Entscheidungsstichwort (Thema)
Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen. Artikel 54 und 71. Grundsatz ne bis in idem. Zeitliche Geltung. Begriff ‚dieselbe Tat’. Einfuhr und Ausfuhr von Betäubungsmitteln, die in verschiedenen Vertragsstaaten strafrechtlich verfolgt werden
Beteiligte
Leopold Henri Van Esbroeck |
Tenor
1. Der in Artikel 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen niedergelegte Grundsatz ne bis in idem ist auf ein Strafverfahren anzuwenden, das in einem Vertragsstaat wegen einer Tat eingeleitet worden ist, die in einem anderen Vertragsstaat bereits zur Verurteilung des Betroffenen geführt hat, auch wenn das genannte Übereinkommen in diesem letztgenannten Staat zum Zeitpunkt der Verkündung dieser Verurteilung noch nicht in Kraft war, sofern es in den betreffenden Vertragsstaaten zu dem Zeitpunkt, zu dem das mit einem zweiten Verfahren befasste Gericht die Voraussetzungen für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem geprüft hat, in Kraft war.
2. Artikel 54 des genanten Übereinkommens ist dahin auszulegen, dass
- das maßgebende Kriterium für die Anwendung dieses Artikels das der Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen, ist, unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder von dem geschützten rechtlichen Interesse;
- die strafbaren Handlungen, die in der Ausfuhr und der Einfuhr derselben Betäubungsmittel bestehen und in verschiedenen Vertragsstaaten des genannten Übereinkommens strafrechtlich verfolgt worden sind, grundsätzlich als „dieselbe Tat” im Sinne des genannten Artikels 54 anzusehen sind, wobei die endgültige Beurteilung insoweit Sache der zuständigen nationalen Gerichte ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 35 EU, eingereicht vom Hof van Cassatie (Belgien) mit Entscheidung vom 5. Oktober 2004, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Oktober 2004, in dem Verfahren gegen
Leopold Henri Van Esbroeck
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans, des Richters R. Schintgen (Berichterstatter), der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter G. Arestis und J. Klučka,
Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer,
Kanzler: K. Sztranc, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. September 2005,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Van Esbroeck, vertreten durch T. Vrebos, advocaat,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch T. Bocek als Bevollmächtigten,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster und C. M. Wissels als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch T. Nowakowski als Bevollmächtigten,
- der slowakischen Regierung, vertreten durch R. Procházka als Bevollmächtigten,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch W. Bogensberger und R. Troosters als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Oktober 2005
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Artikel 54 und 71 des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19, im Folgenden: SDÜ).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines in Belgien gegen Herrn Van Esbroeck wegen Handels mit Betäubungsmitteln eingeleiteten Strafverfahrens.
Rechtlicher Rahmen
Übereinkommen zur Durchführung des Schengener Übereinkommens
3 Nach Artikel 1 des Protokolls zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union, das durch den Vertrag von Amsterdam dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft beigefügt wurde (im Folgenden: Protokoll), sind dreizehn Mitgliedstaaten der Europäischen Union, darunter das Königreich Belgien, ermächtigt, untereinander eine verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen des Schengen-Besitzstands, wie er im Anhang dieses Protokolls definiert wird, zu begründen.
4 Der so definierte Schengen-Besitzstand umfasst u. a. das am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichnete Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an de...