Entscheidungsstichwort (Thema)
Charta der Grundrechte. Europäische Menschenrechtskonvention. Vorlage zur Vorabentscheidung. Entscheidung 2006/928/EG. Verfahren für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung. Öffentliches Wahlamt. Interessenkonflikt. Nationale Regelung, die ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter für eine vorbestimmte Dauer vorsieht. Sanktion, die zur Beendigung des Mandats hinzutritt. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Normenkette
Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 15 Abs. 1, Art. 47, 49 Abs. 3
Beteiligte
Agenţia Naţională de Integritate |
Agenţia Naţională de Integritate (ANI) |
Tenor
1.Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er auf eine nationale Regelung, die am Ende eines Verwaltungsverfahrens eine Maßnahme vorsieht, mit der für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter gegen eine Person verhängt wird, bei der ein Interessenkonflikt in der Ausübung eines solchen Amtes festgestellt wurde, nicht anwendbar ist, sofern diese Maßnahme nicht strafrechtlicher Natur ist.
2.Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, die eine Maßnahme vorsieht, mit der für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter gegen eine Person verhängt wird, bei der ein Interessenkonflikt in der Ausübung eines solchen Amtes festgestellt wurde, nicht entgegensteht, sofern die Anwendung dieser Regelung in Anbetracht aller maßgeblichen Umstände dazu führt, dass eine Sanktion verhängt wird, die unter Berücksichtigung des Ziels, Integrität und Transparenz bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und Pflichten zu gewährleisten sowie institutioneller Korruption vorzubeugen, in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des mit ihr geahndeten Verstoßes steht. Dies ist nicht der Fall, wenn das festgestellte rechtswidrige Verhalten in Ansehung dieses Ziels ausnahmsweise keinen schwer ins Gewicht fallenden Aspekt aufweist, während sich die Auswirkungen der fraglichen Maßnahme auf die persönliche, berufliche und wirtschaftliche Situation der betroffenen Person als besonders schwerwiegend erweisen.
3.Art. 15 Abs. 1 der Charta der Grundrechte ist dahin auszulegen, dass das Recht auf Ausübung eines nach einem demokratischen Wahlprozess erlangten Wahlmandats, wie z. B. eines Amtes als Bürgermeister, nicht unter diese Bestimmung fällt.
4.Art. 47 der Charta der Grundrechte ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, die eine Maßnahme vorsieht, mit der für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter gegen eine Person verhängt wird, bei der ein Interessenkonflikt in der Ausübung eines solchen Amtes festgestellt wurde, nicht entgegensteht, sofern die betroffene Person tatsächlich die Möglichkeit hat, die Rechtswidrigkeit des Berichts, in dem diese Feststellung getroffen wurde, und der auf seiner Grundlage verhängten Sanktion geltend zu machen und dabei auch die Verhältnismäßigkeit der Sanktion in Frage zu stellen.
Tatbestand
In der Rechtssache C-40/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Timişoara (Berufungsgericht Timişoara, Rumänien) mit Entscheidung vom 12. November 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Januar 2021, in dem Verfahren
T. A. C.
gegen
Agenţia Naţională de Integritate (ANI)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter P. G. Xuereb, T. von Danwitz (Berichterstatter) und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von T. A. C., vertreten durch T. Chiuariu, Avocat,
- – der Agenţia Naţională de Integritate (ANI), vertreten durch D. Chiurtu, O. Iacob und F.-I. Moise als Bevollmächtigte,
- – der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane und L. Liţu als Bevollmächtigte,
- – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Nicolae, P. J. O. Van Nuffel und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. November 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung (ABl. 2006, L 354, S. 56) sowie von Art. 15 Abs. 1, Art. 47 und Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Re...