Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerbefreiung
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 131, 138 Abs. 1
Beteiligte
Nec Plus Ultra Cosmetics AG |
Verfahrensgang
Vrhovno sodisce Republike Slovenije (Slowenien) (Beschluss vom 13.10.2021; ABl. EU 2022 Nr. C 64/14) |
Tenor
Art. 131 und Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit
sind dahin auszulegen, dass
sie, sofern die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität gewahrt sind, einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die es verbietet, im Lauf des Verwaltungsverfahrens, das zum Erlass des Steuerbescheids geführt hat, insbesondere nach den Steuerprüfungshandlungen, aber vor Erlass dieses Bescheids, neue Beweise vorzulegen und aufzunehmen, die belegen, dass die in Art. 138 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen materiellen Voraussetzungen erfüllt sind.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Vrhovno sodišče (Oberster Gerichtshof, Slowenien) mit Entscheidung vom 13. Oktober 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 5. November 2021, in dem Verfahren
Nec Plus Ultra Cosmetics AG
gegen
Republika Slovenija
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. Gratsias sowie der Richter I. Jarukaitis und Z. Csehi (Berichterstatter),
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Nec Plus Ultra Cosmetics AG, vertreten durch I. Kranjec, Odvetnik,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaite und B. Rous Demiri als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 131 und Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) sowie der Grundsätze der steuerlichen Neutralität, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Nec Plus Ultra Cosmetics AG (im Folgenden: Nec) und der Republika Slovenija (Republik Slowenien), vertreten durch das Ministrstvo za finance (Finanzministerium, Slowenien), wegen einer Nacherhebung von Mehrwertsteuer.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 131 der Richtlinie 2006/112, die einzige Bestimmung des Kapitels 1 von Titel IX („Steuerbefreiungen”), sieht vor:
„Die Steuerbefreiungen der Kapitel 2 bis 9 werden unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften und unter den Bedingungen angewandt, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Befreiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch festlegen.”
Rz. 4
Art. 138 Abs. 1 dieser Richtlinie, der zu Kapitel 4 ihres Titels IX gehört, lautet wie folgt:
„Die Mitgliedstaaten befreien die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder für ihre Rechnung nach Orten außerhalb ihres jeweiligen Gebiets, aber innerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden von der Steuer, wenn diese Lieferung an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person bewirkt wird, der/die als solche/r in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände handelt.”
Slowenisches Recht
Rz. 5
Art. 46 Abs. 1 des Zakon o davku na dodano vrednost (Mehrwertsteuergesetz) vom 4. Februar 2011 (Uradni list RS, Nr. 13/11) sah in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung vor:
„Von der Mehrwertsteuerzahlung sind befreit:
1. Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder eine andere Person auf Rechnung des Verkäufers bzw. Erwerbers vom Gebiet Sloweniens in einen anderen Mitgliedstaat versandt oder befördert werden, wenn diese Lieferung an eine andere steuerpflichtige Person oder an eine nicht steuerpflichtige juristische Person bewirkt wird, die jeweils als solche in diesem anderen Mitgliedstaat handelt”.
Rz. 6
Art. 140 des Zakon o davčnem postopku (Gesetz über das Steuerverfahren) (Uradni list RS, Nr. 13/11) (im Folgenden: ZDavP-2) bestimmt:
„(1) Die Steuerbehörde erstellt innerhalb von zehn Tagen nach Abschluss der Steuerprüfung ein Protokoll, das sie dem Steuerpflichtigen zustellt. Das Protokoll enthält den festgestellten Sachverhalt, der alle für den Bescheid wesentlichen Tatsachen und Umstände umfasst. In dem Protokoll ist der Steuerpflichtige auf die Möglichkeit von neuen Tatsachen und Beweisen sowie deren Berücksichtigung gemäß Absatz 2 dieses Artikels hinzuweisen. Innerhalb von 20 Tagen nach Zustellung des Protokolls kann der Steuerpflichtige Anmerkungen zu dem Protokoll machen...