Dr. Jens Tersteegen, Prof. Dr. Thomas Reich
Rz. 107
Um zu verhindern, dass die wirtschaftliche Beteiligung der pflichtteilsberechtigten Personen am Nachlass dadurch ausgehöhlt wird, dass der Erblasser zu Lebzeiten Schenkungen an Dritte vornimmt, regeln die §§ 2325 ff. BGB die sog. Pflichtteilsergänzung. Soweit der Erblasser zu Lebzeiten einem Dritten eine Schenkung gemacht hat, kann der Pflichtteilsberechtigte gem. § 2325 Abs. 1 BGB von den Erben als Ergänzung des Pflichtteils den Betrag verlangen, um den sich sein Pflichtteil erhöht, wenn der verschenkte Gegenstand dem Nachlass hinzugerechnet wird. Der Pflichtteilsergänzungsanspruch ist ein selbstständiger Anspruch, der neben den Pflichtteilsanspruch tritt. Für die Bewertung des verschenkten Gegenstandes ist gem. § 2325 Abs. 2 BGB grundsätzlich der Verkehrswert anzusetzen. Alle verbrauchbaren Sachen, insbesondere Geld und Wertpapiere, werden stets mit ihrem Wert zum Zeitpunkt der Schenkung berücksichtigt (§ 2325 Abs. 2 S. 1 BGB). Nicht verbrauchbare Sachen kommen dagegen mit dem Wert in Ansatz, den sie im Zeitpunkt des Erbfalls hatten, es sei denn, die Sache hatte im Zeitpunkt der Schenkung einen geringeren Wert (sog. Niederstwertprinzip, § 2325 Abs. 2 S. 2 BGB).
Rz. 108
Der Pflichtteilsergänzungsanspruch richtet sich zunächst gegen den Erben. Dieser kann aber die Ergänzung des Pflichtteils verweigern, soweit er selbst unter Berücksichtigung der Schenkung nur den Pflichtteil erhält. In diesem Fall kann der Pflichtteilsberechtigte vom Beschenkten wegen des Betrages, der als Pflichtteilsergänzung zu zahlen wäre, die Herausgabe des Geschenks insoweit verlangen (§ 2329 Abs. 1 BGB). Die Herausgabe kann der Beschenkte dadurch abwenden, dass er den Pflichtteilsergänzungsanspruch in Geld erfüllt (§ 2329 Abs. 2 BGB).
Rz. 109
Der Pflichtteilsergänzungsanspruch besteht im ersten Jahr nach der Schenkung in voller Höhe. Tritt der Erbfall erst später ein, so wird für jedes verstrichene Jahr die Schenkung jeweils ein Zehntel weniger berücksichtigt. Sind zehn Jahre seit der Leistung verstrichen, wird die Schenkung nicht mehr berücksichtigt (§ 2325 Abs. 3 BGB).
Rz. 110
Für den Fristbeginn wird auf den Zeitpunkt des rechtlichen Leistungserfolgs, nicht aber auf die Vornahme der Leistungshandlung abgestellt. Es kommt darauf an, wann der Leistungsgegenstand endgültig wirtschaftlich aus dem Vermögen des Erblassers ausgegliedert worden ist (Genussverzicht). Der Fristbeginn nach § 2325 Abs. 3 BGB wird gehindert, wenn der Erblasser den verschenkten Gegenstand, sei es aufgrund vorbehaltener dinglicher Rechte, sei es durch Vereinbarung schuldrechtlicher Ansprüche, im Wesentlichen weiter nutzt. Dies gilt insbesondere, wenn sich der Erblasser an einem übertragenen Grundstück den Nießbrauch oder ein umfassendes Wohnungsrecht vorbehält, so dass dem Beschenken keinerlei eigenständige Nutzungsmöglichkeit belassen wird. Bei einer Schenkung an den Ehegatten beginnt die Frist des § 2325 Abs. 3 BGB nicht vor Auflösung der Ehe.