Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Rahmenbeschluss 2008/909/JI. Für die Vollstreckung einer Sanktion maßgebliches Recht. Auslegung einer nationalen Vorschrift des Vollstreckungsstaats, die eine Verkürzung der Freiheitsstrafe aufgrund der von der verurteilten Person während ihrer Haft im Ausstellungsstaat geleisteten Arbeit vorsieht. Rechtswirkungen der Rahmenbeschlüsse. Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung
Beteiligte
Tenor
1. Art. 17 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Vorschrift entgegensteht, die in der Weise ausgelegt wird, dass sie den Vollstreckungsstaat berechtigt, der verurteilten Person aufgrund der während ihrer Haft im Ausstellungsstaat von ihr geleisteten Arbeit eine Strafverkürzung zu gewähren, obwohl die zuständigen Behörden des Ausstellungsstaats nach dessen Recht eine solche Strafverkürzung nicht gewährt haben.
2. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht sämtliche Vorschriften des nationalen Rechts berücksichtigen und sie so weit wie möglich im Einklang mit dem Rahmenbeschluss 2008/909 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung auslegen muss, um das mit ihm angestrebte Ergebnis zu erreichen, wobei es erforderlichenfalls aus eigener Entscheidungsbefugnis die von einem letztinstanzlichen nationalen Gericht vorgenommene Auslegung unangewandt lässt, wenn diese Auslegung nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 25. November 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Dezember 2014, ergänzt am 15. Dezember 2014, in dem Strafverfahren gegen
Atanas Ognyanov,
Beteiligte:
Sofiyska gradska prokuratura,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič und J. L. da Cruz Vilaça, der Kammerpräsidentin M. Berger (Berichterstatterin), der Richter J.-C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan, E. Jarašiūnas, C. G. Fernlund, C. Vajda, S. Rodin und F. Biltgen,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Januar 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und M. Gijzen als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard als Bevollmächtigten,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch D. Blundell und L. Barfoot als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters, W. Bogensberger und V. Soloveytchik als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3. Mai 2016
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. 2008, L 327, S. 27) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens über die Anerkennung eines strafrechtlichen Urteils und die Vollstreckung einer von einem dänischen Gericht gegen Herrn Atanas Ognyanov verhängten Freiheitsstrafe in Bulgarien.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Der Rahmenbeschluss 2008/909 ersetzte ab dem 5. Dezember 2011 in den meisten Mitgliedstaaten die entsprechenden Bestimmungen des Übereinkommens des Europarats vom 21. März 1983 über die Überstellung verurteilter Personen und des dazugehörigen Zusatzprotokolls vom 18. Dezember 1997.
Rz. 4
Der fünfte Erwägungsgrund dieses Rahmenbeschlusses lautet:
„Die Verfahrensrechte in Strafverfahren sind ein entscheidendes Element, um wechselseitiges Vertrauen unter den Mitgliedstaaten im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeit zu gewährleisten. Die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten, die von einem besonderen wechselseitigen Vertr...