Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Prospekt beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel. Angebot, das sich sowohl an Kleinanleger als auch an qualifizierte Anleger richtet. Inhalt der im Prospekt enthaltenen Angaben. Haftungsklage. Kleinanleger und qualifizierte Anleger. Kenntnis von der wirtschaftlichen Situation des Emittenten
Normenkette
Richtlinie 2003/71/EG Art. 3 Abs. 2, Art. 6
Beteiligte
Unión Mutua Asistencial de Seguros (UMAS) |
Tenor
1. Art. 6 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG in der durch die Richtlinie 2008/11/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2008 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die Haftungsklage wegen der im Prospekt enthaltenen Angaben im Fall eines öffentlichen Angebots zur Zeichnung von Aktien, das sich sowohl an Kleinanleger als auch an qualifizierte Anleger richtet, nicht nur von den Kleinanlegern, sondern auch von den qualifizierten Anlegern erhoben werden kann.
2. Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2003/71 in der durch die Richtlinie 2008/11 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er Bestimmungen des nationalen Rechts, die es im Zusammenhang mit einer von einem qualifizierten Anleger wegen der im Prospekt enthaltenen Angaben erhobenen Haftungsklage dem Gericht erlauben oder sogar vorschreiben, zu berücksichtigen, dass dieser Anleger aufgrund seiner Beziehungen zum Emittenten des öffentlichen Angebots zur Zeichnung von Wertpapieren unabhängig vom Prospekt Kenntnis von der wirtschaftlichen Situation des Emittenten hatte oder haben musste, dann nicht entgegenstehen, wenn diese Bestimmungen nicht ungünstiger sind als diejenigen für im nationalen Recht vorgesehene gleichartige Klagen und nicht in der Praxis bewirken, dass die Erhebung dieser Haftungsklage unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) mit Entscheidung vom 10. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Dezember 2019, in dem Verfahren
Bankia SA
gegen
Unión Mutua Asistencial de Seguros (UMAS)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Richter N. Piçarra (Berichterstatter), D. Šváby und S. Rodin sowie der Richterin K. Jürimäe,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Bankia SA, vertreten durch J. M. Fatás Monforte, J. Salinas Aguirre und D. Sarmiento Ramírez-Escudero, abogados,
- der Unión Mutua Asistencial de Seguros (UMAS), vertreten durch L. Lozano García, abogada,
- der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz und J. Rodríguez de la Rúa Puig als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und J. Očková als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch T. Scharf und J. Rius Riu als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Februar 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 2 und Art. 6 der Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG (ABl. 2003, L 345, S. 64) in der durch die Richtlinie 2008/11/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2008 (ABl. 2008, L 76, S. 37) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2003/71).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Bankia SA und der Unión Mutua Asistencial de Seguros (UMAS) über die Haftung von Bankia als Emittentin eines Angebots zur Zeichnung von Aktien für die Angaben, die in einem vor diesem Angebot veröffentlichten Prospekt enthalten waren.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Richtlinie 2003/71 wurde mit Wirkung vom 20. Juli 2019 durch die Verordnung (EU) 2017/1129 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel an einem geregelten Markt zu veröffentlichen ist (ABl. 2017, L 168, S. 12), aufgehoben. Auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens bleibt jedoch in zeitlicher Hinsicht die Richtlinie 2003/71 anwendbar.
Rz. 4
In den Erwägungsgründen 10, 16, 18, 19, 21 und 27 der Richtlinie 2003/71 hieß es:
„(10) Ziel dieser Richtlinie und der in ihr vorgesehenen Durchführungsmaßnahmen ist es, in Übereinstimmung mit den strengen Aufsichtsbestimmungen, die ...