Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung. Verpflichtender automatischer Informationsaustausch über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen. Gültigkeit. Anwaltliches Berufsgeheimnis. Befreiung des dem Berufsgeheimnis unterliegenden Rechtsanwalt-Intermediärs von der Meldepflicht. Pflicht dieses Rechtsanwalt-Intermediärs, andere Intermediäre, die nicht seine Mandanten sind, über die ihm obliegenden Meldepflichten zu unterrichten
Normenkette
Richtlinie 2011/16/EU in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 geänderten Fassung Art. 8ab Abs. 5; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 7, 47
Beteiligte
Orde van Vlaamse Balies u.a |
Belgian Association of Tax Lawyers |
Tenor
Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 des Rates vom 25. Mai 2018 geänderten Fassung ist im Licht von Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ungültig, soweit seine Anwendung durch die Mitgliedstaaten dazu führt, dass dem Rechtsanwalt, der als Intermediär im Sinne von Art. 3 Nr. 21 dieser Richtlinie in geänderter Fassung handelt, die Pflicht auferlegt wird, andere Intermediäre, die nicht seine Mandanten sind, unverzüglich über die Meldepflichten zu unterrichten, die ihnen nach Art. 8ab Abs. 6 dieser Richtlinie in geänderter Fassung obliegen, wenn dieser Rechtsanwalt aufgrund der Verschwiegenheitspflicht, der er unterliegt, von der in Art. 8ab Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Meldepflicht befreit ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof, Belgien) mit Entscheidung vom 17. Dezember 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Dezember 2020, in dem Verfahren
Orde van Vlaamse Balies,
IG,
Belgian Association of Tax Lawyers,
CD,
JU
gegen
Vlaamse Regering
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, des Kammerpräsidenten P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi und des Kammerpräsidenten D. Gratsias sowie der Richter F. Biltgen, N. Piçarra, I. Jarukaitis, N. Jääskinen und N. Wahl, der Richterin I. Ziemele und des Richters J. Passer (Berichterstatter),
Generalanwalt: A. Rantos,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Januar 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- des Orde van Vlaamse Balies und IG, vertreten durch S. Eskenazi und P. Wouters, Advocaten,
- der Belgian Association of Tax Lawyers, CD und JU, vertreten durch P. Malherbe, Avocat, und P. Verhaeghe, Advocaat,
- der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens, J.-C. Halleux und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von M. Delanote, Advocaat,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Očková, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard, A.-L. Desjonquères, E. de Moustier und É. Toutain als Bevollmächtigte,
- der lettischen Regierung, vertreten durch J. Davidoviča, I. Hūna und K. Pommere als Bevollmächtigte,
- des Rates der Europäischen Union, vertreten durch E. Chatziioakeimidou, I. Gurov und S. Van Overmeire als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Roels und P. Van Nuffel als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. April 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit von Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG (ABl. 2011, L 64, S. 1) in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 des Rates vom 25. Mai 2018 (ABl. 2018, L 139, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: geänderte Richtlinie 2011/16) im Hinblick auf die Art. 7 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Orde van Vlaamse Balies (Kammer der flämischen Rechtsanwaltschaften), der Belgian Association of Tax Lawyers, einem Berufsverband von Rechtsanwälten, sowie von IG, CD und JU, drei Anwälten, auf der einen Seite und der Vlaamse Regering (Flämische Regierung, Belgien) auf der anderen Seite über die Gültigkeit einiger Bestimmungen der flämischen Regelung über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2011/16
Rz. 3
Die Richtlinie 2011/16 führt ein System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Steuerbehörden der Mitgliedstaaten ein und...