Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Umfang der Vorlagepflicht der in letzter Instanz entscheidenden einzelstaatlichen Gerichte. Ausnahmen von dieser Pflicht. Kriterien. Frage nach der Auslegung des Unionsrechts, die von den Parteien des nationalen Verfahrens gestellt wird, nachdem der Gerichtshof in diesem Verfahren ein Vorabentscheidungsurteil erlassen hat. Keine Angabe der Gründe, aus denen sich die Notwendigkeit einer Antwort auf die Vorlagefragen ergibt. Teilweise Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
Normenkette
AEUV Art. 267
Beteiligte
Consorzio Italian Management e Catania Multiservizi |
Consorzio Italian Management |
Rete Ferroviaria Italiana SpA |
Tenor
Art. 267 AEUV ist dahin auszulegen, dass ein innerstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, seiner Pflicht nachkommen muss, eine vor ihm aufgeworfene Frage nach der Auslegung des Unionsrechts dem Gerichtshof vorzulegen, es sei denn, es stellt fest, dass diese Frage nicht entscheidungserheblich ist, dass die betreffende Vorschrift des Unionsrechts bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder dass die richtige Auslegung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt.
Ob ein solcher Fall gegeben ist, ist unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Unionsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Union zu beurteilen.
Ein solches Gericht kann nicht allein deshalb von dieser Pflicht befreit werden, weil es den Gerichtshof im Rahmen derselben nationalen Rechtssache bereits um Vorabentscheidung ersucht hat. Es kann jedoch aus Unzulässigkeitsgründen, die dem Verfahren vor ihm eigen sind, davon absehen, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, sofern die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität gewahrt bleiben.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 15. November 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Juli 2019, in dem Verfahren
Consorzio Italian Management,
Catania Multiservizi SpA
gegen
Rete Ferroviaria Italiana SpA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev (Berichterstatter), der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, M. Ilešič, L. Bay Larsen, N. Piçarra, A. Kumin und N. Wahl, des Richters T. von Danwitz, der Richterinnen C. Toader und L.S. Rossi sowie der Richter I. Jarukaitis und N. Jääskinen,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. Juli 2020,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- des Consorzio Italian Management und der Catania Multiservizi SpA, vertreten durch E. Giardino und A. Cariola, avvocati,
- der Rete Ferroviaria Italiana SpA, vertreten durch U. Cossu, avvocato,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino, avvocato dello Stato,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und D. Klebs als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch E. de Moustier als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara, P. Ondrůšek und L. Haasbeek als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. April 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 2 und 3 EUV, von Art. 4 Abs. 2, der Art. 9, 26, 34, von Art. 101 Abs. 1 Buchst. e und der Art. 106, 151 bis 153, 156 und 267 AEUV, der Art. 16 und 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), der am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichneten und am 3. Mai 1996 in Straßburg revidierten Europäischen Sozialcharta (im Folgenden: Europäische Sozialcharta) und der auf der Tagung des Europäischen Rates in Straßburg am 9. Dezember 1989 angenommenen Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (im Folgenden: Charta der sozialen Rechte).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Consorzio Italian Management und der Catania Multiservizi SpA, Zuschlagsempfängerinnen eines öffentlichen Auftrags über Leistungen der Reinigung der Infrastrukturen der nationalen Eisenbahn, auf der einen und der Rete Ferroviaria Italiana SpA (im Folgenden: RFI) auf der anderen Seite wegen der Weigerung der RFI, ihrem Antrag auf Anpassung des Preises dieses Auftrags stattzugeben.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Das Decreto legislativo n. 163 – Codice dei contratti pubblici relativi a lavori, servizi e forniture in attuazione delle direttive 2004/17/CE e 2004/18/CE (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 163 – Gesetzbuch über...