Ursula Seiler-Schopp, Michael Rudolf
Rz. 54
In einem vierten Schritt ist wiederum zu prüfen, ob der durch Auslegung ermittelte Wille, d.h. das Ziel des Erblassers bzw. seine allg. Motivation, in der Urkunde wenigstens andeutungsweise enthalten ist. Hierbei ist davon auszugehen, dass dies umso eher der Fall ist, je mehr das vom Erblasser erstrebte Ziel aus dem Wortlaut der Urkunde erkennbar ist. Im Allg. ist bei der ergänzenden Testamentsauslegung Zurückhaltung geboten. Diese darf nämlich nicht dazu führen, dass dasjenige als vom Erblasser gewollt angesehen wird, das ein Dritter anstelle des Erblassers verfügt hätte. Ein Teil der Lit. lehnt derartige Schranken entschieden ab. Danach sei es sinnwidrig, für die ergänzende Auslegung Anhaltspunkte im Testament zu verlangen. Das wird damit begründet, dass es nur dann Anhaltspunkte geben könne, wenn der Erblasser eine Entwicklung bereits berücksichtigt habe. In diesem Falle sei jedoch die ergänzende Auslegung nicht erforderlich, vielmehr greife dann die einfache Auslegung ein. Auch Anhaltspunkte für einen hypothetischen Willen könne es nicht geben.
Rz. 55
Dieser in der Lit. vertretenen Ansicht kann allerdings nicht gefolgt werden. Die Andeutungstheorie legt bei der ergänzenden Testamentsauslegung eine andere Fragestellung zugrunde als bei der einfachen Auslegung und ist daher auch für die ergänzende Auslegung heranzuziehen. Eine Testamentsergänzung ist nur für den Fall zulässig, dass eine Grundlage aus der Willensrichtung des Erblassers gegeben ist. Die Willensrichtung ist anhand des Testaments, jedoch aufgrund von Umständen, die außerhalb des Testaments liegen, und aufgrund der allg. Lebenserfahrung zu ermitteln. Es ist somit eine Anknüpfung an die dem Testament erkennbar zugrunde liegende Willensrichtung erforderlich. Daraus folgt, dass weder für das Auslegungsergebnis noch für den hypothetischen Willen eine Andeutung im Testament gefordert wird. Vielmehr ist die Willensrichtung anhand des Testaments festzustellen. Somit ist zwar beim Testament anzusetzen, es ist aber gestattet, dass die Willensrichtung auch dann festgestellt wird, wenn diese aus dem Testament selbst nicht unmittelbar hervorgeht.
Rz. 56
Mit dieser Anknüpfung an das Testament sind daher subjektive wie objektive Komponenten verbunden. Subjektiv wird auf die Motivation des Erblassers abgestellt. Es ist daher zu fragen, was der Erblasser vermutlich angeordnet hätte, wenn er mit der veränderten Sachlage konfrontiert gewesen wäre. Objektiv darf es sich bei der Ergänzung nur um eine Weiterentwicklung der bereits errichteten Verfügung von Todes wegen handeln. Somit ist die testamentarische Verfügung weiter und zu Ende zu denken. Ein Weiterdenken kann bspw. dazu führen, anstatt eines bestimmten Gegenstandes dessen Wert als vermacht anzusehen. Die ergänzende Auslegung kann aber nicht dazu führen, eine völlig neue Verfügung zu schaffen, bspw. dass nicht die Person A zum Erben eingesetzt wurde, sondern die Person B. Im Einzelfall könnte eine derartige Änderung des Testaments dem Willen des Erblassers gerecht werden. Hierbei handelt es sich jedoch nicht mehr um ein Weiterdenken der getroffenen Verfügung. Vielmehr handelt es sich um einen Rückschluss aus der getroffenen Verfügung auf die Motivation, was dazu führt, dass unmittelbar aus dieser Motivation in Verbindung mit der tatsächlichen Sachlage eine neue Verfügung geschaffen wird. Dies ist jedoch nicht Aufgabe der ergänzenden Auslegung. In solchen Fällen bleibt nur die Anfechtung.
Rz. 57
Fehlen Verfügungen in einem Testament, ist bei einem Rückschluss von getroffenen auf angeblich fehlende Verfügungen einschränkend zu fordern, dass die getroffene Verfügung ohne die zu ergänzende überhaupt keinen Sinn ergibt. Ansonsten würde sich die Auslegung völlig vom Testamentstext lösen. Enthält eine letztwillige Verfügung demgemäß keine Regelung für den Tod des zuerst versterbenden Ehegatten, kann dies nicht dahin ausgelegt werden, dass einzelne gesetzlich erbberechtigte Personen von der Erbfolge nach dem Erstversterbenden ausgeschlossen sind. Auch kann von einer Schlusserbeneinsetzung nicht auf eine gegenseitige Erbeinsetzung der Ehegatten geschlossen werden.