Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Acte éclairé. Verfahren für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung. Natur und Rechtswirkungen. Verbindlichkeit für Rumänien. Unmittelbare Wirkung der Vorgaben. Verpflichtung zur Bekämpfung der Korruption im Allgemeinen und insbesondere der Korruption auf höchster Ebene. Pflicht, abschreckende und wirksame strafrechtliche Sanktionen vorzusehen. Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit. Urteil eines Verfassungsgerichts, mit dem eine nationale, die Gründe für die Unterbrechung dieser Frist regelnde Bestimmung für ungültig erklärt wurde. Systemische Gefahr der Straflosigkeit. Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen. Erfordernisse der Vorhersehbarkeit und Bestimmtheit des Strafgesetzes. Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior). Grundsatz der Rechtssicherheit. Nationaler Schutzstandard für die Grundrechte. Pflicht der Gerichte eines Mitgliedstaats, Urteile des Verfassungsgerichts und/oder des obersten Gerichts dieses Mitgliedstaats im Fall der Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht unangewendet zu lassen
Normenkette
Verfahrensordnung des Gerichtshofs Art. 99; Entscheidung 2006/928/EG
Beteiligte
Unitatea Administrativ Teritorială Judeţul Braşov |
Tenor
Die Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung
ist dahin auszulegen, dass
die Gerichte eines Mitgliedstaats nicht verpflichtet sind, Urteile des Verfassungsgerichts dieses Mitgliedstaats unangewendet zu lassen, mit denen die nationale Rechtsvorschrift, die die Gründe für die Unterbrechung der Verjährungsfrist in Strafsachen regelt, wegen eines Verstoßes gegen die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit und Bestimmtheit des Strafrechts, die sich aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen ergeben, für ungültig erklärt wurde, auch wenn diese Urteile zur Folge haben, dass eine beträchtliche Zahl von Strafverfahren einschließlich solcher, in denen es um Korruptionsdelikte geht, wegen Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eingestellt wird.
Dagegen ist diese Entscheidung dahin auszulegen, dass
die Gerichte dieses Mitgliedstaats verpflichtet sind, einen den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) betreffenden nationalen Schutzstandard unangewendet zu lassen, der es gestattet, die Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit in solchen Rechtssachen durch Verfahrenshandlungen, die vor einer solchen Feststellung der Ungültigkeit vorgenommen wurden, auch im Rahmen von Rechtsbehelfen gegen rechtskräftige Urteile in Frage zu stellen.
Tatbestand
In der Rechtssache C-131/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Braşov (Berufungsgericht Braşov, Rumänien) mit Entscheidung vom 2. März 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 3. März 2023, in dem Strafverfahren gegen
C.A.A,
C.V,
Beteiligte:
Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie – Direcţia Naţională Anticorupţie – Serviciul Teritorial Braşov,
Unitatea Administrativ Teritorială Judeţul Braşov,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer),
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei, des Präsidenten der Vierten Kammer C. Lycourgos (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Neunten Kammer und der Richterin L. S. Rossi,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV und Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens aufgrund von Art. K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, unterzeichnet in Brüssel am 26. Juli 1995 (ABl. 1995, C 316, S. 49, im Folgenden: SFI-Übereinkommen), der Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung (ABl. 2006, L 354, S. 56), von Art. 49 Abs. 1 letzter Satz und Art. 53 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen außerordentlicher Rechtsbehelfe von C.A.A. und C.V., die auf die Aufhebung...