Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Wanderarbeitnehmer. Soziale Sicherheit. Anzuwendende Rechtsvorschriften. A 1-Bescheinigung. Vorläufiger Widerruf. Bindende Wirkung. Auf betrügerische Weise erlangte oder geltend gemachte Bescheinigung. Personen, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausüben. Anwendbarkeit der Rechtsvorschriften des Sitzmitgliedstaats. Begriff ‚Sitz‘. Unternehmen, das eine Gemeinschaftslizenz für den Kraftverkehr gemäß den Verordnungen (EG) Nr. 1071/2009 und (EG) Nr. 1072/2009 erlangt hat. Auswirkung. Auf betrügerische Weise erlangte oder geltend gemachte Lizenz
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 987/2009 Art. 5; Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Art. 13 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i
Beteiligte
Tenor
1.Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 geänderten Fassung
ist dahin auszulegen, dass
eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte A 1-Bescheinigung die Träger und die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem die Arbeit verrichtet wird, bindet, und zwar auch dann, wenn der ausstellende Träger auf ein an ihn gerichtetes Ersuchen des zuständigen Trägers des letztgenannten Mitgliedstaats um Überprüfung und um Widerruf der Bescheinigung erklärt hat, die Bindungswirkung dieser Bescheinigung bis zu seiner endgültigen Entscheidung über dieses Ersuchen vorläufig auszusetzen. Jedoch kann unter solchen Umständen ein Gericht des Mitgliedstaats, in dem die Arbeit verrichtet wird, das im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Personen befasst wird, die im Verdacht stehen, diese A 1-Bescheinigung auf betrügerische Weise erlangt oder verwendet zu haben, das Vorliegen eines Betrugs feststellen und diese Bescheinigung folglich für die Zwecke dieses Strafverfahrens außer Acht lassen, sofern zum einen eine angemessene Frist verstrichen ist, ohne dass der ausstellende Träger die Gültigkeit der Ausstellung dieser Bescheinigung überprüft und zu den vom zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats übermittelten konkreten Anhaltspunkten dafür, dass die Bescheinigung auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht wurde, Stellung genommen und die betreffende Bescheinigung gegebenenfalls für ungültig erklärt oder widerrufen hat, und sofern zum anderen die mit dem Recht auf ein faires Verfahren zusammenhängenden Garantien, die diesen Personen gewährt werden müssen, beachtet werden.
2.Art. 13 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung Nr. 465/2012 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. a und Art. 11 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1071/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 zur Festlegung gemeinsamer Regeln für die Zulassung zum Beruf des Kraftverkehrsunternehmers und zur Aufhebung der Richtlinie 96/26/EG des Rates sowie mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 1072/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 über gemeinsame Regeln für den Zugang zum Markt des grenzüberschreitenden Güterkraftverkehrs
ist dahin auszulegen, dass
der Umstand, dass eine Gesellschaft im Besitz einer von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats ausgestellten Gemeinschaftslizenz für den Kraftverkehr ist, nicht den unwiderlegbaren Beweis dafür darstellt, dass diese Gesellschaft für die Zwecke der Bestimmung der anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit gemäß Art. 13 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung Nr. 465/2012 geänderten Fassung in diesem Mitgliedstaat ihren Sitz hat.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen C-410/21 und C-661/21
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hof van Cassatie (Kassationshof, Belgien) mit Entscheidungen vom 29. Juni 2021 (C-410/21) und vom 27. Oktober 2021 (C-661/21), beim Gerichtshof eingegangen am 5. Juli 2021 bzw. am 4. November 2021, in den Strafverfahren gegen
FU,
DRV Intertrans BV(C-410/21)
und
Verbraeken J. en Zonen BV,
PN(C-661/21)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richterin M. L. Arastey Sahún (Berichterstatterin) sowie der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von FU und der DRV Intertrans BV, vertreten durch F. Vanden Bogaerde, Advocaat,
- – der Verbraeken J. en Zonen BV, vertreten durch P. Bekaert und S. Bekaert, Advocaten,
- – von PN, vertreten durch F. Vanden Bogaerde, Advoca...