Ursula Seiler-Schopp, Michael Rudolf
Rz. 50
In einem weiteren Schritt ist die Lücke zu schließen. Um die Lücke zu schließen, ist zu ermitteln, was der Erblasser im Zeitpunkt der Testamentserrichtung gewollt hätte und was inhaltlich von ihm für den Fall angeordnet worden wäre, dass er die Veränderungen der Sachlage vorausgesehen hätte. Es ist immer zu fragen, welche Anordnungen der Erblasser getroffen hätte bzw. welche er nicht getroffen hätte, wenn ihm im Zeitpunkt der Errichtung des Testaments die nicht in Erwägung gezogenen Umstände bekannt gewesen wären. Es ist somit ein dem Erblasser unterstellter irrealer oder hypothetischer (unwirklicher) Wille zu berücksichtigen, den er vermutlich gehabt haben würde, wenn er im Zeitpunkt der Testamentserrichtung die künftige Entwicklung wenigstens als möglich vorausgesehen hätte. Von einem allwissenden Erblasser, der die Zukunft in allen Einzelheiten voraussieht, ist hierbei nicht auszugehen. Dies wäre realitätsfremd und würde einer ergänzenden Auslegung nicht entsprechen. Es ist zu fragen, wie der Erblasser testiert hätte, wenn er die Möglichkeit der späteren Entwicklung in ihren wesentlichen Zügen bedacht hätte.
Es geht hier nicht darum, den erwiesenen oder den mutmaßlichen wirklichen Willen zur Geltung zu bringen. Auch bei der Ermittlung des hypothetischen Erblasserwillens sind außerhalb des Testaments liegende Umstände sowie die allg. Lebenserfahrung und auch Äußerungen des Erblassers zu berücksichtigen. Maßgebend ist auch bei der ergänzenden Testamentsauslegung der Wille im Zeitpunkt der Errichtung des Testaments, nicht ein etwaiger späterer Wille. Aus einem nach der Testamentserrichtung gebildeten Willen des Erblassers können allenfalls "Rückschlüsse" auf den hypothetischen Willen zur Zeit der Abfassung der Verfügung gezogen werden.
Rz. 51
In den Fällen, in denen sich ein hypothetischer Erblasserwille nicht feststellen lässt, ist die Verfügung anhand des Wortlauts auszulegen. Haben Ehegatten einen Erbvertrag errichtet, in dem sie ihren Sohn bindend zum Schlusserben berufen haben, war diesen allerdings nicht bekannt, dass dieser geistig behindert und testierunfähig sein würde, kann aus diesem Umstand, sofern der Erbvertrag keinerlei Anhaltspunkte enthält, keine Änderungsbefugnis des überlebenden Ehegatten hergeleitet werden. Fehlen Anhaltspunkte in einem Behinderten- oder Bedürftigentestament, kann es nicht ergänzend dahingehend ausgelegt werden, dass öffentliche Versorgungsleistungen unbeeinflusst bleiben.
Rz. 52
In den Fällen, in denen der Erblasser die Veränderung der Umstände erkennt und sich dahingehend äußert, dass seine ursprünglich errichtete Verfügung mit verändertem Inhalt weiter gelte, lässt sich ein Rückschluss auf den hypothetischen Willen bei Testamentserrichtung ziehen, da der Erblasser davon ausgeht, dass sein errichtetes Testament der veränderten Situation Rechnung trägt. Ist dem Erblasser hingegen bewusst, dass das von ihm errichtete Testament Lücken enthält, und errichtet er dennoch keine neue letztwillige Verfügung, ist eine ergänzende Auslegung nicht möglich. Auf einen hypothetischen Willen im Zeitpunkt der Testamentserrichtung kann nicht geschlossen werden. Anders ist dies, wenn der Erblasser glaubte, die Verfügung nicht mehr ändern zu können. Hat der Erblasser von den Veränderungen erfahren und ändert er seine Verfügung nicht, ist diese Tatsache jedoch dann beachtlich, wenn das Unterlassen nicht nur darauf beruht, dass der Erblasser an seine letztwillige Verfügung nicht mehr gedacht hat.
Rz. 53
Um die Lücke zu schließen, ist bei mehreren Gestaltungsmöglichkeiten diejenige zu wählen, mit der die gefundenen Zwecke und Motive am besten verwirklicht werden können. Für den Fall, dass ein vom Wortlaut der Verfügung von Todes wegen abweichender realer oder hypothetischer Wille des Erblassers nicht erkennbar ist, muss es bei einer Auslegung entsprechend dem Wortlaut verbleiben.