Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Niederlassungsfreiheit. Beschränkung. Rechtfertigung. Gestaltung des Bildungssystems. Hochschulen. Verpflichtung, die Studienprogramme in der Amtssprache des betreffenden Mitgliedstaats zu unterrichten. Nationale Identität eines Mitgliedstaats. Schutz und Förderung der Amtssprache eines Mitgliedstaats. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Normenkette
AEUV Art. 49; EUV Art. 4 Abs. 2
Beteiligte
Tenor
Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die den Hochschulen grundsätzlich die Verpflichtung auferlegt, Unterricht ausschließlich in der Amtssprache dieses Mitgliedstaats zu erteilen, sofern eine solche Regelung aus Gründen, die mit dem Schutz der nationalen Identität dieses Mitgliedstaats zusammenhängen, gerechtfertigt ist, d. h., sofern sie zum Schutz des legitimerweise verfolgten Ziels erforderlich und in Bezug auf diesen Schutz verhältnismäßig ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Latvijas Republikas Satversmes tiesa (Verfassungsgericht, Lettland) mit Entscheidung vom 14. Juli 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Juli 2020, in dem Verfahren auf Betreiben von
Boriss Cilevičs,
Valērijs Agešins,
Vjačeslavs Dombrovskis,
Vladimirs Nikonovs,
Artūrs Rubiks,
Ivans Ribakovs,
Nikolajs Kabanovs,
Igors Pimenovs,
Vitālijs Orlovs,
Edgars Kucins,
Ivans Klementjevs,
Inga Goldberga,
Evija Papule,
Jānis Krišāns,
Jānis Urbanovičs,
Ļubova Švecova,
Sergejs Dolgopolovs,
Andrejs Klementjevs,
Regīna Ločmele-Luņova,
Ivars Zariņš,
Beteiligte:
Latvijas Republikas Saeima,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan, S. Rodin und J. Passer sowie der Richter M. Ilešič, J.-C. Bonichot, F. Biltgen, P. G. Xuereb und N. Piçarra, der Richterin L. S. Rossi und des Richters N. Wahl,
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Cilevičs, Herrn Agešins, Herrn Dombrovskis, Herrn Nikonovs, Herrn Rubiks, Herrn Ribakovs, Herrn Kabanovs, Herrn Pimenovs, Herrn Orlovs, Herrn Kucins, Herrn Klementjevs, Frau Goldberga, Frau Papule, Herrn Krišāns, Herrn Urbanovičs, Frau Švecova, Herrn Dolgopolovs, Herrn Klementjevs, Frau Ločmele-Luņova und Herrn Zariņš, vertreten durch B. Cilevičs,
- der lettischen Regierung, vertreten durch K. Pommere und V. Soņeca als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch E. de Moustier und N. Vincent als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M K. Bulterman und M. H. S. Gijzen als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, E. Samoilova und J. Schmoll als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Armati, I. Rubene und L. Malferrari als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. März 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 49 und 56 AEUV sowie des Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Augstskolu likums (Hochschulgesetz), das auf die Klage von Boriss Cilevičs, Valērijs Agešins, Vjačeslavs Dombrovskis, Vladimirs Nikonovs, Artūrs Rubiks, Ivans Ribakovs, Nikolajs Kabanovs, Igors Pimenovs, Vitālijs Orlovs, Edgars Kucins, Ivans Klementjevs, Inga Goldberga, Evija Papule, Jānis Krišāns, Jānis Urbanovičs, Ļubova Švecova, Sergejs Dolgopolovs, Andrejs Klementjevs, Regīna Ločmele-Luņova und Ivars Zariņš, Mitglieder der Latvijas Republikas Saeima (Parlament der Republik Lettland, im Folgenden: lettisches Parlament), eröffnet wurde.
Rechtlicher Rahmen
Lettische Verfassung
Rz. 3
Nach Art. 1 der Latvijas Republikas Satversme (Verfassung der Republik Lettland, im Folgenden: lettische Verfassung) ist Lettland eine unabhängige demokratische Republik.
Rz. 4
Art. 4 der lettischen Verfassung sieht vor:
„Die Amtssprache der Republik Lettland ist Lettisch. …”
Rz. 5
Art. 105 dieser Verfassung bestimmt:
„Jede Person hat das Recht auf Eigentum. Eigentum darf nicht in einer Weise verwendet werden, die in Widerspruch zum öffentlichen Interesse steht. Das Recht auf Eigentum kann nur durch Gesetz beschränkt werden. Eine Enteignung aus Gründen des öffentlichen Interesses ist nur in Ausnahmefällen auf der Grundlage eines besonderen Gesetzes und gegen eine ...