Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Sachlicher Anwendungsbereich. Begriff ‚Zivil- und Handelssachen’. Verfahren zur Beitreibung einer Gebühr für die Nutzung einer mautpflichtigen Straße
Normenkette
Verfahrensordnung des Gerichtshofs Art. 99; Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 Art. 1 Abs. 1
Beteiligte
Nemzeti Útdíjfizetési Szolgáltató |
Nemzeti Útdíjfizetési Szolgáltató Zrt |
Tenor
Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass unter den Begriff „Zivil- und Handelssachen” im Sinne dieser Bestimmung eine Klage auf gerichtliche Beitreibung einer Gebühr für die Nutzung einer mautpflichtigen Straße fällt, die von einer Gesellschaft erhoben wird, die durch ein Gesetz, das das sich aus dieser Nutzung ergebende Verhältnis als privatrechtlich qualifiziert, bevollmächtigt ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Amtsgericht Lennestadt (Deutschland) mit Entscheidung vom 11. Januar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Januar 2021, in dem Verfahren
Nemzeti Útdíjfizetési Szolgáltató Zrt.
gegen
NW
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters M. Safjan,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Nemzeti Útdíjfizetési Szolgáltató Zrt., vertreten durch M. Tändler, Rechtsanwalt,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Heller und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Nemzeti Útdíjfizetési Szolgáltató Zrt., einer Aktiengesellschaft ungarischen Rechts mit Sitz in Budapest (Ungarn), und NW, wohnhaft in Deutschland, wegen eines Antrags auf Beitreibung einer Gebühr für die Nutzung einer mautpflichtigen Straße.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 10 und 15 der Verordnung Nr. 1215/2012 heißt es:
„(10) Der sachliche Anwendungsbereich dieser Verordnung sollte sich, von einigen genau festgelegten Rechtsgebieten abgesehen, auf den wesentlichen Teil des Zivil- und Handelsrechts erstrecken …
…
(15) Die Zuständigkeitsvorschriften sollten in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten. Diese Zuständigkeit sollte stets gegeben sein außer in einigen genau festgelegten Fällen, in denen aufgrund des Streitgegenstands oder der Vertragsfreiheit der Parteien ein anderes Anknüpfungskriterium gerechtfertigt ist. Der Sitz juristischer Personen muss in der Verordnung selbst definiert sein, um die Transparenz der gemeinsamen Vorschriften zu stärken und Kompetenzkonflikte zu vermeiden.”
Rz. 4
Art. 1 Abs. 1 der Verordnung bestimmt:
„Diese Verordnung ist in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne dass es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt. Sie gilt insbesondere nicht für Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten oder die Haftung des Staates für Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte (acta iure imperii).”
Rz. 5
Art. 4 Abs. 1 der Verordnung sieht vor:
„Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen.”
Ungarisches Recht
Rz. 6
Das Gesetz Nr. I von 1988 über den Straßenverkehr (im Folgenden: Straßenverkehrsgesetz) sieht in § 33/A Abs. 1 vor, dass für die Nutzung bestimmter Straßen eine Nutzungsgebühr zu entrichten ist. Für den Fall, dass diese nicht entrichtet wird, wird eine Zusatzgebühr erhoben.
Rz. 7
Dieses Gesetz ermächtigt den zuständigen Minister, durch Verordnung die Nutzung bestimmter Straßen einer Maut zu unterwerfen und die Höhe der Nutzungsgebühren und der Zusatzgebühren, die der eingetragene Halter eines Fahrzeugs zu entrichten hat, festzusetzen.
Rz. 8
Das Straßenverkehrsgesetz bildet die Rechtsgrundlage für die Verordnung Nr. 36/2007 des Ministers für Wirtschaft und Verkehr über die Maut für Autobahnen, Autostraßen und Hauptstraßen (im Folgenden: Verordnung Nr. 36/2007).
Rz. 9
Nach § 1 der Verordnung Nr. 36/2007 erfolgt die Benutzung der ...