Ä 1997).
Rz. 47
(2) Ärztliche Patientenakten sind dem Zugriff der öffentlichen Gewalt nicht absolut entzogen. Die schutzwürdigen Geheimhaltungsinteressen von Arzt und Patient müssen zurücktreten, wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls dies erfordern und das Verhältnismäßigkeitsgebot gewahrt ist (BVerfG, Beschlüsse vom 8. März 1972 - 2 BvR 28/71 - BVerfGE 32, 373 ≪380≫, vom 24. Mai 1977 - 2 BvR 988/75 - BVerfGE 44, 353 ≪373 ff.≫ und vom 24. Juni 1993 - 1 BvR 689/92 - BVerfGE 89, 69 ≪84≫; Kammerbeschlüsse vom 29. April 1996 - 1 BvR 1226/89 - NJW 1997, 1633 ≪1634≫ und vom 29. Juli 2002 - 2 BvR 708/02 - juris; BVerwG, Urteil vom 11. Mai 1989 - 3 C 68.85 - BVerwGE 82, 56 ≪60 f.≫; BGH, Urteil vom 3. Dezember 1991 - 1 StR 120/90 - BGHSt 38, 144 ≪147 f.≫). Eingriffe in das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen des Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 12 Abs. 1 GG klar und für den Bürger erkennbar ergeben und die damit dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht (BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1983 - 1 BvR 209/83 u. a. - BVerfGE 65, 1 ≪44≫; Beschluss vom 12. April 2005 - 2 BvR 1027/02 - BVerfGE 113, 29 ≪50≫; Kammerbeschluss vom 6. Juni 2006 - 2 BvR 1349/05 - GesR 2007, 41 ≪43≫).
Rz. 48
(3) Diesen Anforderungen an die Ausgestaltung der gesetzlichen Eingriffsgrundlage genügt § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG in Bezug auf ärztliche Patientenakten nicht. Arzt und Patient können der Vorschrift nicht entnehmen, dass und unter welchen Voraussetzungen die Überwachungsbehörde befugt ist, die Patientenakte einzusehen, um die Begründetheit der Verschreibung des Betäubungsmittels zu kontrollieren. Weder Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Norm noch die Gesetzessystematik geben - wie dargelegt - Anhaltspunkte dafür, dass mit dem Begriff der Unterlagen über den Betäubungsmittelverkehr auch Patientenakten gemeint sind. Die Festlegung der Eingriffsschwelle für die Maßnahme (vgl. BVerfG, Urteil vom 11. März 2008 - 1 BvR 2074/05 u. a. - BVerfGE 120, 378 ≪428≫) ergibt sich aus § 22 BtMG ebenfalls nicht.
Rz. 49
2. Die in Ziffer I.1 des Bescheides getroffene Anordnung ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Rz. 50
Die Verfassungsmäßigkeit der in § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG, § 8 Abs. 5 BtMVV geregelten Befugnis zur Einsicht in Betäubungsmittelrezepte unterliegt keinen Bedenken. Ein Verstoß gegen das Zitiergebot (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG) liegt nicht vor. Das in Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte allgemeine Persönlichkeitsrecht einschließlich seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung sowie die durch Art. 12 Abs. 1 GG garantierte Berufsausübungsfreiheit gehören nicht zu den Grundrechten, die dem Zitiergebot unterliegen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Mai 1983 - 1 BvL 46/80 u. a. - BVerfGE 64, 72 ≪79 ff.≫; Kammerbeschluss vom 22. August 2006 - 2 BvR 1345/03 - NJW 2007, 351 Rn. 63 f.). § 22 Abs. 1 Nr. 1, § 24 Abs. 1 BtMG, § 8 Abs. 5 BtMVV stellen im Hinblick auf Betäubungsmittelrezepte auch eine hinreichend bestimmte Rechtsgrundlage dar. Dass Betäubungsmittelrezepte Unterlagen über den Betäubungsmittelverkehr im Sinne von § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG sind, lässt sich der Regelung im Wege der Auslegung - wie bereits ausgeführt - eindeutig entnehmen. § 8 Abs. 5 BtMVV regelt ausdrücklich, dass der Arzt Teil III der Verschreibung und die Teile I bis III der fehlerhaft ausgefertigten Betäubungsmittelrezepte nach Ausstellungsdaten oder nach Vorgabe der zuständigen Landesbehörde geordnet drei Jahre aufzubewahren und auf Verlangen der nach § 19 Abs. 1 Satz 3 BtMG zuständigen Landesbehörde einzusenden oder Beauftragten dieser Behörde vorzulegen hat.
Rz. 51
Bedenken gegen die Verhältnismäßigkeit der in Ziffer I.1 des Bescheides getroffenen Maßnahme sind nicht geltend gemacht und nicht ersichtlich. Der Verwaltungsgerichtshof hat festgestellt, dass tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die die Einsicht in die Betäubungsmittelrezepte rechtfertigen. Diese Würdigung ist nach den in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen, die gemäß § 137 Abs. 2 VwGO für den Senat verbindlich sind, nicht zu beanstanden.
Rz. 52
3. Wegen der Rechtswidrigkeit von Ziffer I.2 des Bescheides ist auch die Zwangsgeldandrohung rechtswidrig und aufzuheben, soweit sie sich auf die Anordnung zur Vorlage der Patientenunterlagen bezieht. Soweit sich die Zwangsgeldandrohung auf die Anordnung zur Vorlage der Betäubungsmittelrezepte bezieht, hat der Verwaltungsgerichtshof die auf Landesrecht gestützte Androhung nicht beanstandet. Ein Verstoß gegen Bundesrecht ist nicht geltend gemacht und nicht ersichtlich. Die teilweise Aufhebung der im Bescheid getroffenen Entscheidung über die Verwaltungskosten beruht auf der Aufhebung von Ziffer I.2. Der Senat hat die erhobene Gebühr (200 €) anteilig reduziert.
Rz. 53
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Fundstellen
Haufe-Index 15209656 |
BVerwGE 2023, 99 |
DÖV 2022, 783 |
JZ 2022, 461 |
JZ 2022, 468 |
LKV 2022, 3 |
RDV 2022, 225 |
BayVBl. 2022, 3 |
DVBl. 2022, 1036 |
DVBl. 2022, 3 |
GesR 2022, 534 |
A&R 2022, 272 |
GSZ 2022, 9 |
NZFam 2022, 6 |
Polizei 2022, 369 |
medstra 2022, 3 |