Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Straßenverkehr. Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften. Nichtanwendung der Verordnung auf Beförderungen im Straßenverkehr mit Fahrzeugen, die zur Personenbeförderung im Linienverkehr verwendet werden, wenn die Linienstrecke nicht mehr als 50 km beträgt. Fahrzeug, das gemischt verwendet wird. Extraterritoriale Sanktion. Verstoß, der im Staatsgebiet eines Mitgliedstaats festgestellt und im Staatsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begangen wurde. Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen. Kontrollgerät im Straßenverkehr. Pflicht, die Fahrerkarte einzustecken. Pflicht, den Kontrollbeamten auf Verlangen die Fahrerkarte vorzulegen. Unterbliebenes Einstecken der Fahrerkarte in das Kontrollgerät an mehreren der 28 Tage, die der Kontrolle vorausgehen
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 561/2006 Art. 3 Buchst. a, Art. 19 Abs. 2; EWGV 3821/85 Art. 15 Abs. 2, 7
Beteiligte
Ministère public (Sanctions extraterritoriales) |
Tenor
1. Art. 3 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 zur Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr und zur Änderung der Verordnungen (EWG) Nr. 3821/85 und (EG) Nr. 2135/98 des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates ist dahin auszulegen, dass ein Fahrer, der in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallende Beförderungen im Straßenverkehr durchführt, auch dann verpflichtet ist, gemäß Art. 15 Abs. 2, 3 und 7 der Verordnung (EG) Nr. 3821/85 des Rates vom 20. Dezember 1985 über das Kontrollgerät im Straßenverkehr in der durch die Verordnung Nr. 561/2006 geänderten Fassung den Kontrollbeamten auf Verlangen die Fahrerkarte, die Schaublätter und alle für den laufenden Tag und die vorausgehenden 28 Tage erstellten Aufzeichnungen vorzulegen, wenn er während dieses Zeitraums mit demselben Fahrzeug auch Personen im Linienverkehr mit einer Streckenlänge von nicht mehr als 50 km befördert hat.
2. Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 561/2006 ist dahin auszulegen, dass er es den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats verwehrt, gegen den Fahrer eines Fahrzeugs oder ein Transportunternehmen wegen eines im Staatsgebiet eines anderen Mitgliedstaats oder eines Drittstaats begangenen, aber in seinem Staatsgebiet festgestellten Verstoßes gegen die Verordnung Nr. 3821/85 in der durch die Verordnung Nr. 561/2006 geänderten Fassung eine Sanktion zu verhängen, sofern hierfür noch keine Sanktion verhängt wurde.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) mit Entscheidung vom 7. Mai 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Dezember 2019, in dem Strafverfahren gegen
FO
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter M. Ilešič, E. Juhász (Berichterstatter), C. Lycourgos und I. Jarukaitis,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der französischen Regierung, vertreten durch E. de Moustier und A. Ferrand als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Vrignon und L. Malferrari als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. März 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Buchst. a und Art. 19 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 zur Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr und zur Änderung der Verordnungen (EWG) Nr. 3821/85 und (EG) Nr. 2135/98 des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates (ABl. 2006, L 102, S. 1) in Verbindung mit der Verordnung (EWG) Nr. 3821/85 des Rates vom 20. Dezember 1985 über das Kontrollgerät im Straßenverkehr (ABl. 1985, L 370, S. 8) in der durch die Verordnung Nr. 561/2006 geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 3821/85).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens, das vom Ministère public (Staatsanwaltschaft, Frankreich) gegen FO, den Geschäftsführer eines in Deutschland ansässigen Verkehrsunternehmens, eingeleitet wurde, weil einer der von diesem Unternehmen beschäftigten Busfahrer die Fahrerkarte nicht in den Fahrtenschreiber des von ihm geführten Fahrzeugs gesteckt hatte.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 3821/85
Rz. 3
Durch die Verordnung Nr. 3821/85 wurde die Verordnung (EWG) Nr. 1463/70 des Rates vom 20. Juli 1970 über die Einführung eines Kontrollgeräts im Straßenverkehr (ABl. 1970, L 164, S. 1) aufgehoben und ersetzt. Die Verordnung Nr. 3821/85 wurde ihrerseits durch die Verordnung (EU) Nr. 165/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Februar 2014 über Fahrtenschreiber im Straßenverkehr, zur Aufhebung der Verordnung Nr. 3821/85 und zur Änderung der Verordnung N...