Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Freier Kapitalverkehr. Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen. Nationale Regelung, nach der künftig nur nahe Angehörige des Eigentümers der Flächen solche Rechte erwerben können und die in der Vergangenheit von juristischen oder natürlichen Personen, die kein nahes Angehörigenverhältnis zum Eigentümer nachweisen können, erworbenen Rechte entschädigungslos erlöschen
Normenkette
AEUV Art. 63
Beteiligte
Vas Megyei Kormányhivatal Sárvári Járási Földhivatala |
Vas Megyei Kormányhivatal |
Tenor
Art. 63 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, wonach in der Vergangenheit bestellte Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen, deren Inhaber keine nahen Angehörigen des Eigentümers dieser Flächen sind, kraft Gesetzes erlöschen und infolgedessen im Grundbuch gelöscht werden.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Szombathelyi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szombathely, Ungarn) mit Entscheidungen vom 25. Januar und 8. Februar 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Januar und 26. Februar 2016, in den Verfahren
”SEGRO” Kft.
gegen
Vas Megyei Kormányhivatal Sárvári Járási Földhivatala (C-52/16)
und
Günther Horváth
gegen
Vas Megyei Kormányhivatal (C-113/16)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, E. Levits, C. G. Fernlund und C. Vajda, der Richter J.-C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Richterinnen C. Toader und A. Prechal (Berichterstatterin) sowie der Richter S. Rodin und F. Biltgen,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. März 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Garofoli, avvocato dello Stato,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
- der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, M. Figueiredo und M. J. Castello-Branco als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Havas, L. Malferrari und E. Montaguti als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 31. Mai 2017
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Art. 49 und 63 AEUV sowie der Art. 17 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen der „SEGRO” Kft. und der Vas Megyei Kormányhivatal Sárvári Járási Földhivatala (Regierungsbehörde für das Komitat Vas [Grundbuchamt des Kreises Sárvár], Ungarn) sowie zwischen Herrn Günther Horváth und der Vas Megyei Kormányhivatal (Regierungsbehörde für das Komitat Vas) wegen Bescheiden über die Löschung von Nießbrauchsrechten an landwirtschaftlichen Flächen im Grundbuch, deren Inhaber SEGRO bzw. Herr Horváth waren.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Anhang X der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 2003, L 236, S. 33, im Folgenden: Beitrittsakte von 2003) trägt die Überschrift „Liste nach Artikel 24 der Beitrittsakte: Ungarn”. In Nr. 2 von Kapitel 3 „Freier Kapitalverkehr”) dieses Anhangs heißt es:
„Unbeschadet der Verpflichtungen aus den Verträgen, auf die sich die Europäische Union gründet, kann Ungarn die Verbote des Erwerbs von landwirtschaftlichen Flächen durch natürliche Personen, die weder ihren Wohnsitz in Ungarn haben noch ungarische Staatsbürger sind, sowie durch juristische Personen gemäß seinen zum Zeitpunkt der Unterzeichnung dieser Akte geltenden Rechtsvorschriften nach dem Beitritt sieben Jahre lang beibehalten. Auf keinen Fall dürfen Staatsangehörige der Mitgliedstaaten oder juristische Personen, die gemäß den Gesetzen eines anderen Mitgliedstaats geschaffen wurden, beim Erwerb von landwirtschaftlichen Flächen ungünstiger als am Tag der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags behandelt werden. …
Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats, die sich als selbstständige Landwirte niederlassen wollen, mindestens drei Jahre lang ununterbrochen ihren rechtmäßigen Wohnsitz in Ungarn hatten und dort mindestens drei Jahre lang ununterbrochen in der Landwirtschaft tätig waren...